Rotpunktverlag. Anne Huffschmid
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- Victor Flater
- vor 8 Jahren
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Transkript
1 Rotpunktverlag. Anne Huffschmid MEXIKO DAS LAND UND DIE FREIHEIT
2 Inhalt Wer oder was ist Mexiko? 9 Mexikanische Gespaltenheit 10 Jenseits aller Normen 12 Kämpfe und Erfahrungen 15 (Kein) Dank Der Traum geht weiter 19 Zweihundert Jahre Mexiko»Este es mi reino«19 Träume und Traumata 20 Rückblenden 23 Miguel Hidalgo: Vater des Vaterlandes 24 José María Morelos: Held und Verlierer 32 Erinnerungspolitik: Feiern oder Gedenken? 34 Francisco Xavier Mina: Der Internationalist 40 Politik der Paradoxe: Volk oder Zivilgesellschaft? 43 Emiliano Zapata: Konservativer Revolutionär 46 Pancho Villa: Revolution als Abenteuer 50 Kein Labyrinth der Einsamkeit 55 Öl, Treibstoff der Unabhängigkeit? 58 2.»Nie wieder ein Mexiko ohne uns«61 Indigene Zivilgesellschaft und Labor der Diversität Zenaida und die Ämter: Die Demokratie der Mixes 61 Indigenes Mexiko und warum Oaxaca anders ist 67 Postkoloniale Kulturmetropole, Brennpunkt Oaxaca 73 Guelatao de Juárez 80 Zapotekische Antike: Der weiße Berg 84 Benito Juárez: Liberaler, Präsident und Zapoteco 86 5
3 Kämpfe um Autonomie 90 Vom Sehen und Gesehenwerden die Maya- Fotografen aus Chiapas 97 Francisco Toledo: Der Kulturkämpfer Wer (ver)führt wen? 107 Frauen, Männer und die Macht Die Kometenfrau 107 Machismo (k)ein Mythos? 110 Die Jungfrau von Guadalupe: Schutzpatronin des säkularen Mexiko 114 Mächtige Frauen 116 Kampf der Kulturen 122 Mama PRI 126 Die Malinche: Übersetzung ist Verrat 128 Andere Macht Alltag statt Apokalypse 135 Mexiko offene Stadt Der Bauchnabel 135 Die (un)mögliche Metropole 141 Carlos Slim Helú: Der Unsichtbare 150 Piraten oder Investoren wem gehört das Centro Histórico? 154 Koexistenzen Orte, Räume, Ränder 157 Paco Ignacio Taibo II: Populär und autonom 168 Stadtindianer 180 Fridas Nachbar: Das Trotzki-Museum in Coyoacán 184 Ausklang 189 6
4 5. Herrschaft des Verbrechens 191 Die Mafia-Moderne als neuer Alltag Mörderische Stadt? Annäherungen an Ciudad Juárez 191 Die Frauenmorde Skandal ohne Ende 210 Modernisierung der Mafia Grenzgänge 235 Der Querdenker: Carlos Monsiváis 235 Die Traumfrau: Leonora Carrington 244 Die Vaterlandslose: Marianne Frenk-Westheim 251 Die Grenzsängerin: Lila Downs 260 Stilles Licht: Das neue mexikanische Kino 266 Tod und Sinnlichkeit: Das Fest der Toten 273 Anhang 277 Vom Vizekönigreich zum Bicentenario: Kleine politische Geschichte Mexikos 277 Zum Weiterlesen 286 Internetquellen 288 7
5 Wer oder was ist Mexiko? Es gibt einen eigenartigen Platz in Mexiko-Stadt, der fast immer leer ist. Er liegt etwas nördlich des kolonialen Stadtzentrums, ein Quadrat aus altrosa-grauen Quadern, nichts als Fläche. Flankiert wird er zur einen Seite von einem 13-stöckigen Wohnsilo, gegenüber steht eine barocke Kirche aus altem Stein, an die dritte Seite grenzt, etwas abgesenkt, ein weitläufiger Teppich aus Tempelresten in grünem Gras.»Platz der drei Kulturen«haben die Mexikaner das Ensemble genannt, das sich um die Fundamente der altmexikanischen Stadt Tlatelolco gruppiert. Im Sommer 1986 bin ich zum ersten Mal an der Metallabsperrung des Ruinenteppichs entlanggelaufen. Ich erinnere mich an das Staunen und den Anflug von Ehrfurcht, der mich überkam, als ich vor der steinernen Platte stand, die in einer Ecke mit Blick auf den freigelegten Pyramidensockel angebracht ist.»am 13. August 1521«, steht da in Stein gemeißelt,»fällt Tlatelolco, heldenhaft verteidigt von Cuauhtémoc, in die Hände von Hernán Cortés. Das war weder Sieg noch Niederlage, sondern die schmerzliche Geburt eines Mestizenvolkes, das das heutige Mexiko ist.