Thomas Bronisch Der Suizid Ursachen, Warnsignale, Prävention
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1 Unverkäufliche Leseprobe Thomas Bronisch Der Suizid Ursachen, Warnsignale, Prävention 144 Seiten mit 2 Abbildungen. Broschiert ISBN: Weitere Informationen finden Sie hier: Verlag C.H.Beck ohg, München
2 I. Einleitung Denn die einen sind im Dunkeln Und die andern sind im Licht. Und man siehet die im Lichte Die im Dunkeln sieht man nicht. Bertolt Brecht: Dreigroschenoper Suizid und Suizidversuch sind Verhaltensweisen, die nur dem Menschen eigen sind. Sie berühren fundamental seine Existenz und setzen Selbstreflexion voraus, d. h. ein bewusstes Handeln mit der Konsequenz bzw. dem Versuch, die eigene Existenz auszulöschen. Bemerkenswerterweise werden in dem Buch Das Ich und sein Gehirn von dem Philosophen Sir Karl Popper und dem Gehirnphysiologen Sir John Eccles (1977), welches sich mit der den Menschen von allen anderen Lebewesen trennenden Eigenschaft der Selbstreflexion auseinandersetzt, die Fähigkeit des Menschen, Feuer herzustellen, und das Bedürfnis, die Toten zu begraben, als erste Zeichen der Selbstreflexion der Spezies Mensch angesehen. Wir können nicht wissen, ob der Vorzeitmensch Hand an sich gelegt hat, aber schon in der Bibel, und zwar sowohl im Alten als auch im Neuen Testament, findet man eine Reihe von Suiziden. Insgesamt gibt es 16 Beschreibungen möglicher Suizidakte: Im Neuen Testament wird zweimal Judas Ischariot erwähnt. Auffallend ist, dass sich in der Bibel kein ausdrückliches Verbot des Selbstmordes findet, während im Talmud und im Koran eindeutig Stellung gegen den Selbstmord genommen wird. Auch in der Antike bei den Griechen und Römern werden Suizide berichtet, welche anekdotisch und verstreut über die gesamte Dichtung und Geschichtsschreibung zu finden sind. Die Einschätzung des Suizides hängt bei diesen Völkern sehr von
3 10 I. Einleitung den religiösen Anschauungen einzelner Epochen und den Einstellungen einzelner philosophischer Schulen ab. Der Suizid war und ist in der geschriebenen Geschichte eine umstrittene Handlung. Während in der Bibel und der Antike der Suizid auch eine vertretbare oder sogar erwünschte Lösung eines sonst unlösbaren Konfliktes sein konnte, wurde im 5. Jahrhundert der Begriff «Selbstmörder» vom Kirchenvater Aurelius Augustinus in De civitate dei ( ) eingeführt, der den Selbstmord hinsichtlich der moralischen Bewertung dem Mord gleichstellte und damit einen Schlusspunkt hinter die Debatte über die Bewertung von Suizidhandlungen setzte. Um die Selbsttötung als negative Tat charakterisieren und sie wie einen Mord an einem anderen Menschen werten zu können, wurde auf dem Konzil von Arles 452 erklärt, dass der Selbstmord ein Verbrechen sei und die Folge des furor diabolicus darstelle. Ein Jahrhundert später wurde angeordnet, dem Leichnam eines Selbstmörders das christliche Begräbnis zu verweigern. Die Kirche des christlichen Mittelalters, repräsentiert durch Thomas von Aquin in Summa theologica II III, verurteilte den Suizid dezidiert (1271/72). Das erstmals 1177 gebrauchte Wort «Suizid» wurde erst in der Neuzeit systematisch verwendet. Das Konzil von Nîmes im Jahre 1184 machte die Verdammung des Selbstmordes zu einem Teil des kanonischen Rechtes. Durch die Verflechtung von staatlicher und kirchlicher Gewalt im Mittelalter wurde die kirchliche Verdammung des Selbstmordes in vielen europäischen Staaten in die gesetzlichen Bestimmungen aufgenommen. Als erstes Land strich Frankreich während der Revolution 1790 den Selbstmord von der Liste der gesetzlichen Verbrechen, Preußen folgte sechs Jahre später. Österreich schloss sich dieser Entwicklung erst im Jahre 1850 an. Als letztes europäisches Land schaffte Irland 1986 ein Gesetz ab, das Selbstmord als Verbrechen mit Mord gleichsetzte und versuchten Selbstmord als Vergehen bewertete, das strafrechtlich verfolgt wurde. Im Jahr 1983 wurde in der katholischen Kirche das Bestattungsverbot für Suizidenten aufgehoben. Noch heute bestehen diese Einschränkungen fort und haften
