Genetische Diagnostik in der Risikogesellschaft



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Dr. Thomas Lemke Bergische Universität Gesamthochschule Wuppertal Fachbereich Gesellschaftswissenschaften Gaußstraße 20 42097 Wuppertal Beschreibung des geplanten Forschungsvorhabens zum Thema: Genetische Diagnostik in der Risikogesellschaft 1. Zusammenfassung des Forschungsvorhabens Gegenstand des Forschungsprojekts ist eine soziologische Untersuchung der Konstruktion genetischer Risiken. Die empirische These lautet, dass die möglichen diskriminierenden bzw. selegierenden Effekte gendiagnostischer Verfahren sich weniger in Begriffen eines genetischen Determinismus beschreiben lassen; vielmehr besteht ihre soziale Bedeutung vor allem in der Eröffnung von Interventionsräumen und der Entwicklung von Strategien zur Vermeidung oder Minimierung von Risiken. Dieser These soll anhand einer materialen Untersuchung der sozialen und institutionellen Konsequenzen des Einsatzes von Gentests vornehmlich im Versicherungswesen nachgegangen werden. Theoretisch knüpft die Untersuchung an das Konzept der Gouvernementalität von Michel Foucault an. Ziel des Forschungsprojekts ist es, dessen möglichen Beitrag zu einer theoretischen Präzisierung und empirischen Konkretisierung risikosoziologischer Problemstellungen zu überprüfen.

2. Gegenstand und Forschungsprogramm (Kurzfassung) Trotz der weit reichenden technischen Möglichkeiten von Genomanalyse und genetischer Diagnostik befindet sich die öffentliche Auseinandersetzung um ihre möglichen sozialen Folgen und ethischen Implikationen noch am Anfang. Von zentraler Bedeutung ist dabei die Angst vor einer Neuauflage oder einer Rückkehr eugenischer Projekte. Viele Kritiker der humangenetischen Praktiken sehen diese in einer Kontinuität zu den bevölkerungspolitischen, sozialhygienischen und rassistischen Programmen, wie sie in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts am radikalsten (oder besser: am brutalsten) im Nationalsozialismus umgesetzt wurden. In dieser Perspektive wird die Auffassung vertreten, dass die eigentliche Bedeutung des Humangenomprojekts weniger in möglichen neuen biologischen Erkenntnissen oder medizinischen Therapien liegt, sondern vielmehr in dem Wiederaufleben eines genetischen Determinismus, der schon in der Vergangenheit als Erklärungsmodell für jede Form von sozialer und individueller Variabilität diente. In der Regel wird dabei das gesellschaftspolitische Potenzial der Genomanalyse in der Ersetzung sozialer durch gentechnische Lösungen (U. Beck 1988, S. 43) und einer Genetifizierung (Lippman 1991, S. 19) der Gesellschaft gesehen. Die Kritik konzentriert sich auf die Illusion (Procter 1992, S. 82), biologische, psychologische und soziale Differenzen zwischen Individuen auf die Unterschiede in ihrer DNA zurückzuführen und warnt vor einen Genfatalismus (Assheuer 2000), der das Prinzip der Selbstbestimmung durch das Schicksal der Gene ersetzt und individuelle Entscheidungen als Resultat genetischer Bestimmungsfaktoren betrachtet. Ich möchte in diesem Forschungsprojekt eine andere Analyserichtung einschlagen und der These nachgehen, dass die gesellschaftliche Sprengkraft genetischer Information (Nelkin 1995) nicht in der Kontinuität eines genetischen Determinismus, in der Ableitung individueller und sozialer Phänomene aus dem Genotyp liegt, sondern vor allem in der Konstruktion genetischer Risiken. Dieser Annahme zufolge zielen die Analysemethoden und Verfahren der genetischen Diagnostik gerade nicht auf die Produktion eindeutiger Kausalketten oder die Reduktion aller möglichen Sachverhalte auf das Genom, sondern auf die Steuerung von Wahrscheinlichkeiten, Möglichkeiten und Erwartungen, wobei sie sich nicht am Modell der Determination, sondern am Modus der Disposition orientieren. Es ist so die hier verfolgte These erst diese relative Offenheit eines Risikodispositivs, das innerhalb des humangenetischen Diskurses den Appell an Autonomie und Eigenverantwortung ermöglicht: Statt kollektives Schicksal zu sein werden die Gene heute 2

