Qualitätsmessung in der Psychiatrie - Beispiel Depressionen



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E l k e J o n e k B e u t l e r

Transkript:

Qualitätsmessung in der Psychiatrie - Beispiel Depressionen Uwe Herwig Psychiatrische Universitätsklinik Zürich

Subjektive Wahrnehmung Adelson/MIT

Fall Frau K., 32 J., Einweisung gegen den Willen bei akuter Suizidalität nach Suizidversuch mit Tabletten und Alkohol, dritte stationäre Aufnahme. Depressions-Score HAM-D 27 (mittelschwere Depression). Seit Monaten stimmungsgedrückt, kein akuter Auslöser, Gewichtsverlust 3 kg. Chronische Konflikte am Arbeitsplatz als Bankangestellte. Hatte sich 6 Wochen zuvor von Partner getrennt, jetzt Schuldgefühle. Therapien: Alkoholentzung, Antidepressiva, Psychotherapie, Psychoedukationgruppe Aufenthaltsdauer 27 d, Entlassung nach Hause in ambulante Behandlung, 100% arbeitsunfähig. HAM-D = 16 im oberen leicht depressiven Bereich.

Depression WHO-Report 2001: Durch Erkrankung beeinträchtigte Lebensjahre in Prozent

Diagnostik der Depression Keine diagnostisch relevante Pathophysiologie Somatische Diagnostik = Ausschlussdiagnostik Psychopathologie

Psychopathologie Kernsymptome Depressive Verstimmung Antriebsstörung und Erschöpfbarkeit Anhedonie, Freud- und Interesseverlust sowie: Kognitive und psychomotorische Störungen Grübeln, Hoffnungslosigkeit, Wahnideen Schuldgefühle, Selbstwertstörung, Suizidalität Schlaf-, Appetit-, Libido-Störung, weitere vegetative und somatische Symptome Sozialer Rückzug

Diagnosehäufigkeit versus Prävalenz Prävalenz der Bipolar-I- und Bipolar-II-Störung 3,4%* / 3,7% Korrekt als bipolar erkrankt diagnostiziert 20% Als unipolar depressiv fehldiagnostiziert 31% Weder als bipolar noch als unipolar depressiv diagnostiziert 49% Screening in den USA mittels Mood Disorders Questionnaire (n=125000): retour 66,8% Hirschfeld et al. J Clin Psychiatry 2003

Behandlung der Depression Psychotherapie, Medikamente, soziale Unterstützung Substanzielle Therapieresistenz (15-30%) Seit einem halben Jahrhundert: Kein neues antidepressives Verfahren etabliert Hohe Rezidiv- und Chronifizierungsraten Hohe Arbeitsausfallrate, Invalidität

Messen der Depressivität Selbstratings Fremdratings Keine objektivierbaren Kriterien

Qualität Struktur-Qualität Psychiatrische Versorgung Prozess-Qualität Diagnostik und Behandlung Ergebnis-Qualität Wirksamkeit und Zufriedenheit

Struktur-Qualität zeitlich relativ konstante Charakteristika des Systems der medizinischen Versorgung umfasst Gesamtheit der gesundheitspolitischen, organisatorischen, finanziellen, baulichräumlichen, apparativen und personellen Ressourcen notwendig, ausreichend, zweckmässig Fragen: Was ist bedarfsgerechte Versorgung Sichtweisen Interessengruppen Patienten, Angehörige, Zuweiser berücksichtigt Ressourceneinsatz versus Nutzen

Prozess-Qualität Abläufe bezogen auf Auswahl, Durchführung und Erstellung von Dienstleistungen Leitlinien und Standards Operationalisierte Diagnostik Diagnose-Klassifikationen Behandlungsleitlinien Behandlungsalgorithmen Organisations-Massnahmen CIRS, Klinik-Standards und -Normen, Dokumentenlenkung, Einführung Qualitätskommission, Prozessbeschreibungen, Schulungen, BSC

Ergebnis-Qualität Summe der Wahrnehmungen und Messungen Medizinisches Ergebnis Symptombesserung Befindlichkeit Gesundheitsbezogene und soziale Lebensqualität Lebenspraxis Soziale Faktoren Kunden-/Patientenzufriedenheit Beziehung Vertrauen ( ich komme wieder ) Gesamtgesellschaftliche Ebene Wirtschaftliches Ergebnis

Indikatoren Ergebnis-Qualität Klinische und soziale Ebene Depressions-Grad HAM-D (Hamilton Rating Scale for Depression) Psychopathologische Syndrome AMDP (Arbeitsgemeinschaft für Methodik und Diagnostik in der Psychiatrie) SCL-90 (Symptom Checklist, 90 Items) Allgemeiner Schweregrad der Erkrankung CGI (Clinical Global Impression) Psychosoziales Funktionsniveau GAF (Global Assessment of Function) Allgemeine klinische und soziale Entwicklung OQ-45 (Outcome Questionnaire mit 45 Items) Symptomatische Belastung, Zwischenmenschliche Beziehungen, Soziale Integration

