Politischer Extremismus unter Jugendlichen in der Schweiz

Transkript

1 unter Jugendlichen in der Schweiz Prof. Dr. Dirk Baier & Dr. Patrik Manzoni Fachtagung Bedrohungsmanagement, Dübendorf, Extremismus/Terrorismus bereiten der Bevölkerung zunehmend Sorgen - Vorfälle extremistischer Gewalt - Schweiz: primär Linksextremismus (Hausbesetzungen, Gewalt gegen Polizei) - Deutschland: Rechts-, Links- und islamistischer Extremismus/Fundamentalismus - Daten des Nachrichtendienstes des Bundes (Schweiz) - geringe Verbreitung, Rückgang (aber: Dunkelfeld, über Einstellungen wenig bekannt) - Linksextremismus ist verbreiteter als Rechtsextremismus - Islamistischer Extremismus: ca. 500 auffällige Personen

2 Forschungsfragen - Wie verbreitet ist die Zustimmung zu extremistischen Ideologien unter Jugendlichen in der Schweiz? - Welcher Anteil an Jugendlichen in der Schweiz befürwortet extremistische Gewalt bzw. hat diese selbst begangen? - Was sind die Einflussfaktoren extremistischer Ideologien und extremistischer Gewalt? Fokus Jugendliche Unterscheidung von Einstellungen und Verhaltensweisen Als extremistisch werden diejenigen Einstellungsmuster und Verhaltensweisen bezeichnet, die durch eine Ablehnung des demokratischen Verfassungsstaates, seiner Grundwerte und Verfahrensregeln gekennzeichnet sind und die anstreben, diesen auch unter Anwendung von Gewalt zu überwinden. Jeder Extremismus hat eine spezifische Ideologie, die Ziele in Bezug auf die Organisation der Gesellschaft formuliert und die Eigen- und Fremdgruppe unterscheidet.

3 Einflussfaktoren des Extremismus (Mikroebene)

4 Der Extremismussurvey Fribourg 997 Genf 768 Wallis 1400 Tessin 766 Basel Land 939 Bern 770 Luzern 153 St. Gallen 848 Zürich 1200 Solothurn Befragte aus 595 Klassen Rücklaufquote: 39.1 % (inkl. Absagen Schulen; auf Klassenebene: 90%) 49.7 % männlich 22.5 % unter 17 Jahre, 55.8 % 17 oder 18 Jahre, 21.7 % über 18 Jahre 52.0 % Berufsschule, 12.3 % Fachmittelschule bzw. Berufsmaturität, 26.4 % Gymnasium, 9.3 % Übergangsausbildung 9,6 % muslimische Befragte (n = 776; mehrheitlich sunnitisch) 52 % mit Migrationshintergrund (mindestens ein Elternteil nicht in der Schweiz geboren wurde) : Rechtsextremismus Nationalismus Rassismus Diktaturbefürwortung Sozialdarwinismus Ausländerfeindlichkeit Muslimfeindlichkeit Antisemitismus Gewaltbereitschaft gegenüber Ausländern Gewaltbereitschaft gegenüber Linksextremen Items Die Schweiz sollte allein den Schweizern gehören, die schon seit vielen Generationen hier leben. Wir müssen Schweizer Interessen gegenüber dem Ausland hart und energisch durchsetzen. Die Schweiz braucht nur eine einzige starke Partei, die das Volk insgesamt verkörpert. Wir sollten einen Führer haben, der die Schweiz mit starker Hand regiert. Die Schweizer sind anderen Völkern von Natur aus überlegen. Die Weissen sind zu Recht führend in der Welt. Es leben zu viele Ausländer in der Schweiz. Wenn Arbeitsplätze knapp werden, sollte man die in der Schweiz lebenden Ausländer wieder in ihre Heimat zurückschicken. Muslimen sollte die Zuwanderung in die Schweiz untersagt werden. Muslimen sollte jede Form der Religionsausübung in der Schweiz untersagt werden. Durch ihr Verhalten sind die Juden an ihren Verfolgungen mitschuldig. Juden haben in der Schweiz zu viel Einfluss. Ich finde es in Ordnung, wenn Ausländer in der Schweiz zusammengeschlagen werden, weil es Ausländer sind. Ich finde es in Ordnung, wenn Asylunterkünfte oder Wohnungen von Ausländern beschädigt werden. Ich finde es in Ordnung, wenn Ausländer beschimpft werden, weil es Ausländer sind. Ich finde es in Ordnung, wenn Linksextreme, Personen des Schwarzen Blocks, Hausbesetzer, Punks o.ä. nur wegen ihrer politischen Einstellung beschimpft werden. Ich finde es in Ordnung, wenn Linksextreme, Personen des Schwarzen Blocks, Hausbesetzer, Punks o.ä. nur wegen ihrer politischen Einstellung verprügelt werden. Ich finde es in Ordnung, wenn Treffpunkte oder Häuser von Linksextremen, Personen des Schwarzen Blocks, Hausbesetzern, Punks o.ä. demoliert werden.