«sagenhaft souverän schien mir das damals: dieses Wissen um die Gewalt der Geschichte, sich selbst als Nachfahren von Siegern und Besiegten zugleich zu sehen, die Anerkennung des anderen. Das alles erschien mir als Inbegriff eines zivilisatorischen Selbstbewusstseins. Der Blick ist heute, ein Vierteljahrhundert später, ein anderer. Die Mestizaje hat ihren Glanz verloren, die behauptete»mischung«ist 9
6 zwei fellos Wirklichkeit, fungiert aber eben auch als Ideologie der friedlichen Synthese zweier Welten. Doch der Platz von Tlatelolco hat für mich bis heute nichts von seiner Wucht und seltsamen Schönheit verloren. Und das, obwohl oder gerade weil er Schauplatz für manche Katastrophe der mexikanischen Geschichte war: die Besiegelung der Conquista mit der letzten Schlacht von Cuauhtémoc, viele Jahrhunderte später dann ein Massaker an protestierenden Studenten im Oktober 1968, im September 1985 zerstörte hier, mehr als anderswo in der Innenstadt, ein heftiges Beben Gebäude und Menschenleben. Heute ist er ein Ort der Stille im Lärm und Gewimmel der Megastadt, ein Platz, auf dem sich Vergangenes räumlich erspüren lässt, die Leere schafft Raum für Gleichzeitigkeit. Wenn der Zócalo, der immer wieder von Menschenmassen eingenommene Riesenplatz in der Mitte der Stadt el Ombligo, der Bauchnabel, ist, so die stillere, abseits der urbanen Routen gelegene Plaza von Tlatelolco so etwas wie sein Kontrapunkt. Mexikanische Gespaltenheit Mexicanidad, das sind die Götter mit den irren Namen, der Kriegsgott Huitzilopochtli (ausgesprochen Witziloposchtli), der Wassergott Tlaloc mit den beiden Kugelaugen oder Coatlicue, die mor dende Fruchtbarkeitsgöttin. Man trifft sie in Stadt und Land unaufhörlich an, als Embleme und Motive, literarisch, architektonisch, künstlerisch unendlich variiert. Doch mit einem wie auch immer gearteten Wesen des Mexikanischen hat Mexicanidad wenig zu tun. Das ist vielleicht besser als Collage von Eigentümlichkeiten beschrieben, wie sie in den folgenden Nachrichten-Splittern aufscheinen: Ein langwieriger Rechtsstreit endete Anfang 2010 damit, dass die mexikanische Starbucks-Filiale Strafgeld für die Nutzung von Motiven aus dem aztekischen Kalender zahlen muss, da dies von dem natio- 10
7 nalen Anthropologie-Institut ausdrücklich untersagt worden war. Fragt sich nur, an wen die Zahlungen gehen sollen, denn Azteken gibt es schon lange nicht mehr. Die prächtigste der prähispanischen Ruinenstätten, Chichen Itza auf der Halbinsel Yucatán, dient seit Neuestem, gegen den so erbitterten wie vergeblichen Widerstand der lokalen Anthropologen, als Bühne für Licht- und Sound-Spektakel; Placido Domingo war 2008 der Erste, es folgten Elton John und Paul McCartney.»Kulturtourismus«nennen das die Veranstalter. Aber auch dieses: