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Transkript:

Dr. Götz Fabry Vorlesung Medizinische Psychologie 14.05.2004: Lernen und Gedächtnis Folie 1 Vorlesung Medizinische Psychologie SS 2004 Lernen & Gedächtnis Vorlesungsskripte unter: http://www.medizinische-psychologie.de [lehre] [vorlesung] In den letzten beiden Vorlesungen wurden mit der klassischen und der operanten Konditionierung zwei grundlegende Lernmechanismen vorgestellt. Am Beispiel des Kiemenrückzugsreflexes der Meeresschnecke Aplysia wurde gezeigt, wie diese Lernmechanismen neuronal realisiert werden, und daß die gelernten Informationen durch Modulation von synaptischen Verbindungen der beteiligten Neurone in Abhängigkeit von ihrer gleichzeitigen Aktivität gespeichert werden. Dieser einfache Sachverhalt ist für unsere Vorstellung von der Gedächtnisbildung von zentraler Bedeutung. Der amerikanische Psychologe Donald Hebb (1904 1985) postulierte bereits Ende der vierziger Jahre des letzten Jahrhunderts und damit lange bevor experimentelle Befunde seine Hypothese eindrucksvoll bestätigen sollten, daß Nervenzellen, die gemeinsam aktiv sind, ihre Verbindungen untereinander verstärken ( neurons that fire togehter, wire together ). Überträgt man diesen Mechanismus auf komplexe neuronale Netzwerke, dann kann man sich vorstellen, wie sich Verbände von Nervenzellen durch gleichzeitige Aktivität aus dem hochkomplexen Gefüge der Milliarden von Neuronen in unserem Gehirn herausbilden, die genau den Zustand repräsentieren, der zu ihrer Entstehung geführt hat. Da diese zu einem Verband stabilisierten Zellen neuronale Aktivität untereinander effizienter weiterleiten als nicht daran beteiligte Zellen, kann ein solcher Verband zukünftig wie durch eine Kettenreaktion wieder aus dem Hintergrundrauschen der Gehirnaktivität hervortreten, wenn einige seiner Zellen aktiviert werden. Dieses stark vereinfachte Modell kann somit die beiden grundlegenden Gedächtnisprozesse erklären: Einspeicherung (Encodierung) und Abruf von Informationen. Darüberhinaus erlaubt das Modell zahlreiche weitere Eigenarten des menschlichen Gedächtnis zu erklären: 1. Aufgrund der praktisch unendlichen Kombinationsmöglichkeiten der Neurone unseres Gehirns ist auch die Speicherkapazität zumindest theoretisch unbegrenzt. 2. Es entspricht unserer Erfahrung, daß Erinnerungen über Ähnlichkeitsbeziehungen abgerufen werden können, was man sich damit erklären könnte, daß ähnlichen Eindrücken auch ähnliche Aktivitätsmuster entsprechen und daß damit wiederum die Wahrscheinlichkeit steigt, daß ähnliche Zellverbände mitaktiviert werden. 3. Je häufiger bestimmte Gedächtnisinhalte abgerufen werden, umso leichter stehen sie zur Verfügung, was durch die beschriebene aktivitätsabhängige Übertragungseffektivität erklärt werden könnte. 4. Bestimmte Inhalte müssen erst konsolidiert werden, damit sie dauerhaft zur Verfügung stehen, was sich damit erklären ließe, daß die Aktivität im entsprechenden Zellverband erst eine Zeitlang kreisen muß, damit die notwendigen zellulären Stabilisierungsmaßnahmen greifen können. Folie 2 illustriert diese Modellvorstellung. Dr. Götz Fabry, Abteilung für Medizinische Psychologie, Freiburg. www.medizinische-psychologie.de 1 / 9

