Musikstunde mit Sabine Weber «Von schönen Formen» Folge 3 Adagio! Eine Kulturgeschichte der flotten Langsamkeit oder jede Note gestreichelt

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2 2 Musikstunde mit Sabine Weber «Von schönen Formen» Folge 3 Adagio! Eine Kulturgeschichte der flotten Langsamkeit oder jede Note gestreichelt Heute geht es nicht nur um eine schöne, sondern vor allem um eine zu Herzen gehende Ausdrucksform, meist an der Überschrift Adagio zu erkennen. Aber nicht unbedingt: 1) Länge: 4'36 Johann Sebastian Bach Air aus Ouvertüre Nr. 3 D-dur BWV 1068 Musica Antiqua Köln (Ltg) Reinhard Goebel ARCHIV Produktion Tropfende Basstöne und eine sehnsüchtig darüber gespannte Melodie. Musica Antiqua unter Reinhard Goebel mit der berühmten Air aus der Orchestersuite, Werkverzeichnis 1068 von Johann Sebastian Bach. Auch wenn Bach nicht Adagio, sondern Air über diesen zweiten Satz geschrieben hat, er besitzt die Qualitätsmerkmale des Adagio(s). Wenn wir Joseph Joachim Quantz und seiner Anleitung, die Flöte traversière zu spielen, glauben. Da heißt es: Ein wahres Adagio muss einer schmeichelnden Bittschrift ähnlich sein. Ein ganzes Kapitel widmet Quantz, Flötenvirtuose und Flötenlehrer Friedrich des II., der Kunst der schmeichelnden Bitte. Für den Instrumentalisten sei das Adagio, so Quantz, eine der größten Herausforderungen. Denn, salopp gesprochen: schnell kann jeder! Aber beim Adagio muss eine jede Note die richtige Betonung, ihr piano und forte haben, vor allem die langen Töne über einem schreitenden Bass, wie eben gehört. Und das Maß an Manieren und Verzierungen, also der kleinen Nötchen - zwischen den Hauptnoten verstreute Töne - muss wohl abgewogen und mit Geschmack ausgeführt werden. Nur so kann das Adagio den Zuhörer einnehmen, ihn erweichen und zärtlich stimmen. Und das Adagio, so Quantz, muss nicht unbedingt sehr langsam sein: 2

3 3 2) Länge: 3'02 Johann Joachim Quantz Cantabile aus der Sonate in B-dur Barthold Kuijken, Traversflöte, Wieland Kuijken Viola da gamba, Bob van Asperen, Cembalo ARCHIV Produktion Das Cantabile aus der Sonate in B-dur für Traversflöte und Basso continuo von Joseph Joachim Quantz. Mit Barthold Kuijken, Traversflöte, Wieland Kuijken, Viola da gamba und Bob van Asperen, Cembalo. Quantz, Flötenkomponist und Pädagoge, ist mit seiner Flötenschule einer der wichtigen Gewährsleute für das Spiel auf der Flûte Traversière, der Querflöte im 18. Jahrhundert. Das Adagiospiel hat er für so wichtig erachtet, dass er sich in einem ganzen Kapitel damit auseinandersetzt. Quantz hat übrigens zwischen einem langsamen, beziehungsweise schweren Adagio, dem Adagio assai, und dem Adagio cantabile einen Unterschied gemacht. Zu letzterem zählt er das eben gehörte Cantabile oder das Arioso, Larghetto oder poco Andante. Mit Adagio ist also nicht notwendig ein sehr langsam verbunden. Und das barocke Adagio war sicherlich nicht so langsam wie das romantische. Das bestätigt Quantz Zeitgenosse Johann Georg Sulzer. Er schreibt in seiner lexikalisch angelegten Allgemeinen Theorie der schönen Künste, dass die Bezeichnung Adagio mittelmäßig langsamen Tonstücken vorgesetzt würde. In England gibt es sogar unerhörte Geschwindigkeitszulassungen... 3) Länge: 0'42 Matthew Locke Saraband aus Music for His Majesty's Sugbutts & Cornetts The London Cornett & Sackbutt Ensemble EMI Eine schwungvolle englische Sarabande aus der Music for His Majesty's Sugbutts & Cornetts von Matthew Locke, aus einer Bläsersuite, die Locke für den Umzug von Charles The Second durch London anlässlich seiner Krönung 3

