Sozialdarwinismus im wilhelminischen Kaiserreich



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Transkript:

Sozialdarwinismus im wilhelminischen Kaiserreich Umgang mit Determinismen und den Ideen der Weltreichslehre in den Reichstagsdebatten von Johannes Kircher Erstauflage Diplomica Verlag 2015 Verlag C.H. Beck im Internet: www.beck.de ISBN 978 3 95850 865 1 schnell und portofrei erhältlich bei beck-shop.de DIE FACHBUCHHANDLUNG

Leseprobe Textprobe: Kapitel 1, Einleitung: 1.1, Einführung in die Thematik: In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte Charles Darwin Theorien, die weit über die biologischen Grenzen hinweg Beachtung fanden. Theoretiker nahmen Darwins Selektionstheorien und wendeten sie auf sozio-kulturelle Zustände an, welches einen Biologismus darstellte. Sie verkannten dabei Darwins Theorien als Naturgesetze, unterwarfen das menschliche Leben darunter und erschufen so den Sozialdarwinismus. Durch die Erfolge in den Naturwissenschaften, bei denen allgemeingültige Gesetze gefunden und vor allem während der Industrialisierung erfolgreich eingesetzt wurden, schienen solche Gesetzmäßigkeiten auch für die Gesellschaft zu gelten. Dadurch entstanden Determinismen, da man wie bei einem Naturgesetz versuchte zu erklären, dass gewisse Ereignisse eintreten müssen, wenn gewisse Vorbedingungen vorhanden waren. In dieser Zeit, in der sich diese Ideen entwickelten und verfestigten fiel die Wilhelmnische Epoche, die vor allem durch außenpolitische Entscheidungen geprägt wurden. Das Deutsche Kaiserreich, in einer nationalen Hochstimmung 1871, nach drei Einigungskriegen im Spiegelsaal zu Versailles gegründet und von Bismarck danach konsolidiert, erlebte mit der Thronbesteigung von Kaiser Wilhelm II. 1888 und der Abdankung Bismarcks 1890 einen außenpolitischen Kurswechsel hin zum Imperialismus. Der Kolonialerwerb stand weit oben auf der politischen Agenda und wurde mit viel Nachdruck verfolgt. Ein weiteres vorherrschendes politisches Thema war der Aufbau einer großen Flotte, mit dem Ziel dem Deutschen Reich einen Weltmachtstatus zu verleihen. Vor allem die zweite Marokkokrise mit der Entsendung des Kanonenbootes Panther nach Agadir stand sinnbildlich für den Versuch der Regierung um Kaiser Wilhelm II. deutsche Machtinteressen zu verteidigen, auch auf Kosten von internationalen Spannungen. Dem Reichstag fiel die Rolle zu, die Gesetzesvorlagen der Regierung zu besprechen, zu verabschieden oder abzulehnen. Auf dieser Grundlage werden in dieser Arbeit anhand der Reichstagsprotokolle ausgewählte Debatten während der wilhelminischen Epoche unter folgenden Fragestellungen untersucht: Waren biologistische Determinismen, Sozialdarwinismus und Ideen der Weltreichslehre in Reden der Abgeordneten vorhanden? Kann man aus den Protokollen erschließen, dass alle Redner von diesen Ideen überzeugt waren? Oder gab es Parteien und Abgeordnete, die sich grundsätzlich diesen Ideen verweigert haben? Wenn ein Abgeordneter sich im Sinne dieser Ideen geäußert hat, geschah dies in direkter Weise oder mit Umschreibungen, um seine Gesinnung zu verbergen? 1.2, Aufbau der Arbeit: Zunächst wird in dieser Arbeit das politische System des Deutschen Kaiserreichs genauer betrachtet. Darin wird ergründet welche Machtzentren im Deutschen Reich vorhanden waren und