immer mehr unter der Perspektive individueller Potenziale betrachtet, sie sind immer weniger Bestandteil einer biologischen Vererbung als Element von sozialen Strategien, die auf eine Optimierung des persönlichen Humankapitals und der Lebensqualität zielen. Dieser Fragestellung wird in drei Untersuchungsdimensionen Wahrheitsprogramm, Machtstrategie und Selbsttechnologie nachgegangen, die sich an Michel Foucaults Konzept der Gouvernementalität anlehnen. Dabei soll es jedoch nicht um einfach um eine theoretische Bestätigung oder empirische Unterfütterung der Perspektive der Gouvernementalität gehen, sondern um deren Ergänzung und Korrektur durch die Aufnahme risikosoziologischer, wissenschaftstheoretischer und diskursanalytischer Konzepte. Die analytische Differenzierung stellt zugleich eine inhaltliche Struktur und das Gliederungsprinzip der Arbeit dar, die somit aus drei Teilabschnitten besteht. Im ersten Teil wird die Genetifizierung der Gesellschaft als ein Wahrheitsprogramm untersucht. Statt die theoretischen Vorannahmen der Molekulargenetik mit der wirklichen Wirklichkeit, d.h. den biochemischen Naturgesetzen zu konfrontieren, soll es hier um die soziale Wirksamkeit dieser Ideologie gehen. Daher wird in diesem Teil nicht der eventuelle fantasmatische Gehalt oder der reduktionistische Charakter der Molekulargenetik aufgedeckt dazu liegen bereits eine Reihe wichtiger Arbeiten vor (s. Lewontin 1991; S. Rose 2000), sondern das Genparadigma als ein Wahrheitsprogramm analysiert werden, das ein epistemologisches Feld des Sichtbaren und Sagbaren organisiert und die Bedingungen des Wahren wie des Falschen spezifiziert. Anhand der Sichtung und Auswertung biowissenschaftlicher Fachpublikationen und auf der Grundlage von Ergebnissen wissenschaftshistorischer und -soziologischer sowie kulturanthropologischer Studien soll untersucht werden, wie sich im humangenetischen Diskurs Repräsentationen von Individuum und Gesellschaft, Natur und Technologie seit der Einführung der Gentechnologie verschoben haben und welche Bedeutung in diesem Zusammenhang der Risikosemantik zukommt. Konkret sollen in diesem Teil drei ausgewählte Diskursfelder bearbeitet werden: Das Paradigma der Medizin: Der Wissenschaftshistoriker Edward Yoxen hat darauf hingewiesen, dass sich die Relation zwischen der Humangenetik und den medizinischen Wissenschaften dramatisch verändert hat. Seit einiger Zeit ist eine Begriffsverschiebung und Redefinition festzustellen, die dazu führte, Krankheiten immer mehr als genetische Normabweichungen zu identifizieren. Erst die Entstehung und Ausweitung der Vorstellung von genetischen Krankheiten bereitete den Boden für die wachsende gesellschaftliche und ideologische Bedeutung der Molekulargenetik. Auf diese Weise hat sich ein produktiver Zirkel etabliert, der von genetischen Anomalien auf Krankheiten 3

schließt und Krankheiten auf genetische Anomalien zurückführt (Yoxen 1984; vgl. Koch 1993). Folgende Forschungsfragen sind in diesem Zusammenhang zu klären: Lässt sich heute eine weitere Ausdehnung der Vorstellung von genetischen Krankheiten feststellen, wobei Krankheiten zunehmend als Risiken konzipiert und Risiken bereits als Krankheiten aufgefasst werden? Welche Bedeutung hat das Konzept der genetischen Krankheit für die Konstruktion genetischer Risiken? Wann hat man begonnen, schädliche Gene nicht mehr als eine genetische Bürde (Muller 1950), sondern in Risikokategorien zu begreifen? Die Metapher der Information: Gene werden als Informationen begriffen, die DNA als Code des Lebens angesehen (vgl. dazu aus wissenschaftshistorischer Perspektive Keller 1998; Rheinberger 1997). Welche Folgen hat die Verwendung informationeller Metaphern für die Diagnose und Behandlung von Krankheiten? Wie werden durch diese Form der Repräsentation des Körpers mögliche Interventionsformen strukturiert? Inwiefern trägt sie dazu bei, der Unterscheidung von Natur und Gesellschaft/Kultur ihre Natürlichkeit zu nehmen und sie in Form von Risikofaktoren neu zu konfigurieren? Der Diskurs der Immunologie: Inwieweit verdrängen oder verschieben immunologische Beschreibungsbegrifflichkeiten und Konzepte das bakteriologische Paradigma? Welche Rolle spielt dabei die Risiko- und Flexibilitätssemantik? (vgl. Martin 1994) Im zweiten Teil soll das Zusammentreffen einer wissenschaftlich-technischen Entwicklung mit einer gesellschaftlich-politischen analysiert werden; beide sind keine unabhängigen Variablen, aber auch nicht aufeinander zu reduzieren. Meine Vermutung ist, dass der Gendiagnostik eine strategische Rolle in einer Transformation des Sozialen zukommen könnte, die sich durch die Auflösung traditioneller Formen sozialer Solidarität und der versicherungstechnischen Bearbeitung kollektiver Risiken auszeichnet. Insofern stellt sich die Frage, ob die Versicherungs-Gesellschaften (Ewald 1998) durch Risikodispositive abgelöst werden, die weniger auf Mechanismen der Schadensumlage und -kompensation denn auf Prinzipien der Vorbeugung und Verhinderung beruhen. Um dieser These nachgehen zu können, ist es wichtig, das Verhältnis von Technologie und Gesellschaft anders als in Begriffen von Ursache auf der einen und Wirkung auf der anderen Seite zu thematisieren. Statt die Gendiagnostik als Ausdruck instrumenteller Vernunft anzusehen, soll sie hier als Effekt und Instrument (vgl. Foucault 1976, S. 42) einer politischen Rationalität betrachtet werden, die eine Umcodierung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse in Angriff nimmt und eine Individualisierung und Privatisierung kollektiver Risiken betreibt. Eher als von der 4