5 : Rechtsextremismus Zustimmung zu rechtsextremen Einstellungen (in %; nur Befragte ohne Migrationshintergrund) : Rechtsextremismus Anteil rechtsextremer Jugendlicher nach sozio-demografischen Merkmalen (in %; nur Befragte ohne Migrationshintergrund)

6 : Linksextremismus Kommunismus No Border Kapitalismusfeindlichkeit Feindlichkeit gegenüber Polizei und Staat Gewaltbereitschaft gegenüber Kapitalisten Gewaltbereitschaft gegenüber Polizisten Gewaltbereitschaft gegenüber Rechtsextremen Items Wirklich frei können wir nur dann sein, wenn der ganze Staat abgeschafft wird. Das Eigentum sollte abgeschafft werden; alles sollte allen gehören. Wir brauchen keinen Staat und keine Parteien; wir können uns selbst am besten regieren. Gesellschaften, in denen alle Menschen das Gleiche haben (z.b. Einkommen, Besitz), sind viel besser als die Schweizer Gesellschaft. Die Schweiz sollte noch viel mehr Flüchtlingen Zuflucht gewähren. Es ist unmenschlich, Menschen ohne gültige Aufenthaltsbewilligung aus der Schweiz auszuschaffen. Die Wirtschaftsbosse zerstören den Lebensraum der einfachen Menschen in den Städten. Die Reichen und Mächtigen beuten die einfachen Menschen immer mehr aus. Heutzutage bestimmen nur noch die weltweiten Grossunternehmen, wo es langgeht. Die weltweiten Grossunternehmen sind verantwortlich für Armut und Hunger in der Welt. Polizei und Staat bespitzeln uns auf Schritt und Tritt. Polizei und Staat schützen nur die Rechte der Reichen. Ich finde es in Ordnung, wenn die Gebäude oder Luxusautos der weltweiten Grossunternehmen und Wirtschaftsbosse beschädigt werden. Ich finde es in Ordnung, wenn Gewalt gegen die Polizei eingesetzt wird (z.b. durch Schläge, Tritte, Steine, Pyros). Ich finde es in Ordnung, wenn Rechtsextreme, Ausländerfeinde, Faschisten, Nazis o.ä nur wegen ihrer politischen Einstellung beschimpft werden. Ich finde es in Ordnung, wenn Rechtsextreme, Ausländerfeinde, Faschisten, Nazis o.ä nur wegen ihrer politischen Einstellung verprügelt werden. Ich finde es in Ordnung, wenn Treffpunkte von Rechtsextremen, Ausländerfeinden, Faschisten, Nazis o.ä demoliert werden. : Linksextremismus Zustimmung zu linksextremen Einstellungen (in %)