welche Rolle dabei dem Reichstag zufiel. Die zu dieser Zeit vorherrschenden wichtigen Parteien werden daraufhin kurz charakterisiert und es wird beschrieben, welche politische Grundhaltung sie verfolgten. Im Kapitel ideelle Grundlagen wird detailliert erläutert, was die Begriffe Biologismus, Determinismus, Sozialdarwinismus und Weltreichslehre bedeuten. Beginnend mit dem biologistischen Determinismus wird erörtert, wie er entstanden ist und versucht wurde, das menschliche Leben einem Gesetz zu unterwerfen, um die damaligen sozio-kulturellen Zustände zu erklären. Beim Sozialdarwinismus werden die drei Grundthesen beschrieben, die ihn auszeichnen und beschreiben. Dabei ist die Rolle des Erbguts hervorzuheben, welches ein zentraler Bestandteil des Sozialdarwinismus darstellt. Daraufhin werden wichtige zeitgenössische Sozialdarwinisten aus dem deutschen Kaiserreich beschrieben und erläutert, welche Ideen und Theorien sie verfolgten. Als weitere ideelle Grundlage wird die Weltreichslehre angeführt, die als außenpolitische Erweiterung des Sozialdarwinismus zu verstehen ist. Dabei wird beschrieben, was eine Weltmacht im damaligen Sinne ausmachte und wie das Deutsche Reich versuchte als eine Weltmacht verstanden zu werden. Des Weiteren wird eruiert wie der Kampf ums Dasein in internationalen Beziehungen verstanden wurde und welche Faktoren für einen erfolgreichen Existenzkampf im Sinne der Weltreichslehre ausschlaggebend waren. Das Kernelement dieser Arbeit bildet die Untersuchung von insgesamt fünf Reichstagsdebatten unter Berücksichtigung der ideellen Grundlagen. Die erste Debatte handelt von einer Generaldiskussion über den Reichshaushaltsetat von 1897/1898 mit der Spezialisierung der Anleihen für das Heer, die Marine und die Reichseisenbahn. In der folgenden Debatte vom Dezember 1897 wurde das erste Flottengesetz diskutiert, welches zum Ziel hatte, eine Hochseeflotte zu gründen. Die Diskussion vom Dezember 1898 hatte den Zweck über den Haushalt für 1899 zu debattieren. Da die Abgeordneten nicht nur über finanzielle Sachverhalte gesprochen haben, wird diese Debatte auf Aussagen hinsichtlich des spanisch-amerikanischen Krieges überprüft, welcher im Sommer zuvor stattgefunden hat. Die darauffolgende untersuchte Debatte vom Februar 1900 behandelte eine Neuauflage des Gesetzes, deren Diskussion in der zweiten Debatte dieser Arbeit untersucht wurde und eine Verdopplung der künftigen Flotte vorsah. Den Schluss der Untersuchung von Reichstagsdebatten bildet eine Diskussion über das deutschfranzösische Abkommen, welches aus der zweiten Marokkokrise hervorging und den Abgeordneten zur Debatte ausgegeben wurde, um im Reichstag darüber debattieren zu können. 1.3, Überblick über den aktuellen Forschungsstand: Einen sehr guten Überblick über die Geschichte des Deutschen Kaiserreichs bieten die Standardwerke von Thomas Nipperdey und Hans- Ulrich Wehler. Die Parteiengeschichte während des Reichstags decken die Bücher von Roland Vocke und Hans Fenske sehr gut ab und erlauben einen detaillierten Einblick in die politische Arbeit der Parteien. Spezifische Literatur zum Thema biologistischer Determinismus im Kaiserreich ist nicht vorhanden. Weiter ist der Determinismus im historischen Sinne kaum belegt. Um sich dessen ungeachtet einen Überblick über diese Thematik zu verschaffen, ist das Buch von Ingo Harms, der Aufsatz von Hans Schleier, sowie der Lexikoneintrag in der Enzyklopädie Philosophie und

Wissenschaftstheorie unerlässlich. Um dem Sozialdarwinismus näher zu kommen, ist das Buch Der Sozialdarwinismus von Hannsjoachim Koch eine sehr gute Quelle. Das Buch von Peter Emil Becker Wege ins dritte Reich gibt, zum Teil unübersichtlich, Einsicht in sozialdarwinistisches Denken und bietet biografisches Material zu bedeutenden Sozialdarwinisten. Im Bereich der Weltreichslehre ist das Werk Weltmacht oder Untergang von Sönke Neitzel das Standardwerk. Übersichtlich und detailliert hält dieses Buch Informationen über die vielen Facetten der Weltreichslehre bereit und beeindruckt mit der vielfältigen Verarbeitung von Primärquellen. Alle Reichstagsprotokolle sind in eigescannter Form online abrufbar und auch zum Download bereitgestellt. Des Weiteren bietet diese Plattform eine Suchmaske an, deren Ergebnisse zum Teil ungenau und unvollständig sind, aber dennoch eine neue Qualität der wissenschaftlichen Arbeit ermöglicht. Die Forschungsrelevanz dieser Arbeit liegt in der fehlenden Literatur, die sich mit biologistischen Determinismen, Sozialdarwinismus oder der Weltreichslehre in Reichstagsdebatten der wilhelminischen Kaiserzeit beschäftigt. Die Forschung konzentrierte sich vor allem auf den Imperialismus des Kaiserreichs und erst in den letzten Jahren ging sie der Frage nach, welche tiefergehenden Ideen und Konzepte zu dieser Außenpolitik geführt haben. Die Reichstagsprotokolle dienen dabei als ein reichhaltiger Fundus, diesen Ideen auf den Grund zu gehen und sich ein Bild über die ideellen Vorstellungen der Personen innerhalb des politischen Systems des Kaiserreichs zu machen. 2, Das politische System des Deutschen Kaiserreichs: 2.1, Das Machtgefüge im deutschen Kaiserreich: Die Reichsgründung erfolgte am 18. Januar 1871 im Spiegelsaal zu Versailles mit der Krönung des preußischen Königs Wilhelm I. zum deutschen Kaiser. Der neue Staat war Bundesstaat, konstitutioneller Verfassungsstaat und Nationalstaat. Nach Wehler bestand das Herrschaftssystem des deutschen Kaiserreichs aus fünf Machtzentren: Kanzler, Monarchie, Bürokratie, Reichstag und Militär. Dem Reichskanzler fiel eine wichtige politische Bedeutung zu. Dieser wurde vom deutschen Kaiser benannt und war auch nur ihm Rechenschaft schuldig. Nach der Verfassung musste der Reichskanzler Regierungshandlungen vom Monarchen gegenzeichnen lassen, welcher die exekutive Gewalt inne hatte. Die Kabinettsmitglieder des Reichskanzlers wurden von ihm und dem deutschen Kaiser ernannt und erlassen. Das Militär war vom Parlament unabhängig und stand unter Befehlsgewalt des deutschen Kaisers. Dadurch entstand der Nukleus des deutschen Konstitutionalismus. Der Monarch und seine Beraterstäbe bildeten mit ihrer spätfeudalistisch-personalistischen Entscheidungskompetenz ein Machtzentrum bis zum Ende des Deutschen Kaiserreichs. Das Militärkabinett, welches ein Expertenstab darstellte, arbeitete dem deutschen Kaiser zu und regelte die Bewältigung der militärischen Aufgaben. Dieser, außerhalb der parlamentarischen Kontrolle, agierende Machtfaktor erhielt unter Kaiser Wilhelm II. eine Aufwertung. Durch die massive militärische Aufrüstung wanderte immer mehr militärische wie allgemeine Macht zu diesem Gremium. Der Monarch

