1 Einleitung, Aufbau der Arbeit und Eingrenzung des Themas

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Einleitung, Aufbau, Eingrenzung ALLGEMEINER TEIL 1 Einleitung, Aufbau der Arbeit und Eingrenzung des Themas I. Einleitung 1 Juristen und Soziologen 1 nehmen schon lange an, dass Richter nicht ausschliesslich rechtlichen Prinzipien folgen, wenn sie Fakten feststellen und Sachverhalte unter Normen subsumieren. Manche gehen davon aus, dass politische Ideologie das richterliche Urteil (mit-) bestimmt, 2 andere vermuten Rücksicht auf existierende Machtstrukturen, 3 Grundüberzeugungen, 4 das Geschlecht des Urteilenden 5 oder die Förderung der eigenen Karriere. 6 2 Die Forschung zu den so genannten heuristics and biases legt nahe, dass unbeeinflusst von Ideologie und Eigennutz die Natur menschlichen Denkens in Entscheidungssituationen unter Unsicherheit dazu führt, dass Richter in bestimmten Situationen systematische und vorhersehbare Fehler machen. 7 AMOS TVERSKY und DANIEL KAHNEMAN zeigten in den frühen siebziger Jahren, dass Menschen bei Entscheidungen unter Unsicherheit so genannte Urteilsheuristiken einfache Faustregeln, die komplexe Urteile vereinfachen verwenden. 8 Die Verwendung solcher Faustregeln kann häufig einen schwierigen Entscheid vereinfachen. 9 In anderen Situationen führen sie jedoch zu systematischen Verzerrungen und Abweichungen von einer rationalen Entscheidung. 10 Weil der Einfluss der heuristics und die daraus resultierenden biases von den Urteilenden meist nicht erkannt 1 Frauen sind jeweils mitgemeint. Ein erster Entwurf dieser Arbeit verwendete abwechslungsweise das männliche und das weibliche Geschlecht, was jedoch bei Testlesern auf ein negatives Echo stiess. 2 JEROME FRANK, Courts on Trial: Myth and Reality in American Justice, Princeton 1949. 3 DOROTHEE PETERS, Richter im Dienste der Macht: Zur gesellschaftlichen Verteilung der Kriminalität, Stuttgart 1973. 4 JEFFREY A. SEGAL/HAROLD J. SPAETH, Supreme Court and the Attitudinal Model Revisited, Cambridge 2002. 5 GREGORY C. SISK/MICHAEL HEISE/ANDREW P. MORRISS, Charting the Influences on the Judicial Mind: An Empirical Study of Judicial Reasoning, New York University Law Review 1998, 1377-1421, 1385 ff. 6 RICHARD A. POSNER, What Do Justices Maximize? (The Same Thing As Everybody Else Does), Supreme Court Economic Review 1993, 1-28. 7 Für einen Überblick über den aktuellen Forschungsstand siehe THOMAS GILOVICH/DALE GRIFFIN/DANIEL KAHNEMAN (Hrsg.), Heuristics and Biases: The Psychology of Intuitive Judgment, Cambridge 2002 8 AMOS TVERSKY/DANIEL KAHNEMAN, Judgment under Uncertainty: Heuristics and Biases, Science 1974, 1124-1131. 9 GERD GIGERENZER/JEAN CZERLINSKI/LAURA MARTIGNON, How Good Are Fast and Frugal Heuristics?, in: GILOVICH/GRIFFIN/KAHNEMAN (Hrsg.), 559-581. 10 Rational im Sinne der expected utility Theorie, formuliert von JOHN VON NEUMANN/OSKAR MORGENSTERN, Theory of Games and Economic Behavior, 2. Auflage, Princeton 1947. 1

Allgemeiner Teil werden, werden sie in Anlehnung an die bekannten optischen Täuschungen auch als kognitive Täuschungen (cognitive illusions) bezeichnet. 11 3 Entscheidend ist, dass die erstmals von KAHNEMAN und TVERSKY systematisch untersuchten Urteilsheuristiken nicht zu zufälligen, sondern zu systematischen Verzerrungen des Urteilens führen. Dass der Mensch irrt, ist nichts Neues. Irrt er aber systematisch, so kann er versuchen, dem Irrtum entgegenzuwirken. Sein Irrtum kann aber auch von Dritten ausgenutzt werden. 12 4 Die Erkenntnisse von KAHNEMAN und TVERSKY hatten und haben grossen Einfluss auf die Wirtschaftswissenschaft. 13 Mit der Prospect Theory formulierten sie ein Modell menschlichen Entscheidverhaltens, welches tatsächliche Entscheidungen unter Unsicherheit besser abbildet als traditionelle Modelle. 