Prof. Dr. Oliver Diggelmann FS 2017 PRÜFUNG RECHT DER GEWALTANWENDUNG UND HUMANITÄRES VÖLKERRECHT 27. JUNI 2017 MUSTERLÖSUNG

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Transkript:

Prof. Dr. Oliver Diggelmann FS 2017 PRÜFUNG RECHT DER GEWALTANWENDUNG UND HUMANITÄRES VÖLKERRECHT 27. JUNI 2017 MUSTERLÖSUNG 1

Frage 1 (10 P) Was sind die Ziele des humanitären Völkerrechts? Wie versucht es diese, grundsätzlich gesprochen, zu erreichen? Frage 2 (15 P) Was ist ein Joint Criminal Enterprise (JCE)? Was sind die Voraussetzungen? Als Reaktion auf welches grundlegende Problem des Völkerstrafrechts wurde diese Konstruktion geschaffen? Frage 3 (15 P) In der Öffentlichkeit wird mit Blick auf den Konflikt in Syrien immer wieder die Bewilligung einer militärischen Intervention durch die UN gefordert. Der Sicherheitsrat ist wegen des Vetos eines permanenten Mitglieds momentan aber blockiert. Sie sitzen beim Kaffee mit einer Freundin und kommen auf den Syrienkonflikt und die Blockade des Sicherheitsrats zu sprechen. Ihre Freundin kritisiert das UN System der kollektiven Sicherheit, wobei sie sich insbesondere am Veto-Recht der sogenannten P5 stört. Sie meint, dass die UN deswegen eine Institution zur Erhaltung der Macht der fünf Veto-Mächte sei. Sie möchten differenziert auf diesen Kommentar antworten. a) Sie räumen ein, dass das Veto-Recht der P5 als Schwachstelle des UN Systems der kollektiven Sicherheit angesehen werden kann und begründen diese Aussage. b) Sie erklären aber auch Sinn und Zweck des Veto-Rechts und warum seine Statuierung in der UN- Charta bei der Gründung der Vereinten Nationen unerlässlich war. Frage 4 (25 P) Der von Diktator D regierte kommunistische Staat X testet seit mehreren Jahren immer wieder Atomwaffen. In letzter Zeit nimmt die Frequenz der Tests zu. X prahlt seit Kurzem auch damit, über funktionsfähige Interkontinentalraketen zu verfügen. Sorgen macht der Weltgemeinschaft zudem die erratische Persönlichkeit des Diktators. Mehrfach wurde Staat X für seine Atomwaffentests vom Sicherheitsrat gerügt. D zeigt aber keine Einsicht. Der demokratische Staat Y hat sich bereits öfters kritisch gegenüber der Regierung von X geäussert. Er prangert vor allem Menschenrechtsverletzungen durch das Regime an, worauf D mehrfach drohte, Staat Y solle seine Provokationen einstellen, ansonsten mit Vergeltungsmassnahmen zu rechnen sei. Staat Y liegt auf einem anderen Kontinent als Staat X und fühlt sich durch die Bekanntmachung des erfolgreichen Tests einer Interkontinentalrakete direkt durch X bedroht. Er möchte daher gegen X vorgehen bevor es zu spät ist und erwägt einen militärischen Erstschlag. Mittels Bombardierung aus der Luft sollen die Fabriken, in denen X die Interkontinentalrakete herstellt, zerstört werden. a) Würde der Plan von Staat Y das Gewaltverbot verletzen? b) Wie würde wohl der Präsident von Y die Rechtmässigkeit eines solchen Vorgehens rechtfertigen? Frage 5 (35 P) In Staat A herrscht ein Bürgerkrieg zwischen Truppen der autoritären Regierung und mehreren Rebellengruppen, welche die Regierung stürzen wollen. Gestützt auf eine Kapitel VII-Ermächtigung des UN-Sicherheitsrates greift Staat B in den Konflikt ein und unterstützt die Rebellen militärisch. Strategisch wichtig ist die Küstenstadt K. Nachdem Luftangriffe durch B die Rebellen nicht in genügendem Masse unterstützen konnten, beschliesst B, Bodentruppen einzusetzen. In der Innenstadt von K stossen die Bodentruppen von B auf starken Widerstand der militärischen Streitkräfte von A. Eine Gruppe von etwa 200 A-Soldaten hat sich seit mehreren Tagen im Luxushotel The Meridian verschanzt und beschiesst von dort aus die Rebellen sowie die anrückenden Bodentruppen von B. Auf dem Dach des Hotels haben sie eine Luftabwehrkanone montiert. Ausser den Regierungssoldaten befinden sich noch ca. 80 Zivilisten in dem Hotel. Vier ausländische 1