HAM-D Hamilton Depression Rating Scale for Depression Fremdrating Depressive Symptome Ermittlung Schweregrad Verlaufsindikator

Indikator klinische Besserung

OQ-45 Outcome Questionnaire Selbstrating Vor-/ nach Behandlung Symptombelastung Zwischenmenschliche Beziehungen Soziale Integration

Indikatoren Ergebnis-Qualität Kunden-/Patientenzufriedenheit ZüPaZ Zugang zum System Respekt und würdevolle Behandlung Koordination Information, Kommunikation Mitbestimmung Behandlungserfolg Körperliches Wohlbefinden Emotionale Unterstützung Einbeziehung Angehörige Kontinuität Bezugspersonen Zuweiser-Zufriedenheit Wesentlich: Messmethoden Erhebungsart Erhebungsort- und Beurteilungs- oder Beobachtungsfragen Klinik Hohenegg, DGPPN 2008

Indikatoren Ergebnis-Qualität Gesellschaftlich/wirtschaftlich Erst-/Rehospitalisationen Suizidrate Tage Arbeitsunfähigkeit Invalidisierungen Kosten-/Nutzen-Rechnungen

Indikator Suizidrate

Qualitätsmessung bei Depressivität Qualitätsmessung: Messfühler können Bias aufweisen Sowohl Ebene Patient und Behandler Wie auch in Studien Prävalenz major Depression: Epidemiological Catchment Area Study (ECA) 4,2% National Comorbidity Survey (NCS) 10,1% Regier et al. 1998

Eigenheiten Qualitätsmessung in der Psychiatrie Qualitätsmessung bei Soft -Kriterien, subjektive Einschätzungen? Schwankungen in objektiven Erhebungen (z.b. Depression 4.2 10.1.%)? Manie, Wahn, Depressiver Verstimmung?

Eigenheiten Qualitätsmessung in der Psychiatrie Qualitätsmessung bei Psychotherapie? Fehlendem Standard -Verlauf mit individuell unvorhersagbarer Krankheitsdauer? Krankheitsimmanenten rezidivierenden und chronischen Verläufen?

Eigenheiten Qualitätsmessung in der Psychiatrie Qualitätsmessung bei Unfreiwilliger Zuweisung, Zwangsmassnahmen oder gar Massnahmevollzug? Einschätzung durch die zu Beurteilenden (Fremdratings durch Behandler, Bias)? Krankheitsfremden, strukturellen Faktoren auf Aufenthaltsdauer (Wohnsituation etc.)? Nicht nur medizinischem Handlungsbedarf, auch sozial-strukturellem Versorgungsbedarf?

Eigenheiten Qualitätsmessung in der Psychiatrie Qualitätsmessung bei Zu Realität divergierender Anspruchshaltung und Einstellung ( bloss keine Medikamente )? Damit auch Konflikt zu anderen Interessen (Arbeitgeber, Angehörige)? Divergenz Zielsetzung psychiatrischer Behandlung Ziele des Patienten Ziele Angehöriger? Divergenz Sicherheitsbedürfnis Gesellschaft Autonomiebedürfnis des Individuums?

Probleme Qualitätserbringung in der Psychiatrie Fehlender Nachwuchs Wissensdefizite Vorbehalte Ressourcenknappheit

Aktuelle Qualitäts-Projekte Psycrec-KTR Teilnahme Psychiatrische Kliniken Kanton Zürich Outcome Ratings OQ-45, CGI, GAF, AMDP Benchmarking Psychiatrische Universitätskliniken Deutschschweiz

Massnahmen: aktuelle Qualitäts-Projekte KIQ-Projekt Mind. 12 Kliniken Erwachsenenpsychiatrie Depression HAM-D, Schizophrenie BPRS Outcome Selbstrating OQ-45 Implementierung Qualitätssicherung Zertifizierung nach EFQM Einführung Kontrollsysteme wie BSC

Zusammenfassung und Schlussfolgerungen Wesentlicher Anteil an Schwierigkeiten der Qualitätserbringung bei Einstellung der Betroffenen, Behandler, Gesellschaft Wissensstand der Betroffenen und der Gesellschaft über psychische Erkrankungen und Psychohygiene Individuell schwer vorhersagbarem Verlauf, Therapieerfolg, Ressourcenverbrauch Nachsorgenden nicht-medizinischen Strukturen (betreutes Wohnen, Supported Employment) Zugang zu und Anwendung von Fachwissen Implikationen für Ressourcen-Zuteilung Finanzierungsfragen

Strategische Massnahmen Forschung, insb. Neurobiologie Spezifische Diagnostik Differenzierte personalisierte Behandlung Diversifizierte, dezentrale Angebote Lückenlose Behandlungs- und Betreuungskette

Strategische Massnahmen Behandlungsevaluation Fallpauschalierung/DRG? Aus-, Fort-, Weiterbildung Nachwuchssicherung Primärprävention Psychoedukation

Vielen Dank uwe.herwig@puk.zh.ch