bewegte sich durch die militärische wie institutionelle Absicherung in einem eigenen Machtzentrum. Selbst Bismarck musste sich dem Vetorecht des Kaisers beugen und Wilhelm II. nutzte die ihm nach der Verfassung verbrieften Rechte aus, um Bismarck aus dem Amt zu drängen. Mit der Gründung des Deutschen Kaiserreichs entstand keine neue Bürokratie, da sie schon vorhanden war und eng mit der herrschenden Klasse kooperierte. Sie war aber nicht nur ein willfähriges Exekutivorgan, sondern machte ihren Einfluss geltend, beruhend auf ihrer Sachkunde, Erfahrung und traditionellem Selbstbewusstsein. Der Reichstag stand gegenüber dem Monarchen und die von ihm berufenen Kanzler und ihrer Regierung. Das Parlament wurde mit einem freien und gleichen Wahlrecht gewählt, bei der alle Männer über 25 Jahre wählen konnten. Empfänger von Armenunterstützung und Frauen waren von der Wahl ausgeschlossen. Der Reichstag war an der Gesetzgebung beteiligt. Dies bedeutete, dass ohne ihn keine Gesetze verabschiedet werden konnten. Die Regierung war auf eine Mehrheit im Parlament angewiesen um Gesetze zu erlassen. Dadurch erlangte es ein erhebliches politisches Gewicht innerhalb des Deutschen Kaiserreichs. Diese Stellung wurde aber mehrfach geschwächt. Der Kaiser und der Bundesrat konnten den Reichstag einberufen und wieder auflösen. Die Mehrheitspartei konnte die Regierung nicht stellen und der Bundesrat war mit den Regierungen institutionalisiert verbündet. In der Stellung im Machtgefüge des Deutschen Reiches hatte der Reichstag dennoch eine wichtige Position inne. Durch das allgemeine Wahlrecht ergab sich eine Massenmobilisierung bei den Wahlen. Lag die Wahlbeteiligung 1871 zunächst bei 51 %, ist sie bis 1912 auf 85% gestiegen. Gesellschaftliche Interessen wurden dabei von Parteien und Verbänden gebündelt und im Reichstag massiv eingebracht. Der Reichstag wurde zu einer Arena, in der politische Theorien und Strömungen, welche im Deutschen Reich vorherrschten, eingebracht und diskutiert wurden, was man anhand der Reichstagsprotokolle sehen kann. Jedoch nutzten die Parlamentarier die ihnen eröffneten Machtchancen nicht eine weitere Parlamentarisierung voran zu treiben. Sie scheuten den existenziellen Konflikt um eine Gewichtsverschiebung innerhalb des Machtgefüges. Neben dem Parlament und der Regierung war das Militär eine tragende Säule des Deutschen Kaiserreiches. In der Verfassung hatte es eine eigene Stellung inne und war Instrument aller Sicherheits- und aller Weltmachtspolitik. Durch die erfolgreichen drei Einigungskriege genoss das Militär bei der Bevölkerung hohes Ansehen und sein Verhaltens- und Ehrenkodex strahlte bis in die Gesellschaft hinein. Vor allem in der wilhelminischen Epoche war in der öffentlichen Meinung und privatem Verhalten ein starker Militarismus verankert, wie das zu dieser Zeit nirgendwo sonst der Fall war.