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www.ssoar.info Sozialepidemiologie und Zahnmedizin Bauch, Jost; Micheelis, Wolfgang Veröffentlichungsversion / Published Version Zeitschriftenartikel / journal article Zur Verfügung gestellt in Kooperation mit / provided in cooperation with: GESIS - Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften Empfohlene Zitierung / Suggested Citation: Bauch, Jost ; Micheelis, Wolfgang: Sozialepidemiologie und Zahnmedizin. In: Sozialwissenschaften und Berufspraxis 21 (1998), 1, pp. 4-10. URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-36770 Nutzungsbedingungen: Dieser Text wird unter einer Deposit-Lizenz (Keine Weiterverbreitung - keine Bearbeitung) zur Verfügung gestellt. Gewährt wird ein nicht exklusives, nicht übertragbares, persönliches und beschränktes Recht auf Nutzung dieses Dokuments. Dieses Dokument ist ausschließlich für den persönlichen, nicht-kommerziellen Gebrauch bestimmt. Auf sämtlichen Kopien dieses Dokuments müssen alle Urheberrechtshinweise und sonstigen Hinweise auf gesetzlichen Schutz beibehalten werden. Sie dürfen dieses Dokument nicht in irgendeiner Weise abändern, noch dürfen Sie dieses Dokument für öffentliche oder kommerzielle Zwecke vervielfältigen, öffentlich ausstellen, aufführen, vertreiben oder anderweitig nutzen. Mit der Verwendung dieses Dokuments erkennen Sie die Nutzungsbedingungen an. Terms of use: This document is made available under Deposit Licence (No Redistribution - no modifications). We grant a non-exclusive, nontransferable, individual and limited right to using this document. This document is solely intended for your personal, noncommercial use. All of the copies of this documents must retain all copyright information and other information regarding legal protection. You are not allowed to alter this document in any way, to copy it for public or commercial purposes, to exhibit the document in public, to perform, distribute or otherwise use the document in public. By using this particular document, you accept the above-stated conditions of use.

BEITRÄGE Sozialepidemiologie und Zahnmedizin lost Bauch /Wo/fgang Micheelis Bis in die 80er Jahre hinein spielte die Sozialepidemiologie im zahnmedizinischen Versorgungsbereich eher eine geringe bis untergeordnete Rolle. Zwar gab es auch schon eine ganze Reihe von epidemiologischen Studien insbesondere zur Prävalenz der Kariesmorbidität (vgl. PatzJNaujoks 1980), diese Studien wiesen aber grundsätzlich zwei Defizite auf: Zum einen waren es klinische Studien am Patientenklientel vornehmlich von zahnmedizinischen Hochschulen, womit systematisch der Status der Bevölkerungsrepräsentativität verfehlt wurde, zum zweiten waren begleitende sozialwissenschaftliche Erhebungsmethoden sowohl, was die Sozio-Demographie als auch den verhaltenswissenschaftlichen Part anbelangt, eher unausgebildet. Abgesehen von einer sog. IeS-Studie der WHO Mitte der 70er Jahre (Keil 1974) setzte erst in den 80er Jahren ein epidemiologischer "Boom" in der Zahnmedizin ein. Diese epidemiologischen Studien beschränkten sich jedoch auf bestimmte, zum Teil eng umgrenzte Populationen wie Schul- oder Vorschulkinder und erlaubten somit keinen Rückschluß aufdie orale Gesundheit der Bevölkerung insgesamt (vgl. Krüger/Mausberg 