Macht der Technologie soll von Technologien und Strategien der Macht die Rede sein. Daher versteht sich dieses Forschungsvorhaben zugleich als Beitrag zu einer kritischen Theorie des Risikos (vgl. Bonß 1993). Diese These soll im zweiten Teil anhand der Auswirkungen der zunehmenden Verfügbarkeit und Verfeinerung gendiagnostischen Wissens auf das Versicherungswesen in Deutschland überprüft werden (dabei empfiehlt sich ein vergleichender Blick auf Entwicklungstendenzen in anderen Staaten, vor allem den USA; ebenso ist die europapolitische Regulierungsdimension zu berücksichtigen). Die neuen genomanalytischen Möglichkeiten stellen die Institution der Versicherung vor allem im Bereich der Kranken- und Lebensversicherung vor neue Herausforderungen: Eine genaue Kenntnis der zu erwartenden Erkrankungen und möglichen Krankheitsrisiken bzw. des frühzeitigen Todes eines Individuums würde das Prinzip der Versicherung selbst in Frage stellen, das auf einer konkreten Unsicherheit im Einzelfall beruht. Der Einsatz von Gentests stellt daher möglicherweise eine existenzielle Bedrohung für das private Kranken- und Lebensversicherungssystem dar. Nur (zukünftig) Kranke würden noch einen Versicherungsschutz nachfragen, während die guten Risiken (d.h. jene mit einer niedrigen Eintrittswahrscheinlichkeit) unversichert blieben. Im Rahmen der privaten Versicherung könnte es also durchaus passieren, dass Antragsteller, die nach Auskunft eines Gentests wahrscheinlich schwer wiegend erkranken werden oder einen frühen Tod zu erwarten haben, als nicht versicherbar gelten. Aber nicht nur für die private Versicherungswirtschaft, auch für die Sozialversicherung ist die genetische Diagnostik relevant. Die sozialgesetzlich geregelte Mitwirkungspflicht der Versicherten an ihrer Gesunderhaltung könnte in Zukunft als Verpflichtung zur Durchführung von Gentests ausgelegt werden. Im Falle eines diagnostizierten erhöhten Krankheitsrisikos dürfte dann ein Zwang zur Prävention bzw. zur Umstellung auf eine gesunde Lebensführung greifen (Gostin 1991; Kraus 1993; Sahmer 1995; Hennen u. a. 1996, S. 185-205; Wiesing/Schonauer 1997; Uhlemann 1999b; Schöffski 2000). Das Untersuchungsmaterial in diesem Teil bilden rechtliche Normen und juristische Kommentare, versicherungswissenschaftliche und -medizinische Fachpublikationen sowie die sozialwissenschaftliche Referenzliteratur. Über eine reine Literatursichtung- und auswertung hinaus könnte es angezeigt sein, Vertreter der Versicherungswirtschaft in Hinblick auf die möglichen Konsequenzen zu befragen, die sich aus der zunehmenden Verfügbarkeit von Gentests ergeben. Die Interviews sollen sowohl mit Repräsentanten der gesetzlichen Krankenversicherungsträger wie mit Experten aus dem privatwirtschaftlichen Sektor geführt 5