Folie 2 Gedächtnisbildung: Zellverbände zirkulierende Aktivität Denken ist die sequentielle Aktivierung von Zellverbänden. (Donald Hebb 1904-1985) Britzel, Brand & Markowitsch, 2003 Mit diesen Überlegungen zur Mikroebene des Gedächtnisses wenden wir uns jetzt der Makroebene zu und beschäftigen uns mit psychologischen Gedächtnismodellen. Als Pionier der psychologischen Gedächtnisforschung (und einer der Gründerväter der wissenschaftlich-experimentellen Psychologie überhaupt) gilt Hermann Ebbinghaus (1850 1909), der in seinem 1885 erschienen Buch Über das Gedächtnis die Ergebnisse einiger Selbstversuche der Öffentlichkeit präsentierte. Ebbinghaus hatte Listen mit sinnlosen Silben auswendig gelernt (z.b. DAX, BUC, LOC) und berechnet, wieviel schneller das Lernen nach unterschiedlich langen Pausen vonstatten ging, bis er sich an alle Silben erinnern konnte, wieviel Zeit er also sparte. Seine in Kurvenform dargestellten Ergebnisse sind als die Ebbinghaussche Lernkurve (auch Vergessenskurve) in die Psychologiegeschichte eingegangen (Folie 3). Folie 3 Die Ebbinghaussche Vergessenskurve 100 Behalten (prozentuale Ersparniswerte) 90 80 70 60 50 40 20 Minuten 1 Stunde 9 Stunden 30 20 10 0 1 2 6 Behaltensintervall (Tage) 31 Ebbinghaus stellte außerdem fest, daß zusätzliche Wiederholungen derselben Wortliste dazu führten, daß er das Material nach 24 Stunden wesentlich schneller lernen konnte (er also eine größere Zeitersparnis hatte), als ohne diese zusätzlichen Wiederholungen. Neben anderen Gründen war die Erkenntnis, daß das Wiederholen von Informationen zu ihrer dauerhaften Speicherung beiträgt, ein Grund für die Theorie des Kurzzeitgedächtnisses, die in ihrer einflußreichsten Form von Atkinson & Shiffrin 1968 formuliert wurde. Nach dieser Vorstellung müssen Informationen, die durch die Sinnesorganen aus der Umwelt aufgenommen werden durch das Kurzzeitgedächtnis hindurch, um im Langzeitgedächtnis gespeichert werden zu können. Es wird also genau das im Langzeitgedächtnis aufbewahrt, was zuvor im Kurzzeitgedächtnis memoriert, das heißt z.b. mehrmals wiederholt wurde (wenn man sich etwa eine Dr. Götz Fabry, Abteilung für Medizinische Psychologie, Freiburg. www.medizinische-psychologie.de 2 / 9

Telefonnummer mehrmals vorsagt, bis man sie sicher gespeichert hat). Würden die Inhalte des Kurzzeitgedächtnisses dagegen nicht ins Langzeitgedächtnis überführt dann wären sie für immer verloren (Folie 4). Folie 4 Gedächtnissysteme und -prozesse Sensorisches Gedächtnis (Ultrakurzzeitgedächtnis) Aufmerksamkeit Kurzzeitgedächtnis Memorieren Langzeitgedächtnis Die Alltagserfahrungen insbesondere beim Lernen von abstraktem Material scheinen diese Theorie zu bestätigen: was häufig und länger wiederholt wird bleibt besser hängen. Allerdings konnte durch empirirsche Studien auch gezeigt werden, daß es nicht allein das Wiederholen ist, daß die Langzeitspeicherung sicherstellt, sondern daß die Wahrscheinlichkeit der Behaltensleistung vor allem dann steigt, wenn das Material in einer bedeutungshaltigen Weise verarbeitet wird. So ließ man Probanden, sich eine vierstellige Zahl zwei Sekunden lang einprägen. Dann sollten Sie Wörter für zwei, sechs oder 18 Sekunden memorieren und anschließend die Zahl wiederholen. Während die Probanden der Meinung waren, es handele sich um einen Test zum Erinnern von Zahlen (und das Wörterlernen diene lediglich dazu, die Zeit zu überbrücken) wollte man tatsächlich ihre Behaltensleistung für die Wörter testen, nach denen die Probanden am Ende dann auch gefragt wurden. Die in Folie 5 dargestellten Ergebnisse zeigen eindrucksvoll, daß es offenbar keinen Zusammenhang zwischen der Wiedergabeleistung und der Dauer des Memorierens gibt. Auch dieses Phänomen ist uns aus dem Alltag vertraut: Im Extremfall ist sogar keine Wiederholung notwendig, um einen besonders bedeutungsvollen Sachverhalt dauerhaft behalten zu können. Folie 5 Memorieren = Wiederholen? 1) 2 sec lang 4stellige Zahl einprägen (z.b. 3627) 2) Wörter memorieren für (a) 2 sec (b) 6 sec (c) 18 sec Test: Ziffern wiedergeben unerwarteter Test: Wörter wiedergeben Wiedergabeleistung (a) 11% (b) 7% (c) 13% Glynberg, Smith & Green 1977 Dr. Götz Fabry, Abteilung für Medizinische Psychologie, Freiburg. www.medizinische-psychologie.de 3 / 9