Firefox kann mittlerweile auch in Maya-Sprachen bedient werden. Eine Gruppe von Maya-Informatikern hat den Browser in eine der über zwanzig Maja-Sprachen übersetzt, weitere sollen folgen. Das Bild von Mexiko als Land, dem seine Tragik gleichsam genetisch und daher unveränderbar eingeschrieben ist, hält sich hartnäckig auch bei den Mexikanern selbst. Dazu beigetragen hat nicht unwesentlich der berühmte Kulturessay Das Labyrinth der Einsamkeit von Octavio Paz, der sich der mexikanischen Gespaltenheit das Einswerden von Eroberern und Eroberten schon 1950 näherte. Paz beschreibt eine Reihe kultureller Muster das Rituelle und Zyklische, der Hang zur Maskierung und zur Opferung, der Fatalismus, die in ihrer Gesamtheit später oftmals als fatalistische»seele«mexikos missverstanden wurden. Dabei ging es dem Schriftsteller, wie er selber schrieb,»den Mexikaner nicht als Essenz, sondern als Geschichte«, also als Produkt historischer Gewalten darzustellen. Das mexikanische Wir ist bei Paz ausdrücklich männlichen Geschlechts, Frauen tauchen nur als Erbinnen der Chingada, der durch die Konquistadoren Vergewaltigten, auf. Dennoch lässt sich der Text auch als erste Analyse des in existenzieller Angst begründeten Machismo lesen.»das Mexikanische«oder gar der Nationalcharakter ist jedenfalls eine»erfindung«, konstatiert später auch der Anthropologe Roger Bartra in seinem Essay La jaula de la melancolía (Der Käfig der Melancholie, 1987). 11
8 Jenseits aller Normen Das heißt wiederum nicht, dass Mythen weltferne Fiktionen oder gar Lügenschleier über einer profanen Wirklichkeit seien.»euer deutscher Rationalismus hält den Mythos ja für eine Verzerrung«, hielt mir der Krimiautor und Polithistoriker Paco Ignacio Taibo II einmal vor. Die Mexikaner hingegen wüssten, so Taibo, dass Geschichte, Wirklichkeit und Gegenwart ohne die Macht der Mythen nicht zu verstehen sei, ob Pancho Villa oder Emiliano Zapata, Frida Kahlo oder Tina Modotti, die PRI oder 1968.»Ein Großteil des kollektiven Gedächtnisses ist in Mythen eingeschlossen«, schreibt auch Enrique Florescano im Vorwort seiner Sammlung von Mitos mexicanos (1995). Dies sind vor allem die Mythen des mexikanischen Alltags, des kollektiven Imaginären, Figuren wie der Indio, der Caudillo, der Präsident, der Mariachi, die Mutter oder der Narcotraficante, der Drogenhändler. Mythen werden leicht zu Stereotypen. Doch während Letztere in Ignoranz und Vereinfachung münden, begründen Mythen so etwas wie das kulturelle Wissen einer Gesellschaft von sich selbst, eben ihr Selbst-Bewusstsein, fusioniert aus all ihren Brüchen und Paradoxien. Denn es ist ja gerade das scheinbar Widersinnige, Surreale, das uns Außenstehende in Mexiko immer wieder in seinen Bann zieht. Im Alltag, aber auch im politischen Leben. Einige der Szenen, in denen Mythisches am Werke war und Geschichte sich für einen Moment verdichtete, haben sich in meine Erinnerung eingeschrieben. Eine Pressekonferenz im Sommer 1994 zum Abschluss einer mehrtägigen Versammlung im Lacandonen-Dschungel, am äußersten Rande von Chiapas, zu dem die Ejercito Zapatista de Liberación Nacional (EZLN) eingeladen hatte: Der maskierte Subcomandante Marcos, in nur wenigen Monaten zum leibhaftigen Mythos geworden, verkündet, er würde den Spekulationen nun ein Ende setzen und seine Maske abnehmen, hier und jetzt. Ein Raunen geht durch die Menge, Reporter zücken die Kamera, gespannte Erwartung. Er lässt abstimmen:»wer ist dafür, dass Marcos die Maske aufbehält?«eine 12