werden (in Betracht kommen hier vor allem die einschlägigen Verbände: Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft, Verband der Lebensversicherungsunternehmen, Verband der privaten Krankenversicherungen, aber auch ausgewählte Einzelunternehmen und Rückversicherungen). Bei Literaturauswertung und Experteninterviews soll insbesondere folgenden Fragen nachgegangen werden: Inwieweit ergibt sich aus dem Einsatz gendiagnostischer Verfahren im Versicherungswesen die Gefahr genetischer Diskriminierung? Inwieweit existiert die Möglichkeit eines Missbrauchs persönlichkeitsrelevanter Daten? Welches Verhältnis besteht zwischen der formellen Freiwilligkeit von Tests und einem faktischen Zwang, sich diesen Tests zu unterziehen (etwa um Vertragsleistungen erhalten oder einen Versicherungsvertrag überhaupt abschließen zu können) Inwieweit wird das Prinzip einer Risiko- und Solidargemeinschaft ausgehöhlt, wenn durch die Einführung von Gentests gerade solche Menschen vom Versicherungsschutz ausgeschlossen werden, die ihn am nötigsten haben? Inwieweit gibt es auf Seiten der gesetzlichen Krankenkassen Überlegungen, die im Sozialgesetzbuch festgelegte Mitwirkungspflicht der Versicherten zu ihrer eigenen Gesunderhaltung im Sinne einer Pflicht zur Durchführung von Gentests auszulegen? Im dritten Teil der Arbeit soll untersucht werden, inwieweit prädiktive Gentests zur Konstitution eines homo geneticus (Gaudillière 1995, S. 35) beitragen, der sich den Techniken des Risikomanagements und den Praktiken der Selbstüberwachung des Körpers unterzieht. Welche Folgen haben Genomanalyse und genetische Diagnostik für die personale und soziale Identität der Subjekte und ihre Lebensführung? Wie schreibt sich der genetische Code als Bio-Grafie in das Leben der Subjekte ein? Wichtig ist dabei, eine Untersuchungsperspektive zu vermeiden, die allein auf den Zwangs- und Unterwerfungscharakter der genetischen Diagnosetechniken abstellt, ohne diese unter dem Aspekt der Veränderung von Selbsttechnologien (Foucault 1993) zu analysieren. Die genetische Gouvernementalität mag dazu beitragen, eine Körperpolitik zu etablieren, die uns anhält, mit unserem Körper, der Gesundheit oder der Lebensqualität ökonomisch umzugehen und ein adäquates Risikomanagement zu betreiben; andererseits ermöglicht sie aber auch neue Formen individueller und kollektiver Subjektivität und andere Körper- Erfahrungen, die sich eventuell auch gegen gesellschaftliche Tendenzen der Individualisierung und Privatisierung von Risiken wenden können. 6

Diese Forschungsfragen sollen anhand von zwei Problemkomplexen genauer untersucht werden. Zu analysieren ist zum einen die zunehmende Kopplung von Selbstbestimmung und Lebensqualität, der innerhalb der Bioethik (aber auch in politischen Programmen und juristischen Entscheidungen) eine zentrale Bedeutung zukommt. Selbstbestimmung wird demnach nicht nur als eine bestimmte Qualität menschlicher Existenz aufgefasst, sondern avanciert zum Existenz-Kriterium überhaupt. In dieser Perspektive besitzen nur Individuen Lebensqualität, die selbst entscheiden können und autonom sind, im anderen Fall sei das Leben wertlos (Singer 1984; Harris 1995; Charlesworth 1997). In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, inwieweit die in bioethischen Diskursen produzierten Konzepte von Selbstbestimmung und Lebenswert ihre normative Grundlage in der Definition einer vernunftgemäßen Existenz im Sinne einer risikominimierenden Lebensführung besitzen. Inwieweit wird mit Vorstellungen von Verantwortung und Mündigkeit operiert, die Risikokompetenz im Umgang mit diagnostischen Techniken und genetischen Informationen einfordern und erfolgreiches Kontingenzmanagement und Präventionsverhalten zum Kritierium einer gelungenen menschlichen Existenz bestimmen? Zu untersuchen ist zum anderen, inwieweit Genomanalyse und Gendiagnostik dazu beitragen, traditionelle Identitäten zu verändern und neue Subjektivierungsformen produzieren. Die Frage stellt sich, ob sich bereits Formen einer Biosozialität abzeichnen, das heißt die Formierung von Gruppen, in denen sich Individuen mit einer ähnlichen genetischen Ausstattung bzw. Anomalie wieder finden. Diese Gruppen könnten auf spezialisierte medizinische Experten zurückgreifen und ihre je eigenen Erfahrungen, Traditionen und Lebensformen ausbilden (Rabinow 1996, S. 102; vgl. Novas/Rose 2000). Möglich sind aber auch neue Formen von Klassenbildungen, die nicht mehr nur nach ökonomischen Lagen, sondern auch nach genetischen Kriterien bestimmt sind (Silver 1998, S. 14). Gegenstand der Untersuchung in diesem Teil sind zum einen bioethische Texte, die aus soziologischer Perspektive im Hinblick auf ihren Programmcharakter betrachtet werden sollen: Welche soziale Rationalität materialisiert sich in dem dort skizzierten richtigen Umgang mit persönlichen Risiken? Zum anderen sollen Publikationen von Selbsthilfegruppen, Arbeitskreisen und Interessenvertretungen zu genetischen Krankheiten berücksichtigt werden (etwa: Deutsche Huntington-Hilfe e.v., CF-Selbsthilfe e.v) gegebenenfalls wird auch die Kommunikation in Webforen und chat rooms einbezogen. 7

