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- Judith Boer
- vor 8 Jahren
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Transkript
1 Tudo bem no Brasil?! Vor drei Jahren war ich zum ersten Mal in Brasilien. São Paulo war damals die letzte Station vor meinem Flug zurück nach Deutschland. Meine Aufnahmefähigkeit schon überflutet von Eindrücken einer dreimonatigen Reise, erschöpft, aber wohlgemut kam ich in kam ich in dieser Metropole an. Ich weiß noch genau, dass ich mich selten zuvor so klein, undeutend und unsicher, aber gleichzeitig auch wohl an einem Ort gefühlt habe. São Paulo hat eine enorme Faszination auf mich ausgeübt und, obwohl ich nur vier Tage da war, den bleibenden Eindruck hinterlassen, dass es interessant wäre, diese Stadt mit meinen gemischten Gefühlen ihr gegenüber besser kennen zu lernen. Spontaneität und ihre Folgen. Kurz vor Weihnachten hörte ich zum ersten Mal von dem Projekt Humboldt geht in die Schulen. Die Möglichkeit ein Unterrichtspraktikum im Ausland zu absolvieren hatte mich schon vorher interessiert und in Verbindung damit den Schülern die deutsche Kultur, Berlin und die Humboldt-Universität näher zu bringen, reizte mich auch. Deshalb zog ich los zu einem Besuch bei Frau Butter, der Koordinatorin des Projektes ohne jegliche konkreten Absichten, allein um mich potentiell über meine Möglichkeiten zu informieren. und eine Woche später besaß ich ein Flugticket nach São Paulo für den 29. Januar.
2 Vier Wochen später bekam ich auch die Zusage des deutschen Schulleiters am Colégio Humboldt, dass von brasilianischer Seite alles in Ordnung geht und eine Woche vor meinem Abflug hatte ich auch ein Zimmer in der Nähe der Schule. Also bestieg ich am 29. Januar bestens organisiert, vorbereitet und informiert das Flugzeug und landete fünfzehn Stunden später in São Paulo am Aeroporto Internacional de Guarulhos, der mit öffentlichen Verkehrsmitteln nur zwei Stunden von meiner neuen Wohnung entfernt ist. Die Ankunft gestaltete sich allerdings doch etwas komplizierter, da ich zwar Straße und Bezirk meiner Adresse wusste, nicht jedoch die Hausnummer. Außerdem ist São Paulo so groß und Interlagos liegt wirklich am untersten Rand der Stadt, dass sogar Taxifahrer nach dem Weg fragen müssen. Aber dank meiner wieder und neu entdeckten grandiosen Portugiesischkenntnisse kam ich sechs Stunden später nach einer sehr philosophischen Diskussion mit meinem Taxifahrer (meine Beträge waren eher einfacher Natur: Sim, sim. Não, não.), zweimaligem Auf- und Ablaufen der Straße, einem Umweg zur Schule (alles weiterhin beladen mit Gepäck) und dank der Unterstützung von drei sehr hilfsbereiten BrasilianerInnen zwar etwas erschöpft, aber wohlbehalten in der Rua Lido 71 an, wo ich mich für die nächsten neun Wochen richtig zuhause fühlen sollte. Die Schule. In Brasilien lebt eine große Anzahl deutscher Auswanderer. Seit Anfang des 19. Jahrhunderts lassen sich deutsche Siedler vor allem im Süden des Landes nieder. Durch das industrielle Wachstum São Paulos haben sich hier außerdem verstärkt deutsche Unternehmen angesiedelt und São Paulo gilt heute als größte deutsche Industriestadt außerhalb Deutschlands. Dies sind die Ursachen der Vielzahl deutschstämmiger und deutscher Einwohner und somit auch einer großer Nachfrage nach deutschen Schulen. Das Colégio Humboldt gibt es bereits seit 1916 in São Paulo und umfasst sowohl Kindergarten und Vorschule, Grund- und weiterführende Schule sowie Oberstufe und
3 Berufsschule. Es gibt ein Ganztagsangebot mit vielen Arbeitsgemeinschaften, eine Cafeteria, in der warmes Mittagsessen angeboten wird, eine Bibliothek mit einer großen Auswahl an deutschen und portugiesischen Büchern und ein eigenes Theater, das Teatro Humboldt. Insgesamt besuchen etwas mehr als 1000 SchülerInnen die Schule und werden in einem der vier brasilianischen oder dem deutschsprachigen Zweig von fast 100 LehrerInnen unterrichtet. Die SchülerInnen des deutschen Zweigs erhalten einen Großteil des Fachunterrichts auf Deutsch von deutschen Auslandslehrkräften. Ergänzend werden die Fächer Portugiesisch, Mathematik, Geographie, Geschichte und Chemie auch auf Portugiesisch unterrichtet. Nach der 12. Klasse, die der 11. Klasse in Deutschland entspricht, haben die SchülerInnen die Möglichkeit in zwei Semestern das Abitur zu machen und somit die allgemeine deutsche Hochschulreife zu erwerben. Mein Praktikum. Insgesamt habe ich an drei Lehrerkonferenzen teilgenommen, ungefähr in 40 Stunden Mathematikunterricht, 30 Stunden anderer Fächer und einigen portugiesischen Stunden hospitiert, ein paar Mal ungeplant Vertretungen übernommen und 15 Mathematikstunden selbst geplant und unterrichtet. Im Rahmen meines Studiums wird mir das Praktikum als Unterrichtspraktikum in Mathematik