Rezension: Gerechte Verteilung medizinischer Ressourcen [1] Christian J. Feldbacher & Christoph Leitner Der Autor des rezensierten Buches, Edgar Rosenmayer, studierte Philosophie an der Paris-Lodron-Universität Salzburg. 2007 erschien seine Diplomarbeit unter dem Titel `Gerechte Verteilung medizinischer Ressourcen. Ethische Aspekte der Mikroallokation' im Verlag Dr. Müller. Das Buch richtet sich nach Angaben des Autors an Ethiker, medizinisches Personal und Laien mit Interesse an einer ethischen Bewertung von Kriterien zur Verteilung medizinischer Ressourcen. Im Rahmen einer ethischen Diskussionsrunde mit dem Autor haben wir uns entschlossen, das Buch zu rezensieren. Das Buch umfasst 153 Seiten und ist ohne Berücksichtigung der Schlussbemerkung und des Literaturverzeichnisses in vier Kapitel eingeteilt: (1) Kontexte der medizinischen Allokation, (2) Nutzen- und Ezienzfragen in der Medizin, (3) Gerechtigkeitsfragen in der Medizin und (4) Praktische Integration: Kriteriengewichtung. Diese Einteilung deckt sich ungefähr mit Eckpunkten der Untersuchung des Autors: Ausgehend von terminologischen Festsetzungen in (1) diskutiert der Autor zuerst eine Nutzentheorie sowie Varianten davon in (2) und geht dann über in eine Diskussion von Gerechtigkeitstheorien in (3); dort diskutiert der Autor auch einen Zusammenhang zwischen Nutzen- und Gerechtigkeitstheorien hinsichtlich eines Allokationsproblems; ebenso in (3) untersucht der Autor, nach welchen Kriterien in der Praxis medizinische Ressourcen verteilt werden; er bewertet diese Kriterien anhand der vorgestellten Nutzen- und Gerechtigkeitstheorien und beendet die Untersuchung mit einem Vorschlag einer Reihung von Kriterien zur Verteilung medizinischer Ressourcen in (4). ad (1) Kontexte der medizinischen Allokation. Der Autor legt zu Beginn seiner Untersuchung den Gegenstandsbereich der Untersuchung fest. Hierzu erläutert er zuerst verschiedene zentrale Ausdrücke. Es sind dies vor allem `Alloktion' (vgl. [1, p.8]), `Allokationsproblem' (vgl. [1, p.9]), `Knappheit' (vgl. [1, p.9]), `Mikroallokation' (vgl. [1, p.12]) sowie `Zuteilung' und `Verteilung' (vgl. [1, pp.12f]). Unter `Allokation' versteht der Autor die Verteilung knapper medizinischer Ressourcen an Patienten. Unter `Mikroallokation auf der unteren Ebene' versteht der Autor Kriterion Journal of Philosophy (2010) 23: 100105. http://www.kriterion.at c 2010 The author
Christian J. Feldbacher & Christoph Leitner: Rezension 101 eine Verteilung von knappen medizinischen Ressourcen in der Entscheidungsbefugnis des Arztes an die Patienten. In anderen Bereichen, z.b. auf Spitalsebene oder bei budgetpolitischen Entscheidungen, welche die Medizin betreen, seien andere ethische Fragen relevant. Bestimmte Fragen nach z.b. einer Verteilung eines Gesundheitsbudgets auf Krankenkassen seien Makroallokationsprobleme auf der unteren Ebene. Mit diesen Termini umgrenzt der Autor den Gegenstandsbereich seiner Untersuchung auf Kriterien zur Lösung des Allokationsproblems von Patienten hinsichtlich medizinischer Ressourcen absoluter Knappheit der Mikroallokation auf der unteren Ebene. Ziel des Autors ist es, die Elemente dieses Gegenstandsbereichs ethisch zu bewerten. Z.B. bewertet der Autor das Kriterium Lebensalter ethisch (vgl. [1, pp.90]). Positiv fällt auf, dass der Autor den Gegenstandsbereich der Untersuchung sehr überlegt abgrenzt. Damit wird der ethisch von ihm behandelte medizinische Bereich speziziert. Negativ fällt auf, dass er viele Ausdrücke nur ungenau einführt oder sich nicht an seine terminologischen Festsetzungen hält. Z.B. setzt er eine Bedeutung von `medizinische Ressource' voraus; erst in [1, p.65] wird klar, dass es sich bei medizinischen Ressourcen um bestimmte Gegenstände wie etwa medizinische Geräte oder zur Verfügung stehende Zeit handelt, nicht jedoch um z.b. Geld für medizinische Zwecke. Auch der Versuch der Denition von `Allokation' ist inadäquat die gegebene Denition in [1, p.8] entspricht jener von `Relation'. Sinnvollerweise unterscheidet der Autor Zuweisungen von medizinischen Ressourcen an Patienten in Verteilungen (nach ethischen Kriterien) und Zuteilungen (nach medizinischen Kriterien) in [1, p.13]. In der Untersuchung weicht