Journalisten, die sich ebenfalls im Hotel befinden, unterrichten die Truppen von B über Twitter, dass es sich bei den Zivilisten nicht um Regierungssympathisanten handelt, sondern lediglich um Personen, die im Hotel Schutz suchen. Die Truppen von B bitten die Journalisten, den Hotelgästen zu erklären, dass man das Hotel als militärisches Ziel ansehe, weshalb ihnen Gefahr drohe. Kurz darauf erstürmt eine Spezialeinheit von B mit Erfolg das Hotel. Um die Gegner möglichst effektiv ausser Gefecht zu setzen und gleichzeitig die Zivilisten soweit als möglich zu schonen, setzen die Soldaten Betäubungsgas ein. Keiner der Zivilisten erleidet durch den Gaseinsatz gesundheitliche Schäden. Bei dem anschliessenden Schusswechsel verlieren aber neben 20 Soldaten von A auch 5 Zivilisten das Leben. Hat Staat B bei der Erstürmung des Hotels The Meridian Bestimmungen des humanitären Völkerrechts verletzt? Vermerk: Staat A und B sind Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen sowie Vertragsparteien der Genfer Abkommen von 1949 sowie aller Zusatzprotokolle. 2

Prof. Dr. Oliver Diggelmann FS 2017 PRÜFUNG RECHT DER GEWALTANWENDUNG UND HUMANITÄRES VÖLKERRECHT 27. JUNI 2017 MUSTERLÖSUNG 1

Frage 1 Was sind die Ziele des humanitären Völkerrechts? Wie versucht es diese, grundsätzlich gesprochen, zu erreichen? Antwort 1 Was sind die Ziele des humanitären Völkerrechts? Ausgangslage: Anwendung von Gewalt ist trotz Gewaltverbot Realität Ziele: Schutz des einzelnen Menschen; Gewalt hegen, Gewaltanwendung auf das (militärisch) Unvermeidliche begrenzen, Gewaltfolgen mindern; Ausgleich zwischen militärischem Bedürfnis der Schwächung des Gegners und Schutz des Einzelnen; Erhaltung eines Restvertrauens 10 Prozent 5 Wie versucht das humanitäre Völkerrecht, diese Ziele, grundsätzlich gesprochen, zu erreichen? Regelung der Kriegführung im eigentlichen Sinne: Regelung der Zulässigkeit von Methoden und Mitteln Statuierung der Pflicht, nicht an den Feindseligkeiten Beteiligte zu schonen: Unterscheidung zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten und zwischen militärischen und nichtmilitärischen Zielen; Gebot der menschlichen Behandlung von Personen, die nicht kämpfen; Statuierung und Zuteilung der Verantwortung für die Behandlung von Verwundeten und Kranken 5 Frage 2 15 Prozent Was ist ein Joint Criminal Enterprise (JCE)? Was sind die Voraussetzungen? Als Reaktion auf welches grundlegende Problem des Völkerstrafrechts wurde diese Konstruktion geschaffen? Antwort 2 Was ist ein Joint Criminal Enterprise (JCE)? Täterschaftsform bei völkerrechtlichen Verbrechen gemäss Tadić -Berufungsurteil (ICTY, Dusko Tadić, IT-94-1-A, 15. Juli 1999) Form der commission" nach Art. 7 Abs. 1 ICTY-Statut Konstruktion für Zurechnung bei völkerrechtlichen Verbrechen Was sind die Voraussetzungen? gemäss ICTY-Rechtsprechung: Mitglied einer organisierten Gruppe ist für die von der Gruppe begangenen Verbrechen individuell verantwortlich o Mehrzahl von Personen, die zusammenwirken; müssen nicht formal organisiert sein o Existenz eines gemeinsamen Planes oder einer gemeinsamen Absicht; Ausführung des Plans kann allerdings auch spontan erfolgen; muss nicht im Einzelnen geplant sein o Teilnahme des Angeklagten an diesem Plan; kann auch die Form einer Unterstützungshandlung annehmen 4 5 2