9 Schrecksekunde, dann geht ein Arm in die Höhe, weitere folgen, bald sind alle Hände oben. Die Spannung weicht, Erleichterung macht sich breit. Am 2. Juli 2000, abends, die Wahllokale sind geschlossen, Mexiko hat soeben einen neuen Präsidenten gewählt. Soll man nun zur Zentrale der Institutionell-revolutionären Partei (PRI) gehen, deren Macht nach sieben Jahrzehnten erstmals auf der Kippe steht? Oder lieber zur weit sympathischeren linken PRD, denen die Umfragen aber nicht viel versprochen haben? Die meisten Reporter entscheiden sich für den Sitz der konservativen PAN, an einer Schnellstraße in einem Mittelschichtviertel. Man wartet auf den Kandidaten und die Zahlen, ohne große Hoffnung, denn wann wären die Wahlergebnisse in Mexiko jemals so früh da gewesen? Punkt acht betritt PAN-Kandidat Vicente Fox den Raum und verkündet in knappen Worten seinen Wahlsieg. Der Abstand ist so groß, dass es keinen Zweifel mehr gibt. Der Saal tobt, alle klatschen, nach und nach stimmen auch die Journalisten ein. Ich sehe mir selber, staunend, beim Applaudieren zu. Was immer kommen mag, der PRI-Spuk ist vorbei, denke ich begeistert. Schließlich hatte selbst Taibo II mir einmal gesagt, um die Mafia wegzukriegen, würde er auch»mit dem Teufel paktieren«, schlimmer könne es nicht werden. Wir sollten uns beide irren. Im Frühjahr 2001, die Zapatistas sind in der Hauptstadt, sie wollen vor dem Parlament über die anstehende Indígena-Reformen sprechen. Alle Fernseh- und Radiokanäle haben auf Live-Berichterstattung geschaltet, auch die kommerziellen, alle Kameras und Reporter, alle Fernsehzuschauer warten auf Marcos. Doch wer dann auf die Rednertribüne tritt, ist nicht der Subcomandante, sondern eine gleichfalls maskierte Comandante, die sich als»esther«vorstellt und dem»ehrbaren Kongress«eine Dreiviertelstunde lang eine Lektion in politischer Ethik erteilt. Das Parlamentsgebäude wird in ihrer Rede zum»haus der Differenzen«, in dem Diversität und Autonomie möglich sind:»das ist das Land, das wir Zapatistas wollen.«ich 13
10 verfolge es auf dem Bildschirm, hingerissen, und sehe zu, wie hartgesottene Reporter nur Worte der Bewunderung finden. Sogar Konservative murmeln etwas von»beeindruckend«und»eloquent«in die Kameras. Neben der Macht des Mythischen zeigte der Zapatistenbesuch auch, wie sehr Politik in Mexiko Verhandlungssache ist, jenseits aller Normen. Dass maskierte Kämpfer einer klandestinen»befreiungsarmee«, die ihre Kriegserklärung gegen die Regierung bis heute nicht widerrufen hat, auf der Kongresstribüne sprechen können, ist zweifellos das Ergebnis geschickter Verhandlungen. Symptom für diese Verhandlungskultur ist allerdings auch, dass fünfhundert Vertreter aller Parteien anschließend so lange über den schon fertigen Gesetzesentwurf»verhandeln«, bis dieser nicht mehr wiederzuerkennen ist. Als das Gesetz beschlossen wird, im April 2001, ist damit der letzte Kontakt zwischen politischer Klasse und EZLN gekappt. Schließlich im Sommer 2006, auf dem Zócalo, die letzte