Grußwort von Kulturstaatssekretär André Schmitz anl. der Ausstellungseröffnung Nelly Sachs am im Jüdischen Museum Berlin
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- Stephanie Pfaff
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1 1 Grußwort von Kulturstaatssekretär André Schmitz anl. der Ausstellungseröffnung Nelly Sachs am im Jüdischen Museum Berlin Sehr geehrte Frau Kugelmann, sehr geehrte Frau Jacoby, sehr geehrte Frau Völckers, sehr geehrte Frau Unseld-Berkéwicz, sehr geehrter Herr Enzensberger, sehr geehrter Herr Fioretos, meine Damen und Herren, am 21. Oktober 1965 die Buchmesse in Frankfurt, die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels in Anwesenheit des Herrn Bundespräsidenten, der Empfang ihres Verlags alles lag hinter ihr da bestieg die 1891 in Berlin-Tiergarten als einziges Kind jüdischgroßbürgerlicher Eltern geborene Nelly Sachs das Flugzeug nach Berlin und landete in Tempelhof. Dort, wo sie ein Vierteljahrhundert zuvor, im Mai 1940, mit dem letzten zivilen Flugzeug, zusammen mit ihrer Mutter, ins Exil nach Stockholm geflogen war. Am Flughafen erwarteten sie Marie Hirsch, die Kulturdezernentin des Bezirks Tempelhof, und die Schriftstellerin Ingeborg Drewitz. Nelly Sachs wurde im Hotel am Zoo einquartiert. Die Kulturdezernentin drängte die vor dem Hotel wartenden Journalisten ab. Doch die Dichterin sah und registrierte sehr bewusst, als sie aus dem Wagen stieg, einen Herrn, der sich tief vor ihr verbeugte. Seine Geste drückte aus, was Berlin im Oktober 1965 empfand: Dankbarkeit und Respekt, Neugier und Verlegenheit, Nähe und Distanz angesichts der Rückkehr von Nelly Sachs in ihre Heimatstadt.
2 2 Am nächsten Tag fuhr Ingeborg Drewitz die Dichterin durch alt vertraute Gegenden: Nelly Sachs freute sich über die Rousseauinsel und den Neuen See im Tiergarten, sie erkannte die Ruderboote wieder, die darauf fuhren. Ganz in der Nähe, in der Lessingstraße, war sie groß geworden, in der Maaßenstraße stand ihr Geburtshaus. Es gab eine Lesung in der Kunsthochschule, einen Empfang zu ihren Ehren im Charlottenburger Schloss, am nächsten Tag fuhr man in den Grunewald, besuchte die Pfaueninsel und den Schlachtensee. Eine nahezu harmonische Reise, gäbe es nicht ein scheinbar beiläufiges Detail, das uns Aris Fioretos überliefert hat. Im Hotel waren die Zimmer neben Nelly Sachs Raum für Bengt und Margaretha Holmqvist, ein befreundetes Ehepaar, aus Stockholm reserviert eine Sicherheitsmaßnahme, falls Nelly Sachs unruhig würde. Fünf Jahre zuvor, 1960, hatte ihre erste Wiederbegegnung mit Deutschland, am Bodensee, die Dichterin so aufgewühlt, dass sie einen schweren seelischen Zusammenbruch erlitten hatte. Sie blieb ängstlich, aufstörbar, fühlte sich verfolgt. Eine Krankheit? Vielleicht, aber in diese Krankheit, meine Damen und Herren, müssen wir uns alle und unsere Geschichte mit einbeziehen. Sie ist die bittere Konsequenz des Überlebens, der Schuldgefühle, des fortwährenden Schreckens der Verfolgung. Dieser Schrecken hat Nelly Sachs die Ausstellung zeigt es eindringlich bis zu ihrem Lebensende nicht verlassen. So gesehen, verliefen die Tage von Nelly Sachs Berlin-Besuch vor 45 Jahren ruhig, äußerlich ruhig.