4 1661 komponiert hat. Bei dieser 'Saraband' hätte der König im schweren Ornat ja fast ins Stolpern kommen können. Die englischen Sarabanden dieser Zeit haben also nichts von der königlichen Gravität der französischen und deutschen. Also der Sarabanden eines François Couperins und Johann Sebastian Bachs. Und Lockes Komponistenkollege William Lawes hat in seiner Royall Consort Suite Nummer 10 in B-dur die Sarabande sogar zu einem flotten Kehraus gemacht! 4) Länge: 0'59 William Lawes Saraband aus Royall Consort Nr. 10 B-dur The Greate Consort (Ltg) Monica Huggett ASV GAU14 4 Eine Kehraus-Sarabande aus dem Royall Consort Nr. 10 in B-dur von William Lawes. Die flotten englischen Sarabanden aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts haben gar nichts gemein mit den gravitätischen Sarabanden, die ein halbes Jahrhundert später als reichlich verzierte Adagio(s) in den Instrumentalsuiten einen pompösen Platz beanspruchen. Der Vortrag muss wie in einem ausgezierten Adagio geschehen und Würde zum Ausdruck bringen! so der Musiktheoretiker Johann Georg Sulzer 1771 über die Sarabande. Aber noch viel interessanter ist, was Sulzer über die Ursprünge der Sarabande offenlegt: Die Sarabande sei ursprünglich aus Mittelamerika nach Spanien gekommen, wo sie als wilder und obszöner Tanz bei Peitschen- und Galeerenstrafe verboten gewesen sei. Vielleicht hatte der englische Ableger noch ein bisschen Wildheit im Blut. Im Laufe des 17. Jahrhunderts hat sich die langsame Variante durchgesetzt. Gesellschaftsfähig durch würdige Langsamkeit! Hoffähig durch gestelzte Erhabenheit! 4

5 5 5) Länge: 3'33 Marin Marais Sarabande aus Suite in g-moll 5 ème livre (1725) Wieland Kuijken, Kaori Uemura, Viola da gamba, Robert Kohnen, Cembalo ACC Eine Sarabande von Marin Marais, Hofkomponist Ludwig des XIV. und komponiert für das noble Hofinstrument der Basse de viole, der französischen Viola da gamba, mit Basso continuo-begleitung. Für die swr2- musikstunde spielten Wieland Kuijken, Kaori Uemura und Robert Kohnen. Um das Adagio geht es heute und gerade um die Sarabande, als eine Form des Adagio(s). An dieser Stelle noch ein kleiner Nachtrag zur englischen Sarabande. Denn auch in der splendid isolation hört man von der ausdrucksstarken langsame Form. Spätestens als ein junger Deutscher namens Georg Friedrich Händel 1711 in London seine erste Oper herausbringt. Und mit dieser bewegenden Arie, deren Rhythmus bekannt sein dürfte, das Publikum zu Tränen rührt. 6) Länge: 3'56 Georg Friedrich Händel Lascia ch'io pianga, Arie der Almirena aus Rinaldo HWV 7 Ewa Mallas-Godlewska/ Derek Lee Ragin Les Talens Lyriques Christophe Rousset AUVIDIS K1005 Eine herzergreifende Liebesklage im Sarabanden-Rhythmus. Die Arie der Almirena aus der Oper Rinaldo von Georg Friedrich Händel. In der eben gehörten Aufnahme wurden übrigens eine Sopran- und eine Countertenorstimme unhörbar zusammengemischt, die von Ewa Mallas- Godlewska und Derek Lee Ragin. Die Aufnahme entstand 1993 für den Farinelli-Film von Gérard Corbiau. Da sollte der berühmte Kastrat Farinelli beim Vortrag etwas Männliches und Weibliches haben. Das Orchester Les Talens 5

6 6 Lyriques wurde von Christophe Rousset geleitet. In der heutigen swr2-musikstunde geht es um das Adagio. Und wir bleiben auf der Opernbühne, wo das Adagio jetzt auch kämpferische Seiten zeigt. Kaum hat ein Theaterdirektor namens Buff zwei Diven engagiert, gibt es Zickenkrieg. Und Madame Herz hat Adagio! zu ihrem Schlachtruf erkoren. Sie versucht mit Adagio-Fallstricken die Koloraturdame im Allegro-Modus zu Fall zu bringen. Monsieur Vogelsang ist da mit seinen pianissimo-rufen ziemlich hilflos. Diese Szene ist eine karikaturistische Momentaufnahme aus dem damaligen Operngeschäft. Wolfgang Amadeus Mozart hat sie in eine Singspielform gebracht. Das Streit-Terzett aus dem Schauspieldirektor ist natürlich der Höhepunkt. Und in dieser Aufnahme Madame Herzens Adagio-Ruf. Ein Moment, in dem der Herzschlag stockt. 7) Länge: 6'28 Wolfgang Amadeus Mozart Terzett aus Der Schauspieldirektor KV 486 Edita Gruberova, Kiri Tekanawa, Sopran, Uwe Heilmann, Tenor, Wiener Philharmoniker (Ltg) John Pritchard DECCA Bis zum hohen, dreigestrichen f ging der Adagio-Ruf von Madame Herz, hier unvergessen inszeniert von Edita Gruberova. Aber weder das Adagio, noch das Allegro, vertreten durch Kiri Tekanawa, setzt sich durch. Es wird sich geeinigt in Wolfgang Amadeus Mozarts Singspiel Der Schauspieldirektor. Dazu hat auch der beschwichtigende Monsieur Vogelsang, alias Uwe Heilmann, mit deeskalierenden piano-rufen beigetragen. In dieser Aufnahme mit den Wiener Philharmonikern unter John Pritchard. Von der Vortragsbezeichnung Adagio handelt die heutige swr2-musikstunde. Und von dessen Wunderwirkung. Denn ein Adagio kann seinen Komponisten unsterblich machen. Das hat der 6