1978, Gülzow et al. 1980, Gülzow et al. 1985). Auch befaßten sich diese Studien cum grano salis mit der Kariesmorbidität, nur wenige Studien inkludierten beispielsweise auch die Parodontalgesundheit (vgl. Curilovic 1986, Hollfeld 1986, Schiffner et al. 1986, Ahrens et al. 1988, Ahrens et al. 1991). Dies änderte sich 1989, als das Institut der Deutschen Zahnärzte einen bevölkerungsrepräsentativen nationalen Survey zum Mundgesundheitszustand und -verhalten in Deutschland durchfuhrte (vgl. MicheelislBauch 1991). Diese Studie wurde 1992 durch einen Ergänzungssurvey in Ostdeutschland erweitert (vgl. MicheelislBauch 1993). Im Gegensatz zu den vorangegangenen Patientenstichproben qualifizierten sich diese beiden Studien durch einen bevölkerungsrepräsentativen Querschnitt (gezogen nach einem strengen Zufallsverfahren) der deutschen Wohnbevölkerung als Grundlage der zahnmedizinischen und sozialwissenschaftlichen Messungen (vgl. MicheelislBauch 1996). In Anlehnung an internationale Maßstäbe wurden die Altersgruppen der 8- bis 9jährigen, der 13- bis 14jährigen, der 35- bis 44jährigen und der 45- bis 54jährigen zur Alterskohortenbildung ausgewählt. In der Weststudie konnte ein mittlerer Ausschöpfungsgrad von 67% SOZIALWISSENSCHAFTEN UND BERUFSPRAXIS (SUB) 21. JAHRGANG (1998) HEFT 1

SOZIALEPIDEMIOLOGIE UND ZAHNMEDIZIN 5 der gezogenen Bruttozufallsstichprobe realisiert werden, so daß 1763 Probanden untersucht und befragt werden konnten, in der Oststudie wurde eine Ausschöpfung von 76,7% erreicht, wobei somit 1519 Personen untersucht und befragtwurden. Neben dem Kriterium der Bevölkerungsrepräsentativität zeichneten sich diese Studien dadurch aus, daß sie sich nicht nur auf die Erfassung der Kariesmorbidität beschränkten, sondern auch die Vorkommenshäufigkeiten von Prodontalerkrankungen, Zahnstellungs- und Bißlagefehlern sowie den prothetischen Versorgungsstatus auswiesen. Diese zahnmedizinischen Befunddaten wurden mit wichtigen sozialwissenschaftlichen Faktoren - wie mundgesundheitsrelevanten Einstellungs- und Verhaltensmustern und Sozialschichtabhängigkeiten in Verbindung gebracht. Aus dem großen Datenbestand dieser Studien können an dieser Stelle nur wenige Ergebnisse präsentiert werden. Tabelle 1 zeigt den Kariesbefall in Deutschland. Gezählt wurde nach dem international gebräuchlichen DMF-T- Index. DMF-T steht für zerstörte (decayed), fehlende (missing), gefüllte (filled) bleibende Zähne (Teeth). Tab. 1: Kariesbefall (DMF-T) in Deutschland. Bundesweite bevölkerungsrepräsentative Studien des IDZ Altersgruppe Ost (1992) West (1989) Gesamt 8- bis 9jährige * 1,1 Zähne 1,5 Zähne 1,4 Zähne 12jährige ** 3,3 Zähne 4,1 Zähne 3,9 Zähne 13- bis 14jährige 4,3 Zähne 5,1 Zähne 4,9 Zähne 35- bis 44jährige 13,4 Zähne 16,7 Zähne 16,1 Zähne 45- bis 54jährige 15,7 Zähne 18,4 Zähne 17,9 Zähne *blelbende Zähne **linear interpoliert, untersucht wurden 13- bis 14jährige Quelle: IDZ 1991 und 1993 Im internationalen Vergleich steht Deutschland mit diesen Karieswerten im nach der WHO klassifizierten Feld der Länder mit "geringem bzw. moderatem" Kariesbefall. Vergleicht man diese Werte mit der Schweiz oder skandinavischen Ländern, so zeigt sich allerdings, daß die Bundesrepublik insbesondere bei den Karieswerten der Kinder und Jugendlichen immer noch