3. Literatur Assheuer, Thomas 2000: Die neue Genmystik, in: Die Zeit vom 6. Juli 2000, S. 37. Beck, Ulrich 1988: Gegengifte. Die organisierte Unverantwortlichkeit, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Bonß, Wolfgang 1993: Ungewißheit als soziologisches Problem oder Was heißt kritische Risikoforschung, in: Mittelweg, Nr. 1, S. 15-34. Charlesworth, Max: Leben und sterben lassen. Bioethik in der liberalen Gesellschaft, Hamburg : Rotbuch. Ewald, François 1993: Der Vorsorgestaat, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Foucault, Michel 1993: Technologien des Selbst, in: Luther H. Martin, Huck Gutman und Patrick Hutton (Hg.), Technologien des Selbst, Frankfurt am Main: Fischer, S. 24-62. Gaudillière, Jean-Paul 1995: Sequenzieren, Zählen und Vorhersehen. Praktiken einer Genverwaltung, in: Tüte: Sonderheft Wissen und Macht, S. 34-39. Gostin, Larry 1991: Genetic Discrimination: The Use of Genetically Based Diagnostic and Prognostic Tests by Employers and Insurers, in: American Journal of Law & Medicine, 17. Jg., Nr. 1/2, S. 109-144. Hennen, Leonhard/Petermann, Thomas/Schmitt, Joachim J. 1996: Genetische Diagnostik - Chancen und Risiken. Der Bericht des Büros für Technikfolgen-Abschätzung zur Genomanalyse, Berlin: Edition Sigma. Keller, Evelyn Fox 1998: Das Leben neu denken, München: Verlag Antje Kunstmann. Koch, Lene 1993: The Genefication of Medicine and the Concept of Disease, in: Hamburger Institut für Sozialforschung (Hg.), Diskussionpapiere 1/93, Hamburg: Hamburger Institut für Sozialforschung. Kraus, H. K. 1993: Screening bei Antragstellern: Internationale versicherungsmedizinische Erfahrungen, in: Versicherungsmedizin, 45. Jg., Nr. 4, S. 110-115. Latour, Bruno 1995: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Berlin: Akademie Verlag. Lewontin, Richard C. 1991: Biology as Ideology. The Doctrine of DNA, New York: HarperCollins. Lippman, Abby 1991: Prenatal Genetic Testing and Screening: Constructing Needs and Reinforcing Inequeties, in: American Journal of Law & Medicine, 17. Jg., Nr. 1+2, S. 15-50. Martin, Emily 1994: Flexible Bodies. Tracking Immunity in American Culture - From the days of Polio to the Age of AIDS, Boston: Beacon Press. Muller, Hermann Joseph 1950: Our Load of Mutation, in: American Journal of Human Genetics, Nr. 2, S. 111-176. Nelkin, Dorothy 1995: Die gesellschaftliche Sprengkraft genetischer Informationen, in: Daniel J. Kevles/Leroy Hood (Hg.), Der Supercode. Die genetische Karte des Menschen, Frankfurt am Main/Leipzig: Insel, S. 195-209. Novas, Carlos/Rose, Nikolas 2000: Genetic Risk and the Birth of the Somatic Individual (Manuskript). Perzinger, Ulrich 1997: Absturz nach der Diagnose. Die neue Diskriminierung, in: Die Zeit vom 17. Januar 1997, S. 33. 8

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