Demenz > im Spannungsfeld < von Selbstbestimmung und Gesellschaft Dr. Marion Bär Kompetenzzentrum Alter am Heidelberg Leben mit Demenz Die Frage, inwieweit ein Leben mit Demenz schlimm ist oder nicht, hängt ( ) von den täglichen Erfahrungen des Menschen mit Demenz ab * (Nuffield Council on Bioethics, 2009) *Übersetzung: Bär
Populäre Bilder über Demenz Der Verlust von dem, was uns zum Menschen macht Der heimtückische Angreifer, den man bekämpfen muss Todesangst Mit der Diagnose Demenz ist das Leben zu Ende Nehmen ohne Geben Demenz bedeutet, dass man für andere nur noch zur Belastung wird (Baldwin, van Gorp et al., 2011) Alzheimer s disease the degenerative brain condition that is not content to kill its victims without first snuffing out their essence (Time, 25.10.2010) Auswirkungen im Erleben der Betroffenen Verlust eines selbstverständlichen Lebensgefühls: Gefühl, zu langsam zu sein Gefühl, verloren zu sein Gefühl, ein leeres Blatt zu sein (Phinney&Chesla, 2003) Angst davor, deswegen nicht mehr als wertvolle Person anerkannt zu werden (Steeman et al., 2007) Spannungszustand zwischen erlebter Handlungskontrolle und Fremdbestimmung (MacQuarrie, 2005)
Gesellschaftliche Wertsetzungen Normative Wertungen Lob der Rationalität Lob des Fortschritts Lob der Produktivität Lob der Selbstverwirklichung Lob der Unabhängigkeit Daraus resultierende Denkbrillen Nachlassende kognitive Fähigkeit führen zum Verlust der Selbstbestimmungsfähigkeit Nachlassende Kräfte und Fähigkeiten sind Abbauprozesse Zweckfreie Handlungen sind unproduktiv oder sinnlos Einschränkungen meiner Selbständigkeit zerstören meine Lebensqualität Auf andere angewiesen zu sein beeinträchtigt meine Würde Verständnis von Wirklichkeit Wirklichkeit als objektiv gegebener, äußerer Tatbestand Frau K., Pflegeheimbewohnerin, 89 Jahre alt, mittelgradige Demenz: Ich schreibe gern, das ist wie ein Hobby für mich. Vor allem Maschine schreiben. Jetzt bin ich hier gelandet, die haben eine Schreibkraft gesucht, da bin ich gleich genommen worden. Realitätsverkennung
Wirkliche Welt Mensch mit Demenz Bezugspersonen Demente leben in einer anderen Welt Quelle: http://office.microsoft.com Umgang mit der wachsenden Verantwortung Autonomie Sicherheit Demenzwelt Risikominimierung
Refraiming Frames Der Verlust von dem, was uns zum Menschen macht Der heimtückische Angreifer, den man bekämpfen muss Mit der Diagnose ist das Leben zuende Counter-Frames Menschen mit Demenz sind immer noch reale Menschen Der seltsame Weggefährte Carpe diem Quelle: "Ich bin noch immer derselbe Mensch -Aufruf zu einer neuen Art der Kommunikation über Demenz Robert-Bosch-Stiftung, 2011 9 Ein phänomenologisches Verständnis von Wirklichkeit Wirklichkeit ist Erfahrungswelt wird aktiv konstruiert entwickelt sich in sozialen Interaktionen ist auf Sinn hin ausgerichtet Menschen (müssen) interpretieren, was sie wahrnehmen Wenn wir den Sinn einer Situation nicht verstehen, sind wir nicht handlungsfähig Beim Verstehen von Situationen greifen wir auf ein großes Repertoire an Vorwissen und Vorerfahrungen zurück