einen Nachholbedarfhat. Gleichwohl kann festgestellt werden, daß sich die Zahngesundheit in der Bundesrepublik (sowohl West wie auch Ost) in den letzten 20 Jahren zum Teil erheblich verbessert hat. Wurde für die 8- bis 9jährigen 1973 noch ein DMF-T-Wert von 3,3 ermittelt, so hat die IDZ-Studie für 1989 in dieser Altersgruppe einen Wert von 1,5 konstatiert, was eine Reduktion von 55% bedeutet. Für die Altersgruppe der 13- bis 14jährigen wurde im Vergleich 1973 zu 1989 eine Reduzierung um 42% festgestellt. DerTrenddesKariesrückganges hält aktuell noch an. Wie epidemiologische Begleituntersuchungen zur Gruppenprophylaxe der Deutschen Arbeitsgemeinschaft

6 BAUCHJMICHEELIS flir Jugendzahnpflege in den Bundesländern bestätigen, gehen die Karieswerte bei den 12jährigen von 3,9 (extrapolierter Gesamtwert flir Deutschland aus den beiden IDZ Studien) 1989 aufwerte um 2,4-1,6 flir 1995 zurück (vgl. DAJ 1995). In den beiden IDZ-Studien wurde eine ausflihrliehe Statistik zur Erfassung der sozialen und demographischen Daten zur Anwendung gebracht. In Anlehnung an die Standarddemographiedes ZUMAwurden folgende Parametererhoben: Geschlecht, Alter, Schulbildung, Berufsausbildung, Erwerbsstatus, ausgeübter Beruf, Familienstand, Haushaltsgröße, Haushaltsnettoeinkommen, Krankenkassenzugehörigkeit. Auf der Basis der Variablen "Schulbildung", "Erwerbsstatus" und "Haushaltsnettoeinkommen" wurde ein Sozialschichtindex entworfen. Interessant ist nun, daß auch die Zahn-, Mund- und Kieferkrankheiten schichtenspezifisch unterschiedlich verteilt sind. Generell läßt sich feststellen, daß die orale Gesundheit um so besser ist, je höher der sozioökonomische Status ist. Tabelle 2 zeigt diesbezüglich die Kariesverteilung aus der IDZ-Weststudie. Tab. 2: Mittlere DMF-T Werte bei Kindern und Jugendlichen aus unterschiedlichen Sozialschichten im Jahr 1989. Altersgruppe Oberschicht Mittelschicht Unterschicht 8- bis 9jährige 1,0 1,3 2,1 13- bis 14jährige 2,9 5, I 6, I Mittlerweile liegen eine Vielzahl von Befunden über die sozioökonomisch unterschiedliche Verteilung von oralen Erkrankungen bei unterschiedlichsten Populationen und AItersgruppen vor (vgl. Nikolitsch 1978, Pieperet al. 1981, Baueret al. 1995). Grundsätzlich ist dabei festzustellen, daß insbesondere bei der Kariesverteilung die sozialen Unterschichten (bei Kindern und Jugendlichen) durchschnittlich doppelt so hohe Karieswerte aufweisen wie die sozialen Oberschichten. Ähnliche Befunde liegen flir Parodontalerkrankungen und Zahnverlust vor. Auch bei den Sanierungsgraden zeigt sich, daß die oberen sozialen Statusgruppen offensichtlich bevorzugt sind. Bemerkenswert ist ebenfalls, daß auch in der ehemaligen DDR trotz Propagierung der "klassenlosen Gesellschaft" die oralen Erkrankungen die oben beschriebene ungleiche Sozialschichtverteilung aufweisen. Wie bei der sozialen Ungleichverteilung anderer Krankheitsformenkreise wird die schichtenspezifische unterschiedliche Prävalenz von oralen Erkrankungen auf die differenzierten Lebensstile, Einstellungsstrukturen und Sozialisationspraktiken der verschiedenen Sozialschichten zurückgefiihrt, die sich in einem differenzierten Gesundheits- und Krankheitsverhalten manifestieren (vgl. Barkowski et al. 1996). Während das Gesundheits- und Krankheitsverhalten der sozialen Unterschichten eher als präventionsaversiv