Aufgrund dieser widersprüchlichen Befunde hat man die traditionelle Vorstellung vom Kurzzeitgedächtnis, in dem Informationen vor der Ablage ins Langzeitgedächtnis lediglich zwischengespeichert werden, heute verlassen. Stattdessen stellt man sich ein Arbeitsgedächtnis vor, das einerseits die Funktion hat, neue Informationen aktiv zu verarbeiten und andererseits alte Informationen aus dem Langzeitgedächtnis bereitstellt. Im Arbeitsgedächtnis werden Informationen also nicht lediglich zwischengespeichert sondern auch aktiv manipuliert (Folie 6). Folie 6 Arbeitsgedächtnis zentrale Exekutive visuell-räumlicher Notizblock phonologische Schleife episodischer Zwischenspeicher visuelle Bedeutung episodisches Langzeitgedächtnis Sprache Baddely 2000 Nach dem derzeit gängigen Modell des Arbeitsgedächtnisses, besteht dieses aus einer zentralen Exekutive, die als übergeordnete Behörde den Einsatz der ihr zuarbeitenden Referate steuert. Dazu gehört die phonologische Schleife, einem Zwischenspeicher für verbales Material, das dort für eine gewisse Zeitspanne frisch gehalten werden kann. Seit langem ist bekannt, daß die Menge der Information, die Menschen zu einem bestimmten Zeitpunkt behalten können, begrenzt ist. Diese Menge wird häufig mit etwa sieben Einheiten angegeben, z.b. sieben Wörter oder sieben Zahlen (also eine Telfonnummer zum Beispiel). Nahm man zunächst an, daß es sich dabei gewissermaßen um die Anzahl der Speicherplätze im Kurzzeitgedächtnis handelt, die belegt oder nicht belegt sein können, so geht man heute davon aus, daß die Information vielmehr durch die Bearbeitungsgeschwindigkeit des verbalen Materials begrenzt ist. Ein interessantes Experiment dazu zeigt Folie 7: Probanden wurden aufgefordert, Sequenzen von jeweils fünf Wörtern von unterschiedlicher Silbenlänge zu lesen und diese unmittelbar darauf wiederzugeben. Zusätzlich wurde bestimmt, wieviele Wörter die Probanden pro Sekunde lesen können. Das verblüffende Ergebnis war, daß die Häufigkeit korrekter Wiedergaben in genau demselben Maß abnahm wie die Leserate. Offenbar ist es also so, daß nicht in erster Linie die Anzahl der Einheiten begrenzt ist, die wir in der phonologischen Schleife zwischenspeichern können, sondern vor allem die Zeit, bis eine Erinnerungsspur verblaßt, wenn sie nicht erneut aufgefrischt wird (Folie 8). Als zweites Hilfssystem des Arbeitsgedächtnis wird der visuell-räumliche Notizblock beschrieben, der eine ähnliche Funktion wie die phonologische Schleife für visuelle Informationen übernimmt (allerdings werden die Informationen dort dem Modus entsprechend nicht seriell verarbeitet). Seine Arbeitsweise kann man sich verdeutlichen, wenn man etwa eine Rechenaufgabe löst. Viele Menschen notieren sich dabei geistig Zwischenergebnisse, so als würden sie die Aufgabe auf einem Blatt Papier ausführen. Überhaupt müssen wir bei vielen Aufgaben in unserem Alltag vorübergehend Informationen speichern, bis wir die Aufgabe ausgeführt haben, etwa wenn wir in einem Gespräch unterbrochen werden, kurz antworten und dann das erste Gespräch fortsetzen. Die Störanfälligkeit solcher delayed-response -Aufgaben verweist auf die bereits angesprochene Flüchtigkeit der im Arbeitsgedächtnis aufbewahrten Inhalte. In jüngster Zeit wurde die Existenz eines dritten Hilfssystems postuliert, des sogenannten episodischen Zwischenspeichers, der für die multimodale Verarbeitung von Information zuständig ist (also viele verschiedene Informationen zu einem einheitlichen Gesamteindruck zusammenbringt, weshalb er in Folie 6 Dr. Götz Fabry, Abteilung für Medizinische Psychologie, Freiburg. www.medizinische-psychologie.de 4 / 9