angerechnet, sobald ich das Nachbereitungsseminar besucht und meinen Praktikumsbericht abgegeben habe. Es war eine interessante und aufregende Erfahrung, die ersten eigenen Mathematikstunden zu halten ich war jedes Mal ziemlich nervös. Mit den zwei deutschen MathematiklehrerInnen habe ich die Stunden gemeinsam geplant und im Nachhinein auch besprochen. Das war eine große Unterstützung und ich habe viel von den beiden gelernt. Beim Unterrichten selbst ist mir aufgefallen, wie schwierig es ist die logischen mathematischen Zusammenhänge zu erläutern, gleichzeitig auf alle Fragen einzugehen sowie klare und deutliche Anweisungen zu geben. Es hat mir Spaß gemacht, war aber auch schwierig, vor allem wenn ich bei einzelnen SchülerInnen
4 Schwierigkeiten bemerkte, auf die ich in Klassen von fast 25 SchülerInnen leider nur schwierig einzeln eingehen konnte. Ich muss auf jeden Fall noch viel lernen und brauche einiges mehr an Erfahrung, damit ich Souveränität, Autorität und soziale Kompetenzen in Zukunft fachkundig und ausgewogen anwenden kann. studieren in Eine German Coffee Hour? Was genau man eigentlich unter einer German Coffee Hour versteht, habe ich noch immer nicht vollständig begriffen. Aber neben dem Fachunterricht war es außerdem meine Aufgabe den SchülerInnen die deutsche Kultur, das Leben in der Hauptstadt Berlin und das Studieren in Berlin näher zu bringen. Ich habe dies allerdings nicht im Rahmen einer solchen German Coffee Hour getan. Mit einigen SchülerInnen des Abiturjahrgangs habe ich über Texte und Musik von aktuellen und klassischen Berliner Künstlern (Tucholsky, Horst Evers, Dota, Seeed u.a.) geredet und ihnen Beispiele zum lesen und hören gegeben. Es war jedoch schwierig sie von einer größeren Aktion zu begeistern, da das nahende Abitur in einem Jahr großen Druck ausübt und freiwillige, unbenotete Projekte leider nicht zu ihren Prioritäten zählen. Außerdem habe ich für diesen Jahrgang einen Informationsvormittag zum Studieren und Leben in Berlin veranstaltet. Darin wurden die verschiedenen Studienmöglichkeiten thematisiert, speziell auf die Humboldt- Universität Bezug genommen und allgemein über das Studieren gesprochen sowie über das Leben in Berlin. Die SchülerInnen waren sehr interessiert, vor allem an Themen bezüglich der Entscheidung für das richtige Studienfach, das alleine-wohnen und die grundsätzlichen Kosten. Es war auch für mich ein schönes Erlebnis, meine eigenen Erfahrungen mit ihnen zu teilen. Im brasilianischen Zweig des Colégio Humboldt gibt es das Fach DFU, Deutsch als Fachunterricht, in dem die SchülerInnen sich mit deutscher Landeskunde beschäftigen, etwas über alle Bundesländer und die deutsche Kultur lernen. In den
5 drei parallelen Klassen habe ich im März mit den LehrerInnen gemeinsam Berlin im Unterricht behandelt. Als Einstieg zeigte ich eine interaktive Präsentation mit einem kleinem Quiz, bei der die SchülerInnen einige Fakten und Kuriositäten Berlins kennen lernten und spielerisch wiederholten. Es hat mir viel Spaß bereitet, auch mit den brasilianischen SchülerInnen zu arbeiten, Sprachschwierigkeiten zu überbrücken sowie Interesse am Berliner Leben zu wecken und dabei die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu deutschen Klassen festzustellen. Carnaval, Capoeira, Frutas. Für mich ist Brasilien das Land der Früchte, des Capoeiras und des Karnevals, der Gegensätze, der Unsicherheit und Angst, der Gastfreundschaft, des kulturellen und natürlichen Reichtums und der Armut. Nirgendwo sonst habe ich bisher solche Gegensätze direkt nebeneinander gesehen. Früh am morgen liegen im Zentrum auf dem Praça da Sé bestimmt hundert Obdachlose nebeneinander und gleichzeitig bahnt sich ein nicht abbrechender Strom Berufstätiger mit Aktentaschen, Laptops und Anzügen seinen Weg um Decken und Kleiderhaufen, an Köpfen und Füßen vorbei von Bussen zu U-Bahnen und 20- stöckigen, gläsernen Bürogebäuden mit Sicherheitspersonal und Mauer. Nirgendwo sonst ertappe ich mich sofort in Erwartung eines bewaffneten Überfalls, sobald mir meine Umgebung nicht mehr richtig bekannt oder ganz geheuer erscheint. Aber dennoch habe ich in São Paulo eine wunderbare Zeit mit tollen und herzlichen Menschen verbracht. Ich habe Samba getanzt (bzw. es versucht), im Capoeira große Kämpfer rücksichtsvoll mit kleinen Kindern spielen sehen und war auf Märkten, die allein mit ihrem bunten Obstangebot Manga, Papaya, Maçã, Melão, Limão, Laranja, Maracujá, Caqui, Abacaxi, Açaí, Banana, Coco mein Wohlbefinden steigern. Es ist zwar leider nicht tudo bom in Brasilien, aber trotzdem vermisse ich das brasilianische Lebensgefühl schon jetzt und kann mit Sicherheit sagen, dass ich noch nicht das letzte in Brasilien war!
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