CAMPUS GROSSHADERN CAMPUS INNENSTADT Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Drogenkonsumräume in Bayern eine fachpolitische Debatte Bayerischer Landtag, München, 14.07.2015 Stellenwert und Zielgruppe von Diamorphinambulanzen Prof. Dr. Oliver Pogarell Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität München
PRÄVALENZEN PSYCHISCHER ERKRANKUNGEN IN DEUTSCHLAND Jedes Jahr sind 27,7% (95% KI: 26.3-29.2; einschließlich Nikotinabhängigkeit: 34.4%) der Bevölkerung von mindestens einer psychischen Störung betroffen Anorexia Nervosa 0.7 Somatically induced psychiatric disorders 1.2 Bipolar Disorder Drug abuse / addiction Posttraumatic Stress Disorder (PTSD) 1.5 1.8 2.3 4+ Diagnoses 22 % 1 Diagnosis 31 % Possible psychotic Disorder Somatoform Disorders Obsessive-compulsive Disorder 2.6 3.5 3.6 3 Diagnoses 21 % 2 Diagnoses 26 % Alcohol Disorder 4.3 Unipolar Depression 7.9 Anxiety Disorder 15.3 0 2 4 6 8 10 12 14 16 KLINIKUM DER UNIVERSITÄT MÜNCHEN Jacobi et al., Int J Methods Psychiatr Res 2013 http://www.klinikum.uni-muenchen.de/klinik-und-poliklinik-fuer- Psychiatrie-und-Psychotherapie/de/index.html
Komorbidität bei Opioidabhängigkeit Prävalenz bedingt verlässliche Zahlen, v.a. wegen inhomogener Komorbiditätskriterien und heterogener Konsummuster die Hälfte aller Personen, die drogenabhängig sind, haben eine zusätzliche psychische Störung [ECA-Studie, Regier 1990] Opioid-Substitution und Komorbidität [Kuntze et al. 1998] Persönlichkeitsstörung 45 % Depression 25 % Schizophrenie 14 % Angststörung 5 %
Substanzmissbrauch Substanzabhängigkeit eine lebensbedrohliche Erkrankung Suizidalität: Alkohol-(Drogen-)konsum: unabhängiger Risikofaktor für Suizide (Kaplan et al. 2014) positiver Test auf Alkohol bei 10-69% der Suizide, 10-73% der Suizidversuche (Cherpitel et al. 2004) Suizidrisiko bei heavy drinkers 3.5-fach erhöht (Wilcox et al. 2004) Suizidrisiko bei Alkoholabhängigkeit ca. 10-fach erhöht; 17-fach bei Frauen, 5-fach bei Männern (Harris et al. 1997, Wilcox et al. 2004) Suizidrisiko bei Opioidabhängigkeit ca. 13-fach erhöht (Wilcox et al. 2004) Suizidrisiko bei i.v.-konsum ca. 14-fach erhöht (Wilcox et al. 2004) Suizidrisiko bei Polytoxikomanie ca. 17-fach erhöht (Harris et al., Wilcox et al. 2004)
Behandlungsziele bei Opioidabhängigkeit oberstes Ziel der Behandlung ist die Suchtmittelfreiheit Dauerhafte Abstinenz Verlängerung von suchtmittelfreien Perioden Reduzierung von Einnahmehäufigkeit und -menge, Rückgriff auf weniger gefährliche Suchtmittel oder Konsumformen Sicherung des möglichst gesunden Überlebens Sicherung des Überlebens Mögliche Stufen der Behandlung sind: Sicherung des Überlebens Behandlungsmöglichkeit bei sonst nicht zu erreichenden Patienten Teilentzug von anderen Suchtmitteln Verminderung chronischer Infektionen Überbrückung bis zum Entzug Gesundheitliche und psychosoziale Stabilisierung Berufliche Rehabilitation und soziale Reintegration Das Erreichen dieser Stufen hängt wesentlich von der individuellen Situation ab und verläuft in unterschiedlich langen Phasen, die parallel verlaufen können.
Effekte der langfristigen Substitution: PREMOS-Studie [PREdictors, Moderators, and Outcome of Substitution Treatment] Wittchen et al., Suchtmed. 13 (5) 2011
Effekte der langfristigen Substitution Abstinenzorientierung [PREMOS-Studie] Cave bei hoher Abstinenzorientierung: mehr Patienten abstinent (8.3% vs. 6.2%) aber mehr Patienten verstorben (14.2% vs. 10.9%) weniger Patienten in Substitution (58% vs. 71%) häufiger Abbrüche oder Unterbrechungen (44% vs. 23%) Wittchen et al., Suchtmed. 13 (5) 2011
Substitutionstherapie 2015: Bedarf und Angebot gemeldete Substitutionspatienten meldende Ärztinnen/Ärzte Drogen- und Suchtbericht, Mai 2015
Art und Anteil der Substitutionsmittel Drogen- und Suchtbericht, Mai 2015
Warum eine Behandlung mit Diamorphin (Heroin)? 150.000 Opiatabhängige, davon 77.500 in Substitution ca. 50 % nicht in Behandlung, aber behandlungsbedürftig 10-30 % der Substituierten mit Beikonsum
Der Weg zur Diamorphintherapie... - Diskussionen in Deutschland - Studie (Anwendungsbeobachtung) in der Schweiz - Kontrollierte Arzneimittelstudie in den Niederlanden Ausschreibung des BMG (29.9.1999) einer klinischen Arzneimittelprüfung Lenkungsgruppe (BMG, Bundesländer, Städte) Zielgruppe Heroinabhängige - bisher vom Hilfesystem nicht Erreichte (NE) - nicht erfolgreich Substituierte (MS) März 2002: Behandlungsbeginn Dezember 2003: Rekrutierung (N=1032) beendet Dezember 2004: letzter Patient beendet Vergleichsstudie; Zwischenbericht für Zulassungsverfahren abgegeben Dezember 2005: letzter Patient beendet Langzeitstudie alle Patienten in Follow-up Phase 2002-05 Juli 09 Diamorphingesetz 1999 >90er BMG, BÄK, GBA, KV, GKV, StMUG, Landesbehörden