Als Reaktion auf welches grundlegende Problem des Völkerstrafrechts wurde diese Konstruktion geschaffen? Tatbestände des Völkerstrafrechts sind Makroverbrechen; d.h., sie können nur von einer Vielzahl von Personen gemeinsam begangen werden; ohne einen gewissen Grad an Kooperation und Koordination ist die Begehung völkerrechtlicher Verbrechen wie z.b. Völkermord unmöglich Prinzip der individuellen Strafbarkeit des Völkerstrafrechts: Individuum kann nur für seine eigenen Handlungen und Unterlassungen bestraft werden Problem: schwieriger Nachweis des genauen Beitrags eines Einzelnen an ein konkretes Verbrechen; rigide Anwendung des Grundsatzes der individuellen Strafbarkeit würde viele einschlägige Sachverhalte von der völkerstrafrechtlichen Erfassung ausschliessen Frage 3 In der Öffentlichkeit wird mit Blick auf den Konflikt in Syrien immer wieder die Bewilligung einer militärischen Intervention durch die UN gefordert. Der Sicherheitsrat ist wegen des Vetos eines permanenten Mitglieds momentan aber blockiert. Sie sitzen beim Kaffee mit einer Freundin und kommen auf den Syrienkonflikt und die Blockade des Sicherheitsrats zu sprechen. Ihre Freundin kritisiert das UN System der kollektiven Sicherheit, wobei sie sich insbesondere am Veto-Recht der sogenannten P5 stört. Sie meint, dass die UN deswegen eine Institution zur Erhaltung der Macht der fünf Veto- Mächte sei. Sie möchten differenziert auf diesen Kommentar antworten. a) Sie räumen ein, dass das Veto-Recht der P5 als Schwachstelle des UNO Systems der kollektiven Sicherheit angesehen werden kann und begründen diese Aussage. b) Sie erklären aber auch Sinn und Zweck des Veto-Rechts und warum seine Statuierung in der UN-Charta bei der Gründung der Vereinten Nationen unerlässlich war. Antwort 3a) Veto-Recht der P5 als Schwäche des UNO Systems der kollektiven Sicherheit Veto-Recht (Art. 27 Abs. 3 UN-Charta) wurde und wird oft missbraucht faktisch über weite Strecken ein Instrument der P5, um eigene Interessen privilegiert durchzusetzen problematische Auswirkungen: Vertrauen in die Reaktionsfähigkeit des SR konnte gar nie richtig aufkommen; Entstehung der Tendenz zu eigenmächtiger Kompensation dieser Schwächen (Beispiele: NATO- Intervention im Kosovo, ECOMOG-Intervention der ECOWAS-Staaten in Liberia und Sierra Leone) 6 15 Prozent 6 3