3 3 Heute eröffne ich mit Ihnen, und ich bin allen, die dies ermöglicht haben, zutiefst dankbar, die erste große und umfassende Ausstellung über Nelly Sachs im Jüdischen Museum, eine Ausstellung über Leben und Werk, über den Meridian, der von Berlin nach Stockholm reicht, ein Meridian des Schmerzes, wie die Dichterin selber sagte, über den Weg, der Nelly Sachs ein einziges Mal 1965 in ihre Heimatstadt Berlin zurückführte. Zwei Jahre später, am 14. Juli 1967, wurde Nelly Sachs in absentia zur 76. Ehrenbügerin von Berlin ernannt, eine Frau, wie es in der offiziellen Begründung hieß, die durch ihr künstlerisches Werk für das Leiden und die Versöhnung des verfolgten Menschen mit seinem Schicksal und mit seiner Heimat einen allgemeingültigen Ausdruck gefunden hat. Gewiss, das war gut gemeint; und doch wird man das Gefühl nicht los, dass im Nachkriegsdeutschland der Begriff der Versöhnung allzu schnell gebraucht wurde und dass vor allem eine Versöhnung des Tätervolks mit sich selber gemeint war. Schon in der Begründung des Friedenspreises hatte es zwei Jahre zuvor geheißen, Sachs Werk stehe ein für das jüdische Schicksal in unmenschlicher Zeit und versöhnt ohne Widerspruch [sic!] Deutsches und Jüdisches. Von Versöhnung hatte die Preisträgerin so wenig wie unsere Ehrenbürgerin gesprochen. Wohl aber davon, dass sie ihre Scheu überwunden habe, ihre frühere Heimat zu besuchen, um, so Nelly Sachs, den neuen deutschen Generationen zu sagen, dass ich an sie glaube.
4 4 Berlins jüdische Lyrikerinnen haben der Welt einzigartige, große Werke geschenkt. Ich nenne nur beispielhaft die Gedichte von Else Lasker- Schüler und Gertrud Kolmar. Die ältere Else Lasker-Schüler war im Januar 1945 in Jerusalem gestorben, voller Sehnsucht, Heimweh und Schmerz. Die drei Jahre jüngere Gertrud Kolmar war im Februar 1943 im Rahmen der sogenannten Fabrikaktion verhaftet und deportiert worden. Sie wurde in den ersten Märztagen 1943, wie wir vermuten, in Auschwitz umgebracht. Nelly Sachs war in diesem deutsch-jüdischen Dreigestirn die Stimme der Überlebenden. Ihr einsames Überleben hat ihr Werk geprägt. Doch zugleich zeigt diese Ausstellung auch die Gemeinsamkeit, die alltägliche wie poetische Gemeinschaft, die Nelly Sachs unter den jüngeren Dichtern Schwedens fand. Ihre Hauptwerke hat die Dichterin mit über fünfzig Jahren verfasst und sie durfte die weltweite Wirkung noch erleben wurde ihr dichterisches Werk mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. An ihrem 75. Geburtstag, dem 10. Dezember. Ich bin, Ihnen liebe Frau Unseld-Berkéwicz sehr, sehr dankbar, dass der Suhrkamp Verlag als erste Werkausgabe an seinem neuen Standort Berlin die Bücher von Nelly Sachs herausbringt. Die Wanderausstellung und die Werkausgabe gehören schon durch den Kurator und Herausgeber Aris Fioretos zusammen. Lassen Sie mich, meine Damen und Herren, noch einmal zu jenem Oktobertag 1965 und der wie beiläufigen Geste jenes unbekannten Berliners vor dem Hotel am Zoo zurückkehren.
5 5 Ich verbeuge mich vor Nelly Sachs und wünsche der Ausstellung viele neugierige Besucher, der Werkausgabe viele Leser, zumal jüngere. Enttäuschen wir den Glauben nicht, den die Dichterin uns schenkte.
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