14 2002 erhielt DANIEL KAHNEMAN für seine Forschung den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften. 15 5 Seit etwa Mitte der neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts ist in den USA auch die Rechtswissenschaft auf das Forschungsprogramm von KAHNEMAN und TVERSKY aufmerksam geworden und versucht, das neue Menschenbild gewinnbringend zur Analyse des Verhaltens der Akteure im Rechtssystem anzuwenden. Der Ansatz wird gemeinhin als Behavioral Law and Economics (BLE) bezeichnet, was bereits andeutet, dass er sich (zumindest ursprünglich) als Weiterentwicklung der traditionellen Ökonomischen Analyse des Rechts (ÖAR) versteht. 16 Behavioral sollte dabei nicht mit behavioristisch übersetzt werden. Behavioristisch bezeichnet im Deutschen eine psychologische Schule, die von JOHN B. WATSON (1878-1958) und EDWARD LEE THORNDIKE (1874-1949) begründet wurde und nur das äusserlich sicht- und messbare Verhalten als legitimen Gegenstandsbereich der Psychologie sieht. Der heuristics and biases Ansatz steht hingegen in der Tradition der kognitiven Wende der 60-er Jahre, die unter bewusster Abgrenzung vom klassischen Behaviorismus (erneut) innere Prozesse (Denken, Fühlen) als legitimen Gegenstand wissenschaftlicher psychologischer Forschung ansieht. 17 Wenn man Behavioral Law and Economics ins Deutsche übersetzen will, so am Besten als Verhaltenswissenschaftliche Ökonomie und Recht. 11 WOLFGANG HELL, Kognitive und optische Täuschungen, in: WOLFGANG HELL/KLAUS FIEDLER/GERD GIGERENZER (Hrsg.), Kognitive Täuschungen: Fehl-Leistungen und Mechanismen des Urteilens, Denkens und Erinnerns, Heidelberg 1993, 317-324. 12 Nichts anderes versuchen Fondsmanager, die das ihnen anvertraute Vermögen nach Erkenntnissen der behavioral finance anlegen; der Bekannteste unter ihnen dürfte der Chicagoer Professor RICHARD H. THALER sein (Fuller & Thaler Asset Management, Inc.). 13 DAVID LAIBSON/RICHARD ZECKHAUSER, Amos Tversky and the Ascent of Behavioral Economics, Journal of Risk and Uncertainty 1998, 7-47; ERNST FEHR/GERHARD SCHWARZ, Psychologische Grundlagen der Ökomonie, Zürich 2002, 10. 14 DANIEL KAHNEMAN/AMOS TVERSKY, Prospect theory: An analysis of decision under risk, Econometrica 1979, 263-291. 15 www.nobel.se/economics/laureates/2002/index.html (besucht am 2. Mai 2004). AMOS TVERSKY verstarb 1996; der Nobelpreis wird nicht posthum verliehen. 16 CHRISTINE JOLLS/CASS R. SUNSTEIN/RICHARD H. THALER, A Behavioral Approach to Law and Economics, Stanford Law Review 1998, 1471-1550; Nachdruck in: SUNSTEIN (Hrsg.), 13-58. 17 JEFFREY J. RACHLINSKI, The New Law and Psychology: A Reply to Critics, Sceptics and Cautious Supporters, Cornell Law Review 2000, 739-766, 740. 2

Einleitung, Aufbau, Eingrenzung 6 In Europa hat die neue Forschungsrichtung bisher keine grossen Wellen geworfen, aber mit der üblichen Verspätung zeichnet sich jetzt auch hier zunehmendes Interesse ab. Im Mai 2004 hat die 94. Dahlem Konferenz der Freien Universität Berlin zum Thema Heuristics and the Law stattgefunden, an der die führenden Vertreter der Richtung teilgenommen haben. 18 Ich bin selbst erstmals 2001 anlässlich eines Seminars von Prof. JAMES KRIER und RONAN AVRAHAM an der University of Michigan Law School mit dem Forschungsansatz der Verhaltenswissenschaftlichen Ökonomischen Analyse des Rechts in Kontakt gekommen. Fasziniert von diesem Ansatz, mit dem ich während meiner Ausbildung in der Schweiz nie konfrontiert worden war, schrieb ich meine Master-Thesis über den so genannten Besitztumseffekt (mehr dazu hinten, S. 58 ff.), wofür ich ein Experiment mit 40 Studierenden durchführte. 19 Was ich dabei über experimentelle Forschung und Statistik lernte, half mir, die vorliegende Arbeit anzupacken. 