Antwort 3b) Sinn und Zweck des Veto-Rechts o Förderung der Effektivität der UNO durch Erleichterung der Durchsetzung von SR Beschlüssen: verbindliche Beschlüsse des SR bedürfen der Zustimmung aller Grossmächte; Notwendigkeit der Aushandlung vorgesehener Massnahmen, bis alle massgebenden Akteure einverstanden sind o Verhinderung von Kriegen zwischen Grossmächten: Veto-Recht gewährleistet, dass Gewalt von der UNO nur mit dem Einverständnis aller Grossmächte ausgeht; Zusammensetzung der P5 entspricht heute aber nur noch teilweise den realen internationalen Machtverhältnissen Begründung der Unerlässlichkeit der Einführung des Veto-Rechts bei der Gründung der UNO: Gründung der UNO bedurfte der Zustimmung aller Staaten; Ziel: Schaffung einer universellen internationalen Organisation zur Sicherung des Weltfriedens mittels eines Systems der kollektiven Sicherheit mit allgemeinem Gewaltverbot und zentralisiertem Gewaltmonopol; ohne Gewährleistung eines Sonderrechts in Form des Veto- Rechts wären die Grossmächte nach dem 2. Weltkrieg nicht bereit gewesen, einem allgemeinen Gewaltverbot zuzustimmen 6 3 Frage 4 Der von Diktator D regierte kommunistische Staat X testet seit mehreren Jahren immer wieder Atomwaffen. In letzter Zeit nimmt die Frequenz der Tests zu. X prahlt seit Kurzem auch damit, über funktionsfähige Interkontinentalraketen zu verfügen. Sorgen macht der Weltgemeinschaft zudem die erratische Persönlichkeit des Diktators. Mehrfach wurde Staat X für seine Atomwaffentests vom Sicherheitsrat gerügt. D zeigt aber keine Einsicht. Der demokratische Staat Y hat sich bereits öfters kritisch gegenüber der Regierung von X geäussert. Er prangert vor allem Menschenrechtsverletzungen durch das Regime an, worauf D mehrfach drohte, Staat Y solle seine Provokationen einstellen, ansonsten mit Vergeltungsmassnahmen zu rechnen sei. Staat Y liegt auf einem anderen Kontinent als Staat X und fühlt sich durch die Bekanntmachung des erfolgreichen Tests einer Interkontinentalrakete direkt durch X bedroht. Er möchte daher gegen X vorgehen bevor es zu spät ist und erwägt einen militärischen Erstschlag. Mittels Bombardierung aus der Luft sollen die Fabriken, in denen X die Interkontinentalrakete herstellt, zerstört werden. 25 Prozent a) Würde der Plan von Staat Y das Gewaltverbot verletzen? b) Wie würde wohl der Präsident von Y die Rechtmässigkeit eines solchen Vorgehens rechtfertigen? 4

Antwort 4 a) Würde die Ausführung des Plans von Staat Y das Gewaltverbot verletzen? Gewaltverbot: Art. 2 Abs. 4 UN-Charta Gewaltanwendung i.s.v. Art. 2 Abs. 4 UN-Charta? Gewalt: Anwendung physischer Machtmittel; Mindestintensität vorausgesetzt; muss sich um Gewalt im Verhältnis zwischen Staaten handeln Bombardierung von Fabriken: Anwendung militärischer Gewalt von genügender Intensität; Territorium von X wäre von militärischer Gewalt aus Y betroffen Gewaltanwendung i.s.v. Art. 2 Abs. 4 UN-Charta wäre gegeben Rechtfertigung der Gewaltanwendung? o Bestehen eines Rechts auf Selbstverteidigung gemäss Art. 51 UN- Charta? Bewaffneter Angriff i.s. von Art. 51 UN-Charta? Anwendung von Waffengewalt von Mindestintensität im zwischenstaatlichen Verhältnis; wäre durch Einsatz von Atomwaffen gegen Staat Y gegeben Gegenwärtiger bewaffneter Angriff? Erst Drohungen ausgesprochen; noch kein Angriff; nicht gegeben o Bestehen eines Rechts auf präventive Selbstverteidigung? Wortlaut Art 51 UN-Charta: präventive Selbstverteidigung eher abzulehnen; nur bewaffneter Angriff, nicht bevorstehender bewaffneter Angriff aber: Caroline-Praxis: Bestehen eines Rechts auf Selbstverteidigung im Falle des Vorliegens einer imminenten Gefahr imminente Gefahr: [ ]a necessity of self-defence, that is instant, overwhelming, leaving no choice of means and no moment for deliberation [ ] ; Angriff muss zeitlich unmittelbar bevorstehen Caroline-Formel bei Schaffung der UN-Charta weithin akzeptiert Bericht UN-Generalsekretär In Larger Freedom (2005): bei einer imminenten Gefahr besteht ein Recht auf Selbstverteidigung 4 5 10 Recht auf präventive Selbstverteidigung gemäss Art. 51 UN- Charta im Falle des Vorliegens einer imminenten Gefahr i.s. eines unmittelbar bevorstehenden Angriffs anerkannt Besitz von Atomwaffen, Veröffentlichung erfolgreicher Raketentests und allgemeine Drohungen genügen aber nicht zur Annahme eines unmittelbar bevorstehenden Angriffs 5