SOZIALEPIDEMIOLOGIE UND ZAHNMEDIZIN 7 umschrieben werden kann (wegen externaler Kontrollüberzeugung, geringer Zukunftsorientierung, "deferred gratification pattern", restringiertem Sprachcode etc.), beeinflussen dagegen die lebensweltlich abgestützen Einstellungsstrukturen der Mittel- und Oberschichten das Gesundheitsverhalten eher positiv. Es ist klar, daß es in den Unterschichten, in denen weniger eine Zukunfts-, sondern mehr eine Gegenwartsorientierung vorliegt, erheblich schwieriger ist, eine stabile Präventionsorientierung zu etablieren, die ja immer zukunftsbezogen ist. So ist es einsichtig, daß bei einer eher passiv-fatalistischen Umweltorientierung der sozialen Unterschichten und einer externalen Kontrollüberzeugung (Krankheit als Schicksal) die Einsicht dort schwerer zu vermitteln ist, daß man auf die eigene Gesundheit durch gesundheitsadäquates Verhalten Einfluß nehmen kann. Diese schichtenspezifischen Verhaltensdifferenzen werden verstärkt durch unterschiedliche Zugangsbedingungen zu materiellen und kognitiven Ressourcen, die auch für die Mundgesundheit von großer Relevanz sind. Im Gefolge der Untersuchung schichtenspezifischer Differenzen insbesondere der Kariesverteilung wurde man aufdie "Polarisierung" des Kariesbefalls aufmerksam (vgl. Gerritz 1995). Vornehmlich die beiden IDZ-Studien brachten zu Tage, daß die Kariesverteilung in der Bevölkerung sich in einer deutlichen Schieflage befindet. Sie belegen, daß 23% der 8-bis 9jährigen 82% aller kariösen und gefüllten Zähne und 23% der 13-bis 14jährigen 66% aller geschädigten Zähne auf sich vereinigen. Dieser Trend setzt sich bei der Erwachsenenbevölkerung fort: Hier haben 27% der 35- bis 54jährigen 74% aller geschädigten Zähne. Noch deutlicher wird der Trend der Schieflage der Kariesverteilung bei den Milchzähnen der 8-bis 9jährigen. Hier haben 21 % der Kinder naturgesunde Gebisse, d. h., sie weisen weder Karies noch Füllungen noch Zahnverlust auf. 43% haben zwar Karies, sind aber saniert. Demgegenüber haben 9% der Kinder 50% aller kariösen Flächen und 34% der Kinder vereinigen 89% aller gefüllten Flächen auf sich. An der Schiefe der Kariesverteilung zeigt sich, daß es offensichtlich "Karies Risikopopulationen" gibt, und daß ein weiteres Zurückdrängen der Karies in der Bevölkerung ganz wesentlich davon abhängt, ob es gelingt, präventive Effekte bei diesen Risikopopulationen zu plazieren. In neuerer Zeit befaßt sich die sozialepidemiologische Forschung in der Zahnmedizin ganz wesentlich mit diesen Risikopopulationen und der Fragestellung, in welcher Hinsicht (physiologischer, psychologischer und sozialer Art) sich sog. "Hochrisikogruppen" von "Niedrigrisikogruppen" unterscheiden (vgl. Micheelis/ Schroeder 1996). Insbesondere wird dabei der prädiktive Wert einzelner Faktoren aufdie Wahrscheinlichkeit, an Karies zu erkranken, untersucht. Dabei zeichnetsich in mehrfacher Hinsicht - sowohl für die Ätiologie der Karies als auch für die präventiven Interventionen ein Paradigmenwechsel ab. Die Kariesgenese erweist sich zunehmend als komplexes multifaktorielles Geschehen, das mit mehr Faktoren in Zusammenhang steht als nur (wie bislang angenommen) mit der Besetzung des Zahnes mit säurebildenden Mikroorganismen.