Modellprojekt - multizentrisch Hamburg Hannover Frankfurt Köln Bonn Karlsruhe München - kontrolliert Heroin vs. Methadon - randomisiert 60% 50% 40% 30% 20% 10% 0% Untersuchungsgruppen Heroin N=515 Methadon N=500 Untersuchungsgruppe N = 1.015
Studienziele Positive Effekte hinsichtlich: Reduktion des Beikonsums illegaler Drogen psychischer und körperlicher Gesundheit sonstige: Rückgang der Delinquenz Erreichbarkeit und Haltekraft der Therapie Loslösung aus dem Drogenkontext soziale Stabilisierung: Aufnahme neuer drogenfreier Kontakte, verbesserte Arbeitsfähigkeit, finanzielle Sicherung, Stabilisierung der Wohnsituation Aufnahme weiterführender Therapien
Haltequote 100% Heroin Methadon 80% 77,5% 67,2% 60% 48,4% 40% 38,7% 20% 0% nach 6 Monaten nach 12 Monaten Bessere Haltequote in der Heroingruppe
Response (Completeranalyse) 100% 87,0% Heroin Methadon 80% 77,0% 73,1% 60% 51,5% 40% 20% 0% Gesundheit Drogenkonsum Gesundheit: OR = 2,05 ** (1,28-3,27) Konsum: OR = 2,64 *** (1,80-3,88)
körperliche Gesundheit psychische Gesundheit
Schlussfolgerungen 12-Monats-Haltequote der Heroinbehandlung besser als die der Methadonbehandlung Heroinbehandlung bzgl. gesundheitlicher Verbesserung und Rückgang illegalen Drogenkonsums signifikant überlegen gegenüber Methadonbehandlung Art der psychosozialen Betreuung hat keinen relevanten Einfluss auf die Behandlungseffekte Positive Entwicklungen auch in anderen Bereichen wie Kriminalität und soziale Beziehungen Intensivmedizinische Behandlung bei Schwerstabhängigen ist sinnvoll, auch wenn sie teurer ist
Medikation: Levomethadon (n=82), Buprenorphin (n=20), Diamorphin (n=48) 90 80 70 60 50 40 30 Frauen Männer 20 10 0 L-Polamidon Buprenorphin Diamorphin
Prozent Prozent 0 20 40 60 80 100 0 20 40 60 80 100 Analyse des Fentanyl-Beigebrauchs in Schwerpunktambulanzen Urin-Test [Dissertation D. Ploerer, LMU 2014] Missbrauchshäufigkeit von Fentanyl (positiver Urintest) Zusammenhang zwischen Ergebnis des Urintests nach Praxis alle Zeitpunkte zusammen und der Substitutionsmedikation positiv negativ positiv negativ PolamidonA Methadon B Buprenorphin C Diacetylmorphin
Stellenwert und Indikation?
Rechtlicher Rahmen Gesetz zur diamorphingestützten Substitutionsbehandlung vom 15. Juli 2009 Betäubungsmittelgesetz (BtMG) Betäubungsmittelverschreibungsverordnung (BtMVV) Richtlinien der Bundesärztekammer G-BA: Richtlinien Methoden vertragsärztlicher Versorgung (MVV) Arzneimittelgesetz (AMG)
Anforderungen an die Patienten Gemäß 5 Abs. 9a BtMVV muss der Patient für eine diamorphingestützte Substitutionsbehandlung das 23. Lebensjahr vollendet haben, seine Opiatabhängigkeit muss seit mindestens fünf Jahren bestehen und von schwerwiegenden somatischen und psychischen Störungen begleitet sein; der derzeitige Konsum muss überwiegend intravenös erfolgen.
Anforderungen an die Patienten Darüber hinaus muss ein Nachweis über zwei erfolglos beendete Behandlungen der Opiatabhängigkeit vorliegen, davon eine mindestens über sechs Monate mit einem anderen Substitut gemäß 5 Abs. 2, 6 und 7 BtMVV, einschließlich begleitender psychosozialer Betreuungsmaßnahmen
Anforderung an Einrichtung zur Substitution mit Diamorphin, 10 MVV G-BA Multidisziplinäres Team unter ärztlicher Leitung Sicherstellung der Behandlung täglich über einen Zeitraum von 12 Stunden Bei jeder Vergabe müssen ein/e Arzt/Ärztin sowie qualifizierte Mitarbeiter präsent sein Resultierender Personalbedarf: Ärzte in Voll- oder Teilzeit im Umfang von drei Vollzeitstellen
Anforderung an Einrichtung zur Substitution mit Diamorphin, 10 MVV G-BA Psychosoziale Betreuung der Patienten in der Regel in der Einrichtung Getrennter Warte-, Ausgabe-, Überwachungsbereich Organisatorische Trennung von Methadon- und Diamorphin- Substitution Sicherstellung der Substitution dreimal täglich Fortbildung mindestens zwei mal jährlich themenspezifisch Einmal jährlich Notfalltraining
Substitutionsamblanz der Klinik für Psychiatrie
Diamorphinbereich
Aktueller Stand der diamorphingestützten Substitution in Deutschland hochschwelliges Angebot Patienten: Einschlusskriterien, Ambulanzkontakt 2-3x tgl. Einrichtung: hohe bauliche, personelle Anforderungen Kostendeckung? bundesweit ca. 650 Patienten an neun Standorten