o Bestehen eines Rechts auf präemptive Selbstverteidigung? Bush-Doktrin : Auffassung der USA seit 2002: Erfordernis einer imminenten Bedrohung immer noch zu restriktiv; auch im Fall einer zeitlich noch etwas weiter entfernten Bedrohung muss es ein Recht auf Zuvorkommen geben; Ausschalten der Möglichkeit, eines Angriffs Position der USA hochumstritten und nicht mehrheitsfähig Kein anerkanntes Recht auf präemptive Selbstverteidigung Fazit: Bombardierung der Fabriken würde das Gewaltverbot gem. Art. 2 Abs. 4 UN-Charta verletzen b) Wie würde wohl der Präsident von Y die Rechtmässigkeit eines solchen Vorgehens rechtfertigen? Bestehen eines Rechts auf präemptive Selbstverteidigung: Auslegung des Art. 51 UN-Charta mit Blick auf die Zunahme des Schadenspotentials moderner Waffen durch Technikentwicklung nicht mehr zeitgemäss; zu restriktiv; durch Technikentwicklung (z.b. Entwicklung von Atomwaffen) sind Schäden potentiell enorm; viel grösser als zur Zeit der Schaffung der UNO Selbstverteidigung muss erlaubt sein, solange sie überhaupt noch möglich ist; nicht erst dann, wenn es zu spät ist und keine Möglichkeit zur Reaktion mehr besteht; daher grosszügigere Handhabung der Voraussetzungen des Selbstverteidigungsrechts nötig, sodass präemptive Selbstverteidigung in einschlägigen Fällen möglich ist (Anlehnung an Bush-Doktrin ) Frage 5 6 35 Prozent In Staat A herrscht ein Bürgerkrieg zwischen Truppen der autoritären Regierung und mehreren Rebellengruppen, welche die Regierung stürzen wollen. Gestützt auf eine Kapitel VII-Ermächtigung des UN- Sicherheitsrates greift Staat B in den Konflikt ein und unterstützt die Rebellen militärisch. Strategisch wichtig ist die Küstenstadt K. Nachdem Luftangriffe durch B die Rebellen nicht in genügendem Masse unterstützen konnten, beschliesst B, Bodentruppen einzusetzen. In der Innenstadt von K stossen die Bodentruppen von B auf starken Widerstand der militärischen Streitkräfte von A. Eine Gruppe von etwa 200 A-Soldaten hat sich seit mehreren Tagen im Luxushotel The Meridian verschanzt und beschiesst von dort aus die Rebellen sowie die anrückenden Bodentruppen von B. Auf dem Dach des Hotels haben sie eine Luftabwehrkanone montiert. Ausser den Regierungssoldaten befinden sich noch ca. 80 Zivilisten in dem Hotel. Vier ausländische Journalisten, die sich ebenfalls im Hotel befinden, unterrichten die Truppen von B über Twitter, dass es sich bei den Zivilisten nicht um Regierungssympathisanten handelt, sondern lediglich um Personen, die im Hotel Schutz suchen. Die Truppen von B bitten die Journalisten, den Hotelgästen zu erklären, dass man das Hotel als militärisches Ziel ansehe, weshalb ihnen Gefahr 6