7 7 Historiker, Staatswissenschaftler und Oberbibliothekar der Königlichen Bibliothek zu Berlin Wilhelm Altmann behauptet. Genauer: dieses Adagio hätte Anton Bruckner ausgereicht, um ihn unsterblich werden zu lassen. Mit diesem Wort hat sich der musikbegeisterte und musikschriftstellerisch unermüdlich tätige Professor Altmann auch selbst unsterblich gemacht. Denn er wird, wenn von Anton Bruckners Streichquintett in F-dur gesprochen wird, beziehungsweise von dem Adagio-Satz daraus, immer zitiert. Aber was macht dieses Adagio so außergewöhnlich, so überirdisch? Das weich samtig abgedunkelte Timbre der Tonart Ges-dur etwa, weil kaum einer der fünf Streicher eine leere Saite erklingen lassen kann. Oder sind es die beiden Themen, die Bruckner wie von oben aufgenommen durch ein sanftes Klangpanorama reisen lässt. Und durch alle Stimmen, denn die Streicher behandelt Bruckner gleichberechtigt. Das zweite Thema stellt nach ungefähr zwei Minuten die zweite Bratsche vor. Ich glaube, es ist vor allem die fast durchgängig langsame und fast verklärte Bewegung. Diese knapp 13 Minuten lassen die Zeit still stehen. 8) Länge: 12'42 Anton Bruckner Adagio aus Streichquintett in F-dur Iona Ratiu, Pierre-Alain Chamot, Violinen, Eva Maria Gambino, Katharina Arnold, Bratsche, Johannes Wohlmacher, Violoncello Konzertmitschnitt WDR3 Das Adagio aus dem Streichquintett in F-dur von Anton Bruckner. Und es ist schon eine Volte des Schicksals, dass zu Lebzeiten des Symphonikers Bruckner ausgerechnet ein Kammermusikwerk das meist aufgeführte und bekannteste seiner Werk gewesen ist. Dieses Streichquintett in F-dur wegen des Adagiosatzes... Die swr2-musikstunde nähert sich ihrem Ende. Nach einem Adagio, das seinen Komponisten unsterblich gemacht hat, ein weiteres, das Musikgeschichte geschrieben hat. Das Adagio for strings von Samuel Barber bittet der 7

8 8 berühmte Dirigent Arturo Tosacanini den jungen Samuel Barber, sein ein Jahr zuvor komponiertes Streichquartett doch bitte für Streichorchester zu bearbeiten. Und in dieser Fassung, uraufgeführt in New York, tritt das Werk seinen Siegeszug durch die Konzertsäle an. Vor allem der 2. langsame Satz, das als Adagio for strings in Streichorchesterfassung das populärste Werk von Samuel Barber wird. Davon war der amerikanische Komponist natürlich nicht begeistert, weil dieses Werk sein weiteres kompositorisches Schaffen überschattet hat. Was Barber allerdings nicht dran gehindert hat, dieses Erfolgs-Adagio nach 30 Jahren wieder zu verwerten und mit dem lateinischen Agnus Dei - Text des Messordinariums für Chor zu bearbeiten. So ist dieses Adagio auch noch zu einer spirituellen Note gekommen. Komponiert hat der amerikanische Komponist Barber das Streichquartett als 20jähriger während eines Europa-Aufenthaltes. Mit seinem Herzstück aus volltönigen, langsamen Akkorden, über denen eine Violinmelodie in gedehnten Tönen schwebt. Wir hören das Adagio als Abschlussmusik der heutigen swr2 musikstunde in der Originalfassung. Und wenn Sie, liebe Hörerinnen und Hörer, festgestellt haben, dass der Tonfall heute sehr ruhig, zu ruhig gewesen sei, so geht es in der morgigen swr2-musikstunden-formenkunde auf den Rummelplatz und vom Harem in den Salon. Der Walzer ist die Form von Morgen und sorgt für Turbulenzen! Und ich hoffe, Sie sind morgen wieder mit dabei! Für heute hat das Emerson String Quartet ein letztes ruhiges Wort. Mit dem Adagio aus dem Streichquartett Nummer 1 Opus 11 von Samuel Barber. 9) Länge: 6'53 Samuel Barber Adagio aus Quartett Nr. 1 h-moll op. 11 Emerson String Quartet DG