er jedoch häug von dieser Festsetzung ab und vertauscht die Ausdrücke miteinander (vgl. [1, p.25, p.51, p.53, p.71, p.81 u.a.]). Ein ganz ähnliches Problem tritt bei einer Unterscheidung eines Lebensalters in ein biologisches und ein chronologisches Lebensalter auf (vgl. [1, pp.92f]). ad (2) Nutzen- und Ezienzfragen in der Medizin. In diesem Kapitel diskutiert der Autor Nutzentheorien. Er unterscheidet folgende Varianten von utilitaristischen Theorien: Handlungs- und Regelutilitarismus. Durchschnittsnutzen- und Nutzensummenutilitarismus. Glücks- und Präferenzutilitarismus. Der Autor vermutet, dass für eine Bewertung der Kriterien zur Verteilung medizinischer Ressourcen insbesondere zwei Varianten von utilita-
102 Kriterion Journal of Philosophy (2010) 23: 100105 ristischen Theorien relevant sind: handlungs-durchschnittsnutzen-präferenzutilitaristische Theorien und regel-durchschnittsnutzen-präferenzutilitaristische Theorien. Erstgenannte hinsichtlich Kriterien zur Verteilung von medizinischen Ressourcen, welche wohl überlegt werden können. Letztgenannte hinsichtlich Kriterien zur Verteilung von medizinischen Ressourcen in dringlichen Situationen. Eine Operationalisierung des Nutzens bestehe in der Medizin in dem Qualy-Modell, welches ein Punktesystem aus Lebenserwartung und erwarteter Lebensqualität für betroene Patienten sei (vgl. [1, p.38]). Das Qualy-Modell basiere auf einer nutzensummenutilitaristischen Theorie. Positiv ist, dass der Autor ein breites Spektrum von Varianten utilitaristischer Theorien diskutiert und die weitere Untersuchung auf zwei Varianten beschränkt. Die Diskussion der utilitaristischen Theorien erfolgt allerdings nicht hinreichend genau. ad (3) Gerechtigkeitsfragen in der Medizin. Im dritten Kapitel der Untersuchung diskutiert der Autor u.a. zwei Gerechtigkeitstheorien und deren Fruchtbarkeit für eine Bewertung von Kriterien zur Lösung von Allokationsproblemen: Eine aristotelische Theorie der Gerechtigkeit zur ausgleichenden und austeilenden Gerechtigkeit, sowie zur Billigkeit (vgl. [1, pp.55f]). Eine weitere Theorie der Gerechtigkeit ist angelehnt an John Rawls Theorie der Gerechtigkeit als Fairness (vgl. [1, pp.60]). Quintessenz der Diskussion sind notwendige Bedingungen für `ein Kriterium zur Verteilung medizinischer Ressourcen an Patienten ist gerecht'. Ethische Theorien werden vielfach an Intuitionen gemessen. Salopp gesagt, sollten moralisch gebotene Handlungen möglichst nützlich und gerecht sein. Ein Problem in vielen ethischen Theorien, in denen sowohl Annahmen zur Gerechtigkeit von Handlungen als auch Annahmen zur Nützlichkeit von Handlungen gemacht werden, ist das Problem von Normkonikten: Es gibt z.b. Handlungen, die gerechtigkeitstheoretisch geboten sind, die aber nutzentheoretisch nicht geboten, ja sogar verboten sind. Im nachfolgend behandelten Unterkapitel geht der Autor auf solche Normkonikte ein. Im Unterkapitel Gerechtigkeit in der medizinischen Praxis (auch in (3 ab [1, p.76]) bewertet der Autor tatsächlich verwendete Kriterien zur Lösung von Mikroallokationsproblemen auf der unteren Ebene. In der medizinischen Praxis verwendete Kriterien zur Lösung von Allokationsproblemen sind z.b. das Kriterium der Dringlichkeit: Wer benötigt eine medizinische Ressource dringlicher? Das Kriterium der Wartezeit: Wer wartet schon länger auf eine medizinische Ressource? Das Kriterium des Zufalls: Wie entscheidet ein Los? Sowie das Kriterium des medizinischen
Christian J. Feldbacher & Christoph Leitner: Rezension 103 Erfolgs: Wer hat höhere Qualy erwartete Lebenszeit und -qualität? Anhand des Qualy-Modells will der Autor zeigen, dass dieses durchaus als gerecht interpretiert werden kann. So sollte z.b. jedem Menschen gleichermaÿen eine bestimmte Lebenszeit zur Verfügung stehen Stichwort `faire Lebenszeit'. Ältere Menschen haben, gemessen an der durchschnittlichen Lebenserwartung, schon mehr von ihrer Lebenszeit verbraucht als jüngere Menschen. Im Falle eines Allokationsproblems solle gerechterweise der jüngere Mensch die medizinische Ressource erhalten. Auch sei ein nutzenorientierter Einsatz medizinischer Ressourcen insofern gerecht, als diese durch den ezienten Einsatz umso mehr Personen zukommen könnten (vgl. [1, p.107]). Dies führt den Autor zu folgender quasi-generellen Forderung: These 1 Wenn Kriterien einer Allokation medizinischer Ressourcen an Patienten nützlich sind, dann sind diese Kriterien der Allokation der medizinischen Ressourcen an die Patienten auch gerecht. Wir erachten die durch diese Untersuchung gewonnene Praxisnähe als positiv. Das Qualy-Modell ist ein Kriterium im Sinne von These 1. Negativ erscheint uns jedoch die ethische Bewertung der übrigen oben angeführten Kriterien. Es ist eine lose Zusammenstellung von Kriterien und dazugehörigen Begründungen. Die umgekehrte Richtung von These 1, nämlich dass gerechte Kriterien auch nützlich sind, wird im Buch nicht besprochen. ad (4) Praktische Integration: Kriteriengewichtung. Der Autor präsentiert zum Schluss des Buches eine Orientierungshilfe zur Lösung von Allokationsproblemen. Er schlägt vor, dass der Arzt zuerst die Zuteilung von medizinischen Ressourcen an Patienten klären soll. Im Anschluss daran solle der Arzt, sofern es Konikte der Mikroallokation auf der unteren Ebene gibt, sich an folgender Kriterienreihung orientieren: (I) Dringlichkeit und medizinische Erfolgsaussichten einer Verteilung medizinischer Ressourcen an Patienten. Z.B.: Mit welcher Verteilung kann noch Leben gerettet werden? (II) Nutzenmaximierende Kriterien für eine Verteilung medizinischer Ressourcen an Patienten. Z.B. das nutzenmaximierende Qualy- Modell. (III) In Fällen der Verantwortung gegenüber Dritten sollen soziale Kriterien, wie z.b. Mutterschaft, für eine Verteilung medizinischer Ressourcen herangezogen werden.
104 Kriterion Journal of Philosophy (2010) 23: 100105 (IV) Ermessensspielraum des Arztes. Kriterien wie z.b. das Kriterium der Wartezeit eines Patienten sind nach Dafürhalten des Autors nicht für eine Verteilung medizinischer Ressourcen an Patienten geeignet, da sie oftmals zu Ergebnissen führen, die nutzenmaximierenden Kriterien entgegenstehen. Z.B. sind oftmals die medizinischen Erfolgsaussichten eines Patienten mit längerer Wartezeit geringer als die medizinischen Erfolgsaussichten eines Patienten mit kürzerer Wartezeit. Der Autor schlägt hier, sehr praxisnah, eine Reihung nach ethischer Gebotenheit der zur Lösung eines Allokationsproblems herangezogenen Kriterien vor. Dies bewerten wir durchgängig positiv. Zur Untersuchung im Allgemeinen: Die inhaltliche Aufteilung des Buches ist klar und übersichtlich. Thematisch wurden die für die Medizin relevanten ethischen Theorien ausgewählt: Bestimmte Nutzen- und Gerechtigkeitstheorien. In formaler Hinsicht weist die Untersuchung allerdings erhebliche Mängel auf, welche auch inhaltlich missverständlich wirken. Zitate des Autors sind sehr häug Zitate von Zitaten dieses Vorgehen birgt die Gefahr von Fehlinterpretationen der Originalliteratur. Für reportive Denitionen scheint uns ein Rückgri auf kodizierte Werke zum Wortschatz der deutschen Sprache angemessener als ein Rückgri auf bestimmte Quellen aus dem Internet (vgl. z.b. [1, p.8]). Stilistisch auallend sind Wortkreationen wie `real-praktisch' (z.b. in [1, p.7]), `objektiv-medizinisch' (z.b. in [1, p.13]), `sozial-moralisch' (z.b. in [1, p.36]), der ungezügelte Gebrauch von inhaltlich verschleiernden Ausdrücken (`Aspekt', `Dimension', `Ebene', `Sphäre' und ähnlichen mehr), sowie der uneinheitliche und extensive Gebrauch von Anführungszeichen. Resümee: Die für die Medizinethik relevanten und zentralen Themen sind im Allgemeinen zwar systematisch geordnet, im Einzelnen sind die vielzähligen Ideen jedoch eher grob nebeneinandergestellt. Dabei wurden die theoretischen Teile der ethischen Untersuchung nur angedeutet, jedoch nicht weiterführend ausgearbeitet. Deshalb empfehlen wir das Buch zwar nicht an Leser mit ausgeprägtem Interesse an einer theoretischen Untersuchung, aber an Mediziner und Laien, die einen Einblick in eine ethische Bewertung von Kriterien zur Allokation medizinischer Ressourcen an Patienten gewinnen möchten.
Christian J. Feldbacher & Christoph Leitner: Rezension 105 Literatur [1] Edgar Rosenmayer. Gerechte Verteilung medizinischer Ressourcen. Ethische Aspekte der Mikroallokation. Verlag Dr. Müller (VDM), Saarbrücken, 2007. 153 Seiten, 49,00AC[D], ISBN: 978-3-8364-1426-5.