drohe. Kurz darauf erstürmt eine Spezialeinheit von B mit Erfolg das Hotel. Um die Gegner möglichst effektiv ausser Gefecht zu setzen und gleichzeitig die Zivilisten soweit als möglich zu schonen, setzen die Soldaten Betäubungsgas ein. Keiner der Zivilisten erleidet durch den Gaseinsatz gesundheitliche Schäden. Bei dem anschliessenden Schusswechsel verlieren aber neben 20 Soldaten von A auch 5 Zivilisten das Leben. Hat Staat B bei der Erstürmung des Hotels The Meridian Bestimmungen des humanitären Völkerrechts verletzt? Vermerk: Staat A und B sind Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen sowie Vertragsparteien der Genfer Abkommen von 1949 sowie aller Zusatzprotokolle. Antwort 5 Hat Staat B bei der Erstürmung des Hotels The Meridian Bestimmungen des humanitären Völkerrechts verletzt? A) Anwendbarkeit der Regeln des Humanitären Völkerrechts Welche Normen sind anwendbar? ZP I? Anwendbarkeit des ZP I bedingt gem. Art. 1 Abs. 3 ZP I i.v.m. Art. 2 Abs. 1 GK I-IV, dass zwischen Vertragsparteien ein internationaler bewaffneter Konflikt vorliegt Vertragsparteien? I.c. sind A und B Vertragsparteien des ZP I internationaler bewaffneter Konflikt (ibk)? o ibk: GK enthalten keine Definition; Praxis: jeder Einsatz von Streitkräften gegen das Territorium eines anderen Staates o B hat seine Streitkräfte gegen Staat A eingesetzt (Luftangriffe und Bodenkampf); im Verhältnis B zu A daher ibk gegeben Fazit: ZP I ist anwendbar. B) Normverstoß I. Verstoß gegen das Unterscheidungsgebot (Art. 48 ZP 1)? Es muss zwischen Zivilbevölkerung und Kombattanten sowie zwischen zivilen Objekten und militärischen Zielen unterschieden werden; Kriegshandlungen dürfen sich nur gegen militärische Ziele richten 1. Angriff auf das Hotel Unerlaubter Angriff auf ein ziviles Objekt? Art. 52 Abs. 1 ZP I: ziviles Objekt darf nicht Ziel eines militärischen Angriffs sein; Begriff des zivilen Objekts umfasst alle Objekte, die nicht militärische Ziele sind Hotel als militärisches Ziel? Militärisches Ziel gem. Art. 52 Abs. 2 ZP I: wirksamer Beitrag zu militärischen Handlungen des Gegners; gänzliche oder teilweise Zerstörung bringt einen eindeutigen militärischen Vorteil 3.5 2 8 7