.wie jemand, der mit einer stumpfen Säge arbeiten muss (Sabat & Harré, 1994) Das Bedürfnis und die Notwendigkeit, Sinn zu verstehen haben alle Menschen gemeinsam Menschen mit Demenz leisten diese Arbeit unter erschwerten Bedingungen. Respekt für diese Leistungen, auch wenn aus der gefundenen Erklärung schwierige Situationen resultieren können. Unterstützung bei der Deutung von Situationen Um Handlungsfähigkeit zu ermöglichen Um die Person vor Erfahrungen des Scheiterns, der Peinlichkeit, Angst und Verunsicherung zu bewahren Individuell bedeutsame Andere Personen, Erinnerungen, Ziele, Tätigkeiten, Projekte, Dinge. die mir etwas bedeuten, die mein Leben bereichern, an denen ich hänge, die für mich persönlich wert-voll sind Selbst-Transzendenz Mensch-Sein (verweist) über sich selbst hinaus auf etwas ( ), das nicht wieder es selbst ist, - auf etwas oder auf jemanden: auf einen Sinn, den zu erfüllen es gilt, oder auf mitmenschliches Sein, dem es begegnet Viktor Emil Frank (1905 1997)
Individuell bedeutsame Andere und Demenz Ergebnisse des Projekts DEMIAN (2004-2010): Hinweise auf die Existenz individuell bedeutsamer Anderer in allen Stadien der Demenz Individuell bedeutsame Andere im Verlauf der Demenz - manche bleiben erhalten - manche gehen verloren - Manche verändern sich in ihrer Ausdrucksform Neue Bindungen an individuell bedeutsame Andere im Verlauf einer Demenz? Herr Kerzer* (fortgeschrittene Demenz): Er ist den ganzen Tag im Rollstuhl auf Achse und untersucht und zerlegt alle Dinge, der er auf seinen Streifzügen vorfindet. Wenn Renate Messerschmidt ihren Ehemann im Heim besucht, sitzt eine andere Frau neben ihm. Küsst ihn, streichelt seine Hand. Sie heißt Frieda, auch sie ist dement (chrismon, 03/2012) Und eines nachts mitten aus dem Schlaf heraus rief er laut in das Dunkel: Ich will Freiheit beim Malen. Am nächsten Tag gab ich ihm Farben und Pinsel und schlug vor, so etwas wie einen Traum auszudrücken. Da entstanden seine ersten abstrakten Bilder (Else Natalie Warns, 2010)
Was bleibt, wenn die Demenz voranschreitet? Das Potenzial für emotionale Bindungen an individuell bedeutsame Andere Die Fähigkeit, Emotionen zu erleben und auszudrücken Über die Verbindung und Begegnung mit positiv bedeutsamen Anderen eröffnen sich Sinnmomente auch in den letzten Stadien der Demenz Wertbezogene Empfindungen im Sinne von das ist gut für mich sind auch im fortgeschrittenen Erkrankungsstadium erhalten (Jaworska, 1998) Neue Bilder konkretisieren Positive Alltagssituationen Beschreiben Sie bitte Situationen im Alltag, in denen Frau K. sich freut, in denen sie sich wohl zu fühlen scheint, in denen sie besonders interessiert wirkt Was wissen Sie außerdem? Welche Personen sind für diesen Menschen wichtig? Welche Tätigkeiten bereiten ihr/ihm Freude? Gibt es Geschichten, die sie/er immer wieder gerne erzählt? Oder Erinnerungen, die ihr/ihm etwas bedeuten? An welchen Orten hält Sie/er sich besonders gern auf?
Sich verständigen - Verantwortung teilen Professionelle Helfer, Angehörige, Betroffene (soweit möglich), - Bei der Deutung von Willensäußerungen - Beim Erkennen der individuellen Selbstbestimmungspotenziale - Beim Ausloten von Spielräumen zur Förderung der Selbstbestimmung - Beim Umgang mit den Grenzen der Selbstbestimmung Selbstbestimmung fördern Verantwortungsebenen
In der Grenzsituationstehen (Karl Jaspers) Lernfelder für alle Lebensalter Normalität ist kein fixer Zustand, sondern ein sensibles Gleichgewicht In allen Lebensphasen sind wir auf andere angewiesen Verlust, Leid und Tod sind Teil des Lebens Auch in schwierigen Lebenssituationen können sich neue Lebensperspektiven entwickeln Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit! Dr. phil. Marion Bär Kompetenzzentrum Alter am Heidelberg marion.baer@gero.uni-heidelberg.de