7 Inspiriert von einer Studie von GUTHRIE, RACHLINSKI und WISTRICH führte ich im Herbst 2003 eine Umfrage unter schweizerischen Richterinnen und Richtern durch. 20 Ziel war, mittels eines Aufsatzes Schweizer Juristen auf das Phänomen der kognitiven Täuschungen aufmerksam zu machen. Nach der Auswertung der Umfrage und der Redaktion des Artikels war einerseits viel Zeit verstrichen, andererseits hatte der Artikel einen Umfang angenommen, der eine Publikation in einer Zeitschrift unwahrscheinlich machte. Ich beschloss deshalb, die Arbeit zu einer Dissertation auszubauen und führte im Herbst 2004 eine weitere Umfrage mit (anderen) Schweizer Richtern durch. Die Ergebnisse der beiden Umfragen bilden das Herzstück des zweiten Teils dieser Arbeit. II. Aufbau der Arbeit und Eingrenzung des Themas 8 Im ersten Teil werden nach der Einleitung sehr kurz Geschichte und Grundlagen der Ökonomischen Analyse des Rechts dargestellt. Dies ist notwendig, weil Behavioral Law and Economics als Kritik auf die (in den USA) dominierende traditionelle Ökonomische Analyse des Rechts entstanden und ohne diesen Hintergrund kaum verständlich ist. Da Vertreter der BLE seit neustem versuchen, sich von der ÖAR abgrenzend in die Tradition des amerikanischen Rechtsrealismus zu stellen, beginnt der geschichtliche Rückblick mit einer Skizze des American Legal Realism. Anschliessend wird nach einem Überblick über die wichtigsten Arbeiten der jungen Disziplin auf die Kritik am heuristics and biases Ansatz in der Psychologie und die Kritik an der BLE in der Jurisprudenz eingegangen. 9 Im zweiten Teil werden die Methode der Studie und Gedanken zur externen Validität erläutert und die Resultate der beiden Umfragen dargestellt, die als Aufhänger für eine tour d horizon der einzelnen Täuschungen dienen. Dabei wird einerseits der psychologi- 18 Der von GERD GIGERENZER und CHRISTOPH ENGEL herausgegebene Tagungsband zur 94. Dahlem Konferenz konnte leider nicht mehr verarbeitet werden, da er zur Zeit der Abgabe dieser Arbeit (Anfang Mai 2005) noch nicht vorlag. 19 MARK SCHWEIZER, The Offer/Asking Price Gap and Term of Posession an Experiment, unpublizierte Master-These Universität Michigan, 2002 (erhältlich unter www.decisions.ch/publikationen.html; besucht am 1. Mai 2005). 20 CHRIS GUTHRIE/JEFFREY J. RACHLINSKI/ANDREW J. WISTRICH, Inside the Judicial Mind, Cornell Law Review 2001, 777-830. 3

Allgemeiner Teil schen Forschung zu den einzelnen kognitiven Täuschungen relativ viel Raum eingeräumt, da die entsprechende Literatur für Juristen in der Schweiz nur schwer zugänglich ist und kaum bekannt sein dürfte. Andererseits werden die Auswirkungen der kognitiven Täuschungen auf juristische Entscheidungen erörtert, wobei hier das Thema auf Entscheidungen von Richtern und Parteien in Gerichtsverfahren beschränkt ist. Selbstverständlich unterliegen auch der Gesetzgeber und die Rechtsunterworfenen kognitiven Täuschungen, und zahlreiche Artikel der BLE beschäftigen sich mit den Auswirkungen kognitiver Täuschungen auf diese Personengruppen. Sie sind aber nicht Gegenstand dieser Arbeit. 10 Aus psychologischer Sicht beschränkt sich die Arbeit in erster Linie auf die Darstellung des Einflusses der von KAHNEMAN und TVERSKY erforschten Urteilsheuristiken auf Richter und Parteien in Gerichtsverfahren. Daneben werden einzelne weitere kognitive Phänomene (wie Kompromiss- und Kontrasteffekt, S. 243 ff.) vorgestellt. Selbstverständlich können emotionale und motivationale Faktoren das richterliche Urteil beeinflussen nicht umsonst soll der Richter sein Urteil sine ira et studio fällen. Solche Faktoren bilden aber auch nicht Gegenstand dieser Arbeit. Ausgeklammert bleibt schliesslich die Forschung zum Fairness-Empfinden und (echten) Altruismus der Menschen, die ebenfalls im Widerspruch zu den Annahmen der klassischen ÖAR stehen. 21 21 Siehe JOSEPH HENRICH/ROBERT BOYD/SAMUEL BOWLES/COLIN CAMERER/ERNST FEHR/HERBERT GINTIS, Foundations of Human Sociality: Economic Experiments and Ethnographic Evidence from Fifteen Small- Scale Societies, New York 2004. 4