Wahlveranstaltung des Präsidentschaftskandidaten der linken PRD, Andrés Manuel López Obrador. Die Umfragen sehen ihn vorne, die Anwesenden sowieso, im Nieselregen herrscht entspannte, aber erwartungsvolle Stimmung. Noch bevor der Kandidat selbst die blumengeschmückte Bühne betritt, füllt sich diese mit Frauen und Männern, bekannten und weniger bekannten Gesichtern, alle stellen sich dicht an dicht, den Blick nach vorne gerichtet. Dort stehen sie, stumm und stoisch, bis der Kandidat»von unten«durch die Menge zu ihnen kommt. Wir stehen hinter ihm, ist die Message, und zwar buchstäblich. López Obrador spricht staatsmännischer denn je, wie ein designierter Präsident, der nicht mehr gegen seine Konkurrenten wettert, sondern sein»alternatives Projekt der Nation«vorstellt. Zum Schluss regnet es Konfetti.»Lächle, wir werden siegen«ist der Slogan der Stunde. Zehn Tage später, als die ersten Hochrechnungen vollkommen überraschend der PAN einen halben Prozentpunkt mehr als dem Favoriten bescheren, ist das Lächeln vergangen. 14
11 Kämpfe und Erfahrungen Politikwissenschaftler oder ThinkTanks aus den USA debattieren seit einiger Zeit, ob Mexiko heute, zweihundert Jahre nach dem Beginn seiner Unabhängigkeit und hundert Jahre nach dem Auftakt seiner Revolution, als Failed State zu betrachten sei. Das mag Ausdruck imperialer Arroganz sein. Aber auch Oppositionelle und soziale Bewegungen sprechen immer häufiger vom Kollabieren des Staates, der in der Justiz, der Sicherheit und im Sozialen die Republik nicht mehr länger zusammenhalten könne. Die Situation in Mexiko gleiche einem»offiziell nicht erklärten Ausnahmezustand«, sagte Luis Hernández, leitender Redakteur der linken Tageszeitung La Jornada, auf einer internationalen Konferenz Anfang Über Menschen sind allein in den letzten drei Jahren im sogenannten Drogenkrieg ums Leben gekommen; es gibt eine neue, bestialische Qualität des Terrors. Auf der anderen Seite steht, was Menschenrechtler»das uniformierte Verbrechen«nennen, die Übergriffe durch Armee und Polizei in einer zunehmend militarisierten Gesellschaft. Und zwischen den Fronten finden sich jene schätzungsweise zehn Millionen Weder-noch-Jugendlichen, die weder arbeiten noch studieren die Zukunft des Landes. Mexikos Entwicklung ist nicht die linear voranschreitende Modernisierung, wie seine Machthaber die alten und die neuen immer wieder behaupten. Der Diktator Porfirio Díaz hatte vor genau hundert Jahren, anlässlich der ersten hundert Jahre Independencia, große Feiern inszeniert, die mexikanische Moderne mit ihren Lichtern, den Eisenbahnen und der Industrie wollte sich selbst zelebrieren. Die Geschichte machte ihr bekanntlich bald einen Strich durch die Rechnung, zwei Monate nach dem Jubiläumstag riefen die Revolutionäre zu den Waffen. Aber es ist eben auch nicht die ewige, schicksalhafte Wiederkehr des Immergleichen, Blutopfer und Aztekenpower, das falsche Pathos der Identität. Wenn es ein Credo gibt für dieses Buch, dann dieses: Mexiko als Schöpfung zu begreifen, 15