als Kochtopf symbolisiert ist), während die beiden anderen Systeme jeweils nur eine Modalität verarbeiten. Folie 7 Arbeitsgedächtnis n. Anderson 2001 korrekte 100 Wiedergabe in % 90 korrekte Wiedergabe 2,5 Leserate 2,3 Bitte lesen Sie die unten angegebenen Wörter und versuchen Sie sie wiederzugeben ohne dabei auf die Präsentation zu schauen! 80 70 60 Leserate 2,1 1,9 1,7 I: Laub, Spuk, Beil, Duft, Wahn 50 40 1,5 1,3 II: Lokomotive, Vegetation, Marionette, Chemikalie, Abiturient 30 20 1,1 0,9 10 0,7 0 1 2 3 4 5 Anzahl der Silben 0,5 Folie 8 Arbeitsgedächtnis phonologische Schleife: Wortlängeneffekt Das Arbeitsgedächtnis ist also wesentlich mehr als lediglich ein Zwischenspeicher auf dem Weg ins Langzeitgedächtnis. Es stellt die zentrale Schnittstelle des Gedächtnissystems dar, wo einerseits neue Informationen vor dem Hintergrund von Erfahrung und Wissen in einer sinnhaften Weise so aufgearbeitet werden, daß sie langfristig behalten werden können und andererseits Informationen aus dem Langzeitgedächtnis für den Abruf bereitgestellt werden (Folie 9). Dr. Götz Fabry, Abteilung für Medizinische Psychologie, Freiburg. www.medizinische-psychologie.de 5 / 9

Folie 9 Gedächtnissysteme und -prozesse Aufmerksamkeit Abruf Einarbeiten Sensorisches Gedächtnis (Ultrakurzzeitgedächtnis) Arbeitsgedächtnis Langzeitgedächtnis Abruf Britzel, Brand & Markowitsch, 2003 Mittlerweile sind zahlreiche Faktoren bekannt, welche die Verarbeitung von Informationen im Arbeitsgedächtnis und damit auch die Speicherung im Langzeitgedächtnis beeinflussen. Als besonders bedeutsam hat sich die sogenannte Verarbeitungstiefe herausgestellt. Das heißt: Je tiefer, d.h. bedeutungshaltiger die Information aufgearbeitet werden kann, umso besser wird sie behalten. Folie 10 zeigt ein Experiment dazu, bei dem gleichzeitig auch noch gezeigt werden konnte, daß es beim Lernen offenbar nicht darauf ankommt, ob man die Absicht hat etwas zu lernen oder nicht. Folie 10 Verarbeitungstiefe Gruppe 1 + 2: Sequenz von 24 Wörtern, jedes Wort wird 3 sec dargeboten. Gruppe 1: Gruppe 2: Achten Sie darauf, ob in den Achten Sie darauf, wie angenehm Wörtern ein e oder ein g vorkommt Ihnen die Wörter sind Gruppe 1a: Gruppe 1b: Gruppe 2a: Gruppe 2b: Ziel des Experiments: Wörter lernen keine Erklärung zum Ziel des Experiments Ziel des Experiments: Wörter lernen keine Erklärung zum Ziel des Experiments Test: Bitte geben Sie soviele Wörter wieder, wie möglich. Gruppe 2 Gruppe 1 zufälliges Lernen (b) absichtliches Lernen (a) 68% 69% 39% 43% Hyde & Jenkins 1973, n. Anderson 3 2001 Die Erkenntnisse dieses und ähnlicher Experimente lassen sich auch im Alltag nutzen, um die Effizienz des Lernens z.b. bei der Lektüre von Texten zu erhöhen. Besonders bewährt hat sich die in Folie 11 dargestellte PQ4R-Technik, deren Wirksamkeit auch empririsch überprüft wurde, wie das in Folie 12 gezeigte Experiment belegt. Auch die Ergebnisse des Experiments, das in Folie 13 dargestellt ist, stützen die Annahme, daß es vor allem darauf ankommt, die zu lernenden Inhalte aktiv zu elaborieren. Selbst eine relavtiv oberflächliche Verarbeitungsweise (ein Wort mit einem bestimmten Anfangsbuchstaben zu finden, das sich auf ein anderes reimt) führt noch zu deutlich besseren Wiedererkennungsleistungen als einfaches Lesen derselben Wortpaare. Dr. Götz Fabry, Abteilung für Medizinische Psychologie, Freiburg. www.medizinische-psychologie.de 6 / 9

Folie 11 Die PQ4R-Technik Preview (Übersicht) Question (Fragen an den Text) Read (sorgfältig Lesen) Reflect (Nachdenken, Beispiele) Recite (Wiedergeben) Review (Rückblick) Folie 12 Die PQ4R-Technik Gruppe 1: Nachdenken über Themen (in Frageform) vor Lesen des Textes. Gruppe 2: Lesen des Textes ohne vorherige Instruktionen. Fragetest [für einige Fragen waren die der Gruppe 1 vorher gegebenen Themen relevant (a) bzw. nicht relevant (b)] Gruppe 1: gesamt: 64% richtig (a) 76% richtig (b) 52% richtig Gruppe 2: gesamt: 57% richtig Frase 1975, n. Anderson 3 2001 Folie 13 Verschiedene Verarbeitungsformen Gruppe 1: Generieren von Synonymen (z.b. Meer - Ozean) bzw. von Reimworten (Baum - Raum) unter Vorgabe des 1. Buchstabens Gruppe 2: Lesen der Wortpaare von Gruppe 1 Wiedererkennungsaufgabe zum zweiten Wort Wiedererkennenswahrscheinlichkeit 1,0 0,8 0,6 0,4 0,2 Gruppe 1 Gruppe 2 0 Synonym Reim Dr. Götz Fabry, Abteilung für Medizinische Psychologie, Freiburg. www.medizinische-psychologie.de 7 / 9