American Legal Realism 2 American Legal Realism 11 Die amerikanischen Rechtsrealisten (legal realists) wandten sich in den zwanziger und dreissiger Jahren des 20. Jahrhunderts gegen den damals vorherrschenden Formalismus und die mechanische Jurisprudenz der klassischen Juristen. Die Rechtsrealisten bezweifelten, dass Streitfälle aufgrund von Rechtsregeln entschieden wurden und bestritten, dass die Lösung von rechtlichen Problemen aus abstrakten Konzepten abgeleitet werden konnte. Die Rechtsrealisten selber betrachten OLIVER WENDELL HOLMES, JR. (1841-1935) als ihren intellektuellen Vorfahren, der Rechtsrealismus als eigenständige intellektuelle Strömung aber entstand in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts an den Rechtsfakultäten von Columbia und Yale. KARL N. LLEWELLYN, WALTER WHEELER COOK, UNDERHILL MOORE und HERMAN OLIPHANT waren ihre wichtigsten Vertreter; JEROME FRANK in mancher Hinsicht ihr extremster. Als amerikanischer Rechtsrealismus wird die Strömung in Abgrenzung zum ungefähr gleichzeitig blühenden skandinavischen Rechtsrealismus bezeichnet, auf den ich hier nicht weiter eingehe. 22 12 Die Rechtsrealisten argumentieren, dass das Recht in zweifacher Hinsicht unbestimmt (indeterminate) ist. 23 Erstens ist das Recht normativ unbestimmt in dem Sinne, dass die verfügbaren rechtlichen Argumente und Konzepte ein bestimmtes Urteil nicht rechtfertigen können; zumindest nicht in den schwierigen Fällen (hard cases), wie sie in der Regel vor Berufungsgerichten verhandelt werden. 24 Zweitens ist das Recht deskriptiv unbestimmt in dem Sinne, dass die rechtlichen Regeln nicht genügen, um zu erklären, warum ein Gericht einen Fall so und nicht anders entschieden hat. LLEWELLYN wies darauf hin, dass Präjudizien eng oder weit interpretiert werden können und es kein logisches Argument gibt, der einen oder anderen Interpretation den Vorzug zu geben. 25 Bei einer engen Interpretation wird die bindende Wirkung des Präjudizes auf die spezifischen Fakten beschränkt, die dem Fall zu Grunde lagen, während bei der weiten Interpretation versucht wird, ein allgemein gültiges Prinzip abzuleiten, das auf alle vergleichbaren Fälle anwendbar ist. Präjudizien als Rechtsquellen können daher ein Urteil allein nicht erklären, da verschiedene Regeln aus ihnen abgeleitet werden können. 13 Da sich die Realisten einig waren, dass sich aus Rechtsregeln alleine ein Gerichtsurteil in einem schwierigen Fall nicht voraussagen lässt, musste es etwas anderes sein, das den Ausgang eines Verfahrens bestimmte. Für BRIAN LEITER ist Kern (core claim) der realistischen Sicht, dass Richter in erster Linie auf die dem Fall zugrunde liegenden Fakten 22 Für einen Überblick über Gemeinsamkeiten und Unterschiede der beiden Realismen siehe GREGORY S. ALEXANDER, Comparing the Two Legal Realisms American and Scandinavian, American Journal of Comparative Law 2002, 131-174. 23 Die Darstellung folgt dem Aufbau von BRIAN LEITER, American Legal Realism, in: WILLIAM EDMUNDSON/ MARTIN GOLDING (Hrsg.), The Blackwell Guide to Philosophy of Law and Legal Theory, Oxford 2004, 50-66. 24 KARL LLEWELLYN, Some Realism about Realism Responding to Dean Pound, Harvard Law Review 1931, 1222-1264, 1239 (die Unbestimmtheit des Rechts einschränkend auf Fälle, die von vernünftigen Parteien durchprozessiert werden: in diesen Fällen gibt es in der Regel mindestens zwei widersprüchliche vertretbare Interpretationen des anwendbaren Rechts). 25 KARL N. LLEWELLYN, The Bramble Bush, New York 1930, 74 ff. 5