12 nicht als Essenz, als Fächer an Kämpfen und Erfahrungen, nicht als Schicksal. Daher wird hier nicht einmal ansatzweise versucht, das Land vollständig abzubilden, weder regional, historisch noch thematisch. Stattdessen werden Schlaglichter gesetzt auf jene Szenarien, die mir für das Mexiko des 21. Jahrhunderts relevant zu sein scheinen: Die Erinnerungskämpfe um Revolution und Unabhängigkeit, in denen sich mexikanisches Selbstverständnis spiegelt. Die neue, alle Grenzen überschreitende Macht der Mafias, ohne die, ob man mag oder nicht, über das heutige Mexiko nicht sinnvoll zu sprechen ist. Weit weniger spektakulär, aber nicht weniger bedeutsam ist die indigene Zivilgesellschaft, die Diversität jenseits der Muiltikulti-Floskel lebt und einfordert; dafür hat der Zapatismus mit seiner Losung»Nie wieder ein Mexiko ohne uns!«einen Point of no return gesetzt. Ähnlich zentral für die mexikanische Moderne ist die Frage, was an die Stelle des zerbröckelnden Machismo treten wird und was die Macht mit den Frauen macht. Mexiko-Stadt, sonst oft apokalyptisch imaginierte Megastadt, wird hier als Schauplatz öffentlichen Miteinanders, städtischer Räume, Kulturen und Konflikte in den Blick genommen. Und schließlich lässt sich die mexikanische Kulturproduktion heute, nachdem Schablonen wie»nationalkultur«und»magischer Realismus«überwunden scheinen, nicht anders denn als permanenten Grenzgang lesen. (Kein) Dank Einem Land oder einer Stadt kann man schlecht danken. Es ist ja kein Lehrmeister, Kollege oder Mentor, keine Sponsorin oder Herzensfreundin und auch kein Liebhaber, bei dem man sich für eine schöne Zeit bedankt. Dennoch ist dieses Buch das Produkt einer Art Liebesgeschichte, die, anders als andere, nun schon länger als mein 16
13 halbes Leben währt. Mexiko habe ich einen Gutteil von dem zu verdanken, was ich heute bin, tue und denke. Und wie das in der Liebe so geht: Der, die oder das andere erschließt sich immer wieder neu und anders, es gibt Faszination und Überdruss, Vertrautheit und Befremden, Leidenschaft und Irritationen. Und das andere muss für Leerstellen im eigenen Begehren herhalten. Selbstverständlich ist aller Nationalismus völkischer Unsinn, dennoch ist die einzige Hymne der Welt, die mir zuweilen unter die Haut geht, die mexikanische, mit diesem unmöglichen Text:»Mexicanos al grito de guerra «(Mexikaner, auf in den Krieg ). Und die einzige Fahne, die ab und an etwas in mir anrührt, ist die grün-weißrote, auf der mitten im Weiß ein Adler auf einem Kaktus sitzt und eine Schlange verspeist. Mexiko-Stadt war lange meine Wahlheimat. Das ist es heute nicht mehr, zumindest nicht als Lebensort auf Dauer.» Te gusta México?«, bin ich im Laufe der vielen Jahre ungefähr eine Million Mal gefragt worden. Die Frage erschien mir immer ähnlich sinnvoll wie»gefällt dir Berlin?«, meine Geburts- und immer wieder Heimatstadt, oder auch»magst du deine Mutter?«, was natürlich keiner je gefragt hat. Aber es gibt Fragen, die stellen sich einem auch selber nicht. Weil ihre Beantwortung einen Abstand voraussetzt, den man gar nicht verspürt. Danken könnte ich nun all meinen Gesprächspartnern, Freundinnen und Lieben, hier wie dort. Doch wäre das für Lesende unergiebig. Daher danke ich an dieser Stelle nur und sehr herzlich Andreas Simmen für sein kundiges Lektorat, vor allem aber für sein geduldiges Beharren darauf, endlich dieses Buch zu machen. 17
Kulturelle Evolution 12
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