7 : Linksextremismus Anteil linksextremer Jugendlicher nach sozio-demografischen Merkmalen (in %) : Islamistischer Extremismus Items Die Schweiz braucht einen Führer, der nach islamischem Gesetz regiert. Einführung Gottesstaat und Sharia Höherwertigkeit des Islam Abwertung westlicher Gesellschaften Feindlichkeit gegenüber nichttraditionellen Muslimen Schweizer-feindlichkeit Gewaltbereitschaft gegenüber Nicht-Muslimen Befürwortung Terrorismus/IS Die Schweiz sollte sich nach den Gesetzen der Scharia ausrichten, nach denen zum Beispiel Ehebruch oder Homosexualität hart bestraft werden. Die Schweizer Gesellschaft muss nach islamischen Regeln umgestaltet werden. Die islamischen Gesetze der Scharia, nach denen zum Beispiel Ehebruch oder Homosexualität hart bestraft werden, sind viel besser als die Schweizer Gesetze. Nur der Islam ist in der Lage, die Probleme unserer Zeit zu lösen. Der Islam ist die einzige wahre Religion; alle anderen Religionen sind weniger wert. Die Frauen haben in Ländern wie der Schweiz viel zu viele Freiheiten. In den westlichen Ländern gibt es keine Moral mehr. Es gibt nur deshalb Gewalt und Krieg in islamischen Ländern, weil die westliche Welt diese Länder ausbeutet und unterdrückt. Muslime werden durch den Westen unterdrückt. Ich finde die Lebensweise der Menschen in der westlichen Welt (u.a. Tragen teurer Kleidung, offene Sexualität) abstossend. Muslime, die den Islam modernisieren, zerstören die wahre Lehre. Wer die Regeln des Korans nicht buchstabengetreu befolgt, ist kein wahrer Moslem. Wer den ursprünglichen Islam verändert, begeht Verrat am Islam. Mir wäre am liebsten, wenn alle Schweizer aus meiner Nachbarschaft und Schule verschwinden würden. Die Schweizer Christen sind weniger wert als die Muslime hier. Ich finde es in Ordnung, wenn Menschen, die nicht dem Islam angehören, als Ungläubige oder ähnliches beschimpft werden. Ich finde es in Ordnung, wenn Menschen verprügelt werden, weil sie nicht dem Islam angehören. Ich finde es in Ordnung, wenn Muslime körperlich bestraft werden, wenn sie sich nicht genau an die religiösen Vorschriften halten. Ich finde es in Ordnung, wenn Muslime mit Gewalt und Terroranschlägen für ihre Sache kämpfen. Ich finde es in Ordnung, wenn junge Leute ins Ausland gehen, um für den Islamischen Staat oder andere islamische Gruppen zu kämpfen.

8 : Islamistischer Extremismus Zustimmung zu islamistischen Einstellungen (in %; nur muslimische Befragte) : Islamistischer Extremismus Anteil islamistisch-extremer Jugendlicher nach sozio-demografischen Merkmalen (in %; nur muslimische Befragte)

9 : Islamistischer Extremismus Islamistisches Verhalten in den letzten 12 Monaten (in %; nur muslimische Befragte) Konsum von Medieninhalten: Rechtsextremismus: 15.8 %, Linksextremismus: 17.0 %) Zustimmung zu einzelnen Dimensionen extremistischer Einstellungen variiert sehr stark, wobei Gewaltbefürwortung nur von einem geringen Teil der Jugendlichen geäussert wird Höchste Zustimmung: Kapitalismusfeindlichkeit (Linksextremismus): 47.1 %, Feindlichkeit gegenüber dem Westen (nur Muslime): 43.0 % Ausländer- und Muslimfeindlichkeit: immerhin 25.1 bzw % der Schweizer Jugendlichen äussern sich zustimmend Hohe Anteile an Jugendlichen, die extremistischen Medienkonsum berichten