Hotels sind an sich keine militärischen Einrichtungen; Art. 52 Abs. 3 ZP I: Vermutung, dass ein normalerweise für zivile Zwecke benutztes Gebäude nicht für militärische Zwecke verwendet wird und deshalb kein militärisches Ziel darstellt Luftabwehrkanone installiert, 200 Soldaten beschiessen gegnerische Truppen vom Hotel aus: wirksamer Beitrag zu militärischen Handlungen des Gegners gegeben; K ist eine strategisch wichtige Küstenstadt: Eroberung wäre ein eindeutiger militärischer Vorteil für Staat B; Hotel ist daher ein militärisches Ziel i.s.v. Art. 52 Abs. 2 ZP I Fazit: kein gemäss Art. 52 Abs. 1 ZP I unerlaubter Angriff auf ein ziviles Objekt 2. Angriff auf die Menschen im Hotel Unerlaubter Angriff auf Zivilpersonen? Zivilpersonen dürfen nicht Ziel von Angriffen sein (Art. 51 Abs. 2 ZP I) Menschen im Hotel als Zivilpersonen? Zivilpersonen: 50 Abs. 1 ZP I im Hotel: Regierungssoldaten und schutzsuchende Zivilisten o Regierungssoldaten: Angehörige der Streitkräfte; daher Kombattanten (Art. 43 ZP I); keine Zivilpersonen i.s.v. Art. 50 Abs. 1 ZP I o schutzsuchende Zivilisten: keine Kombattanten; daher Zivilpersonen i.s.v. 50 Abs. 1 ZP I Verlust des Zivilpersonen gewährten Schutzes? Zivilpersonen verlieren den Schutz, wenn und solange sie unmittelbar an Feindseligkeiten teilnehmen (Art. 51 Abs. 3 ZP 1) Zivilisten im Hotel verhalten sich passiv (nur Schutzsuche; sind nicht einmal Sympathisanten); für die Teilnahme an Feindseligkeiten notwendige Schädigungsschwelle nicht überschritten; Schutz nicht aufgehoben Angriff? Nur Regierungssoldaten werden angegriffen; gezieltes Angreifen der Zivilisten geht aus SV nicht hervor 8 Fazit: kein unerlaubter Angriff auf Zivilpersonen i.s.v. Art. 51 Abs. 2 ZP I II. Verbotene Angriffsmittel und -methoden 1. Einsatz des Betäubungsgases Betäubungsgas als unterschiedslos wirkende Waffe gem. Art. 51 Abs. 4 lit. c ZP I? Hier gerade Schonung der Zivilisten durch nicht letales Mittel bezweckt; Verstoss daher eher abzulehnen; a.a. vertretbar (Argumentation entscheidend) 11.5 8

2. Tötung von 5 Zivilisten Getötete Zivilpersonen als übermässiger Kollateralschaden i.s.v. Art. 51 Abs. 5 lit. b ZP I? Art. 51 Abs. 5 lit. b ZP I: erwartete Verluste an zivilen Menschenleben und Ausmass der Zerstörung an ziviler Infrastruktur müssen in annehmbaren Verhältnis zum militärischen Wert des angestrebten Erfolgs stehen und im Hinblick auf die militärische Bedeutung unvermeidbar sein; Prognose ex ante ausschlaggebend (erwarteter militärischer Vorteil, erwartetes Risiko für Menschenleben) Eroberung des Hotels: strategisch äusserst wichtiger Posten; 200 Soldaten; hoher militärischer Wert Verlust an zivilen Menschenleben: gewähltes Einsatzmittel (Betäubungsgas) und Einsatztruppe (Spezialeinheit) lassen wenige zivile Opfer erwarten (tatsächlich 5 getötet) Fazit: Tod der 5 Zivilisten nicht als unverhältnismässiger Kollateralschaden zu werten; daher kein Verstoss gegen Art. 51 Abs. 5 lit. b ZP I; a.a. vertretbar (Argumentation entscheidend) 3. Warnung per Twitter Warnung per Twitter als unwirksame Warnung gem. Art. 57 Abs. 2 lit. c ZP I? Warnung nötig (ausser bei für Erzielung des militärischen Erfolges notwendigem Überraschungsangriff ); auch über inoffizielle Kanäle möglich (Frage der Wirksamkeit) I.c. Warnung per Twitter grundsätzlich ausreichend; Erstürmung kurz darauf problematisch: evtl. keine Zeit, um zu fliehen; Panik/Massenflucht soll vermieden werden Fazit: Verstoss gegen Art. 57 Abs. 2 lit. c ZP I wohl abzulehnen; a.a. vertretbar (Argumentation entscheidend) C. Ergebnis Der Angriff auf das Hotel hat gegen keine Normen des humanitären Völkerrechts verstossen; a.a. vertretbar (Argumentation entscheidend) 2 Formpunkte : Qualität der Argumentation und Struktur 9