Daß Menschen Informationen nicht neutral verarbeiten zeigen auch Experimente, mit denen der Einfluß des Lernkontextes auf die Behaltensleistung untersucht wurde. Folie 15 zeigt eines der spektakulärsten Experimente dazu: Taucher mußten Wortlisten auswendig lernen und zwar einmal an Land und einmal unter Wasser, anschließend prüfte man ihre Behaltensleistung und zwar ebenfalls einmal an Land und einmal unter Wasser. Interessanterweise waren die Ergebnisse dann am besten, wenn Lern- und Testumgebung übereinstimmten. Folie 15 kontextbezogenes Wissen 14 mittlere Anzahl 13 der reproduzierten Wörter 12 Reproduktion unter Wasser 11 10 9 8 7 Reproduktion an Land 6 5 4 an Land Lernumgebung unter Wasser Godden & Baddely, 1975 Ähnlich wie der Kontext können auch emotionale Faktoren die Behaltensleistung beeinflussen (Folie 16): Probanden lernten in neutraler Stimmung drei unterschiedliche Wortlisten: eine mit negativen, eine mit positiven und eine mit neutralen Wörtern. Anschließend induzierte man eine positive bzw. negative Stimmung und überprüfte die Behaltensleistung. Dabei ergab sich, daß jeweils diejenigen Wörter besser erinnert wurden, die kongruent zu der Stimmung waren, in der sich die Probanden gerade befanden. Dieses Ergebnis ist von besonderer Bedeutung im Zusammenhang mit affektiven Störungen: so ist es nicht verwunderlich, daß ein depressiver Patient sich besonders gut an die Ereignisse in seinem Leben erinnern kann, die in irgendeiner Weise zu seiner depressiven Stimmung kongruent sind. Damit entsteht ein fataler Teufelskreis: die negativ getönten Erinnerungen halten die depressive Stimmung aufrecht, die wiederum verhindert, daß positive Erinnerung abgerufen werden. Es bedarf großer therapeutischer Anstrengungen, diesen Kreislauf zu unterbrechen. Folie 16 Stimmungskongruenz Reproduktionsleistung 1,2 1,1 Probanden lernen in neutralem Stimmungszustand eine Liste mit positiven, negativen und neutralen Wörtern Wiedergabe der gelernten Wörter nach Induktion eines positiven bzw. negativen Stimmungszustands 1,0 0,9 0,8 0,7 0,6 0,5 0 Hochstimmung negative Wörter neutrale Wörter positive Wörter gedrückte Stimmung Stimmungszustand zum Testzeitpunkt Teasdale & Russell 1983 Dr. Götz Fabry, Abteilung für Medizinische Psychologie, Freiburg. www.medizinische-psychologie.de 8 / 9

Zusammenfassung: Die Vorstellung vom Kurzzeitgedächtnis als einem eher statischen Zwischenspeicher mit begrenzter Kapazität, aus dem Informationen durch Wiederholen ins Langzeitgedächtnis überführt werden können, wurde zum Modell des Arbeitsgedächtnis erweitert. Damit wird der Tatsache Rechnung getragen, daß Menschen Informationen nicht einfach abspeichern, sondern zuvor einer intensiven Bearbeitung unterziehen, in die auch emotionale, situative und lebensgeschichtliche Faktoren miteinfließen. Weiterführende Literatur: - Anderson JR: Kognitive Psychologie. Heidelberg, Berlin (Spektrum Akademischer Verlag) 3 2001. - Baddeley A (2000): The episodic buffer: a new component of working memory? Trends in Cognitive Sciences 4 (11): 417-423. - Kolb B, Whishaw IQ: Fundamentals of Human Neuropsychology. New York (W.H. Freeman) 5 2003 - Pritzel M, Brand M, Markowitsch HJ: Gehirn und Verhalten. Heidelberg, Berlin (Spektrum Akademischer Verlag) 2003. Dr. Götz Fabry, Abteilung für Medizinische Psychologie, Freiburg. www.medizinische-psychologie.de 9 / 9