10 Ausgewählte Einflussfaktoren/Korrelate Rechtsextremismus (nur Befragte ohne Migrationshintergrund) Linksextremismus Islamistischer Extremismus (nur muslimische Befragte) weiblich Referenz Referenz Referenz Referenz Referenz Referenz männlich.21 ***.16 ***.20 ***.15 ***.15 ***.11 ** Übergangsausbildung Referenz Referenz Referenz Referenz Referenz Referenz Berufsschule.09 *.07 * Fachmittelschule/ Berufsmaturität -.10 ** Gymnasium -.20 *** *** -.06 ** -.16 ** -.05 ländlich (unter 5000 Einw.) Referenz Referenz Referenz Referenz Referenz Referenz kleinstädtisch (unter Einw.) -.09 *** -.08 *** * -.08 städtisch (ab Einw.) -.06 *** -.03 *.07 ***.04 *** -.10 * -.09 * kein Bezug Arbeitslosengeld/Sozialhilfe Referenz Referenz Referenz Referenz Referenz Referenz Bezug Arbeitslosengeld/Sozialhilfe ***.03 ** Konsum von extremistischen Medieninhalten.28 ***.21 ***.40 *** Verschwörungsmentalität.09 ***.35 ***.14 *** Autoritarismus.38 *** *** Demokratiezufriedenheit -.12 *** -.10 *** -.18 *** Vertrauen Politik ** -.02 Vertrauen Gerichte -.08 *** -.14 *** -.08 Vertrauen Medien korr. R N Für alle Extremismusformen ergibt sich ein Geschlechterunterschied: männliche Jugendliche häufiger extremistische Einstellungen aufweisen als weibliche Jugendliche Für alle Extremismusformen ergibt sich ein Unterschied im Vergleich der Schulformen: Schülerinnen und Schüler aus Gymnasien weisen im Vergleich mit Jugendlichen aus der Übergangsausbildung und aus Berufsschulen eine grössere Distanz zu extremistischen Positionen auf (bei Kontrolle von weiteren Einflüssen verschwindet Zusammenhang allerdings) Im ländlichen Raum ist der Rechtsextremismus und islamistische Extremismus etwas verbreiteter, im städtischen Raum der Linksextremismus. Für alle Extremismusformen konnten Zusammenhänge mit der Verschwörungsmentalität, der Demokratiezufriedenheit und dem Institutionenvertrauen aufgezeigt werden (Ursache vs. Folge?) Bestätigt werden konnte, dass der Konsum extremistischer Medieninhalte mit einer stärkeren Befürwortung aller extremistischer Einstellungen einhergeht Weitere systematische Auswertungen zu Einflussfaktoren werden derzeit durchgeführt.

11 Teilnahme an verschiedenen Präventionsmassnahmen in der Schule: insgesamt Thema: körperliche bzw. sexuelle Gewalt 24.1 Thema: Mobbing, Schikanieren, Lästern, Beleidigen o.ä in der Schule und Internet Thema: politischer/religiöser Extremismus, Rechtsextremismus, Linksextremismus, Radikalisierung o.ä Rechtsextremismus und islamistischer Extremismus > Linksextremismus - Unterricht durch Lehrkraft, seltener Vortrag durch Polizei/Experte, Projekttag/-woche, Lernprogramm, Theaterstück Verstärkte schulische Prävention im Bereich Extremismus und verstärkte politische Bildung (Demokratieförderung usw.) Ansätze für Prävention Unzufriedenheit mit bzw. Abwendung von Institutionen kann zu Hinwendung zu Extremismus führen Vermeidung von Erfahrungen der Diskriminierung durch Institutionen wie Schule, Arbeit, Behörden, Polizei und Gerichte Früherkennung und Unterstützung gefährdeter Jugendlicher bei persönlichen Krisen und Identitätssuche durch jugendrelevante Akteure: Schule, Schulsozialarbeit, Jugendarbeit, Gemeinwesenarbeit, Vereine, Polizei / Jugendsachbearbeiter/innen Extremismen stellen attraktive Identitätsangebote dar und versprechen Action und Abenteuer; Soziale Medien besondere Bedeutung Verbreitung alternativer oder Gegennarrative Bei Jugendlichen mit bereits gefestigten extremistischen Orientierungen Intensive Ausstiegs-/Deradikalisierungsarbeit mit Jugendlichen und deren Umfeld (Eltern, Freunden, Lehrpersonen, sonstige Bezugspersonen)