8 BAUCHIMICHEELIS Auch in der Zahnmedizin zeichnet sich eine "salutogene" Wendung ab (vgl. Anto novsky 1987), da nicht mehr nur danach gefragt wird, warum ein Zahn an Karies erkrankt, sondern es wird zunehmend gefragt, warum ein Zahn trotz pathogener Angriffe nicht er krankt. In Anlehnung an Antonovsky lautet die Antwort: "Wenn die individuellen Ab wehrkräfte mindestens so stark wie oder noch stärker als die Angriffsfaktoren sind", wenn also die remineralisierenden Einflüsse diejenigen der Demineralisation überwiegen (vgl. Einwag 1993). Bei dieser Fragestellung kommen ganz neue Aspekte in den Blick. Das "mechanische Modell" (Zucker x Zeit = Säure = Karies) wird erweitert und relativiert durch physiologische Faktoren wie Pufferkapazität des Speichels, Konsistenz der Plaque, durch verhaltensbedingte und soziale Faktoren wie Oral habits usw. usw. Damit geraten auch zunehmend Elemente der sozialen Lebenswelt in das Blickfeld eines noch zu entwickelnden intensivprophylaktischen Programmes fiir Kinder mit erhöh tem Kariesrisiko. Jüngst sind Barkowski et al. (1996) in einer Studie fiir die DAJ speziell dieser Frage nachgegangen. In einer qualitativen Untersuchung ermittelten sie salutogene Faktoren in der Lebenswelt von Kariesrisikokindern (z.b. "intakte Famile", "Präventionsorientierung", "Verfiigbarkeit von materiellen und immateriellen Ressourcen") und setzten diese in Relation zu den bei den Risikokindern jeweils vorfindbaren pathogenetischen Faktoren (z. B. "Scheidung der Eltern", "Arbeitslosigkeit eines Elternteils" etc.). Dabei zeigte sich, daß es eine unmittelbare Beziehung gibt zwischen der Anzahl der pathogenetischen bzw. salutogenetischen Faktoren und der Kariesprävalenz, d. h., daß bei einer Dominanz der pathogenetischen Faktoren in der Lebenswelt des jeweiligen Kindes auch die individuelle Kariesprävalenz groß war, bei Dominanz der salutogenetischen Faktoren war hingegen die Kariesprävalenz geringer. Die Ergebnisse dieser Studie, die noch durch weitere Studien statistisch-quantitativ ergänzt werden müssen, geben Anlaß zu der Vermutung, daß lebensweltliche Faktoren, die prima vista mit den mundgesundheitsrelevanten Faktoren (wie Zahnhygiene etc.) nur in einem schwachen Zusammenhang stehen, gleichwohl auf die "Karieskarriere" eines Kindes Einfluß ausüben. Für die Entwicklung von Präventionsprogrammen f"tir Kinder mit erhöhtem Kariesrisiko bedeutet dies, daß diese aufeine "breitere Spur" gesetzt werden müssen. Auch die Oralprophylaxe muß einmünden in ein generelles Verhaltens- und Lebenslagemanagement fiir "Problemkinder" aus sozialen Brennpunkten. Die Oralprophylaxe, so konkludieren die Autoren, muß speziell bei Kariesrisikokindern vernetzt werden mit allgemeinen sozialpädagogischen und gesundheitserzieherischen Programmen. Die sozialepidemiologische Forschung in der Zahnmedizin hat der Zahnmedizin insgesamt und insbesondere der Oralprophylaxe viele interessante und forschungspolitisch wichtige Impulse gegeben. Sie leistet einen wesentlichen Beitrag zu einem neuen Paradigma einer präventiv ausgerichteten Zahnheilkunde und setzt gleichzeitig höchst praktische Blickpunkte auf spezifische Herausforderungen des gegebenen kurativen Versorgungssystems der oralen Medizin.

SOZIALEPIDEMIOLOGIE UND ZAHNMEDIZIN 9 Literatur Ahrens, Günther; Bauch, Jost; Bublitz, Karl-Adolf; Neuhaus, Ingrid, 1988: Parodontalgesundheit der Hamburger Bevölkerung, Materialienreihe Bd. 2, IDZ. Ahrens, Günther; Bauch, Jost; Bublitz, Karl-Adolf; Neuhaus, Ingrid, 1991: Epidemiologie von Parodontalerkrankungen. In: Schwartz, Friedrich W., Badura, Bernhard (Hrsg.), Public Health. Texte zum Stand und Perspektiven der Forschung, Berlin, S. 545-555. Antonovsky, Aaron, 1987: Unraveling the Mystery ofhealth. How People Manage Stress and Stay Weil, San Francisco. Barkowski, Dieter; Bartsch, Norbert; Bauch, Jost, 1996: Plidagogisch-psychologische Interventionsstrategien zur Verbesserung des Mundhygieneverhaltens bei 6-8jllhrigen Kindern mit hohem Kariesrisiko, DAJ, Bonn. Bauer, Jochen; Neumann, Thomas; Saekel, Rüdiger, 1995: Mundgesundheit und zahnmedizinische Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland 1994, Berlin. Curilovic, Z., 1982: Epidemiologische Daten der Parodontalerkrankungen in der Bundesrepublik Deutschland, Swiss. Dent. 3, NT. 5, S. 63-69. DAJ, 1995: Epidemiologische Begleituntersuchung zur Gruppenprophylaxe, Bonn. DAJ, 1996: Epidemiologische Begleituntersuchung zur Gruppenprophylaxe, Bonn. Einwag, Johannes, 1993: Neues aus der Kariesprllvention, ZM 9, S. 38-45. Gerritz, Karl-Josef, 1995: Verhütung von Zahnerkrankungen durch Gruppenprophylaxe, In: Akademie filr öffentliches Gesundheitswesen (Hrsg.), Kariesprllvention in der Gruppe, Bd. 13, Düsseldorf, S. 48 ff. Gülzow, Hans-Jürgen; Gerritzen, Theodor; Ritter, Hans-Jürgen, 1980: Milchzahnkaries bei Großstadtkindern, DZZ 35, S. 297-300. Gülzow, Hans-JUrgen; Schiffner, Ulrich; Bauch, Jost, 1985: Milchzahnkaries bei Kindern aus Storrnamer Kindergllrten, DZZ 40, S. 1044-1048. Hollfeld, Michael, 1986: Teilergebnisse einer epidemiologischen Untersuchung des Parodontalzustandes bei 45-54jllhrigen Probanden, DZZ 41, S. 619-622. Keil, Ulrich, 1974: Die Evaluation der zahnmedizinischen Versorgung als Teilgebiet der medizinischen Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland. Das öffentliche Gesundheitswesen, S.290-293. Krüger, Wolfgang; Mausberg, Rudolf, 1978: KariestTequenz, Kariesbefall und soziale Milieubedingungen bei Kindern im Vorschulalter, DZZ 33, S. 164-166. Micheelis, Wolfgang; Bauch, Jost, 1991: Mundgesundheitszustand und -verhalten in der Bundesrepublik Deutschland, IDZ-Materialienreihe Bd. 11.1, Köln. Micheelis, Wolfgang; Bauch, Jost,; 1993: Mundgesundheitszustand und -verhalten in Ostdeutschland, IDZ-Materialienreihe Bd. 11.3, Köln. Micheelis, Wolfgang; Bauch, Jost, 1996: Oral Health of representative sampies of Gerrnans examined in 1989 and 1992. Community Dentistry and Oral Epidemiology 24, S. 62-67. Micheelis, Wolfgang; Schroeder, Ernst, 1996: Risikogruppenprofile bei Karies und Parodontitis, IDZ-Materialienreihe 11.4, Köln. Nikolitsch, Jörg Marcel, 1978: Zwischen sozialer Herkunft und Gebißgesundheit besteht ein enger Zusammenhang, ZM 16, S. 881-889. Patz, Johanna; Naujoks, Rudolf, 1980: Morbiditllt und Versorgung der Zlihne in der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland, DZZ 35, S. 259-264. Pieper, Klaus; Krüger, Wolfgang; Prasis, Peter, 1981: Der Einfluß der sozialen Schicht auf Kariesbesfall, Sanierungsgrad und Mundhygiene bei Jugendlichen, DZZ 36, S. 376-378.

10 BAUCHIMICHEELIS Schiffner, Ulrich; Gülzow, Hans Jürgen; Bauch, Jost, 1986: Mundhygiene und Gingivitis bei Kindern aus Stormamer Kindergärten vor und zwei Jahre nach Einführung gruppenprophylaktischer Maßnahmen, Oralprophylaxe 8, S. 22-28. PD Dr. Jost Bauch Herderstr.3 D-53881 Euskirchen TellFax: 02251171300 Jas! Bauch, Dr., Privatdozent an der sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Konstanz. Schwerpunkte: Gesundheitssystemforschung, Medizinsoziologie, Epidemiologie, Organisationsforschung im Gesundheitswesen, Prävention. Waifgang Micheelis, Dr., Leiter des Instituts der Deutschen Zahnärzte. Schwerpunkte: Oral-Epidemiologie, Präventionsforschung, zahnmedizinische Versorgungsforschung.