4 I. Einleitung 11 auch an verschiedenen Begriffen für die Tatsache des Hand-ansich-Legens: «Freitod» (Améry 1976), «Selbstmord» als Vergehen in den christlichen Religionen bzw. Selbstmord als Abschluss einer krankhaften Entwicklung (Ringel 1953). In diesem Buch wird der neutrale und in der wissenschaftlichen Literatur verwandte Begriff des «Suizides» bzw. «Suizidversuches» gebraucht, entsprechend dem lateinischen sui cidium (Selbsttötung) bzw. sui caedere (sich töten), Suizident ist derjenige, der eine Suizidhandlung unternimmt. Bis zum heutigen Tage ist der Suizid ein Tabu geblieben. Kaum jemandem ist es z. B. bekannt, dass in der Bundesrepublik Deutschland (alte und neue Bundesländer) schon seit mehr als einem halben Jahrzehnt die Zahl der Suizidtoten die der Verkehrstoten deutlich übersteigt. In Deutschland (alte und neue Bundesländer) nahmen sich im Jahr Männer und 2603 Frauen das Leben, d. h. insgesamt Das entspricht der Einwohnerzahl einer mittleren Kleinstadt. Bei den Todesursachen in der Altersgruppe der 15- bis 35-Jährigen steht der Suizid nach Unfällen an zweiter Stelle. Mit der höheren Lebenserwartung steigen auch weiterhin die Suizidzahlen, zumal mit höherem Lebensalter die Suizidrate zunimmt. Weltweit übersteigt die Zahl der Suizidopfer mittlerweile die Gesamtzahl der Toten durch Mord, Kriege, Unfälle und AIDS. Es lässt sich nur spekulieren, warum trotz des durch seine Häufigkeit schon kaum zu übersehenden Problems der Mantel des Schweigens und Verleugnens über das Phänomen Suizid gelegt wird. Ist es das Verdikt fast aller Religionen oder die noch gar nicht so lange zurückliegende Strafandrohung des Staates, oder ist es eine uns allen innewohnende selbstzerstörerische Tendenz, wie es der Psychiater und Psychoanalytiker Karl Menninger 1938 annahm, die wir verleugnen müssen? In jedem Falle scheint es geboten, diesem Thema nicht weiter auszuweichen. Eine Monographie über Suizid und Suizidversuch zu schreiben, ist nicht leicht. Das Thema spannt sich von der Medizin zur Psychologie, von der Soziologie zur Anthropologie, von der Philosophie zur Religion, von der Literatur über die Oper bis hin
5 12 I. Einleitung zur bildenden Kunst. Das Wissen, das dieses Buch vermitteln will, stützt sich auf empirische Studien, d. h. Studien, die mit Gruppen von Personen mit suizidalem Verhalten und evtl. auch mit Vergleichsgruppen (Personen ohne suizidales Verhalten) durchgeführt worden sind, wobei objektivierende Untersuchungsmethoden (z. B. Fragebögen oder Interviews) zur Anwendung kamen. Sir Karl Popper hat in seinem wissenschaftstheoretischen Werk Logik der Forschung (1934) die Grundprinzipien empirischer Forschung formuliert, nämlich dass ständig Hypothesen gebildet werden, die grundsätzlich falsifizierbar (widerlegbar) sind. Je länger eine Hypothese nicht durch weitere empirische Studien widerlegt werden konnte, desto größeren Wert hat sie. Nur äußerst selten gelingt es, Hypothesen zu verifizieren (bestätigen). Dennoch muss und will ich auch auf individuelle Beobachtungen und persönliche Erfahrungen zurückgreifen, da die empirische Forschung in vielen Bereichen bis jetzt noch nicht ausreichend tätig war oder ihr der Zugriff versperrt ist und vielleicht auch immer versperrt bleiben wird. Mit einem historischen Abriss der Forschungsentwicklung auf dem Gebiet der Suizidologie und einer Darstellung der begrenzten Aussagekraft von wissenschaftlichen Ergebnissen soll dem Leser ein größeres Verständnis für die einzelnen Problemstellungen und eine bessere Bewertung der Forschungsergebnisse ermöglicht werden. Es liegt in der Natur der Sache «Suizid», dass es keine absolut objektive Bewertung gibt. Ich bin mir meiner Herkunft als klinisch tätiger Psychiater und Psychotherapeut sowie als empirischer Wissenschaftler bewusst und hoffe dennoch, andere Disziplinen wie Philosophie und Soziologie ausreichend würdigen zu können. Das Buch gliedert sich in folgende Kapitel: Definition und Beschreibung von suizidalen Verhaltensweisen, Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Suizid und Suizidversuchen, Epidemiologie, Klinik, Entstehungstheorien, Suizid als existenzielles Problem, Suizid und Sterbehilfe, Prävention und Postvention sowie
6 X. Therapie Der Übergang von Prävention zur Therapie von Suizidalität ist fließend. Bei der Beschreibung der Kriseninterventionszentren wurde schon deutlich, dass die Teams aus Laienhelfern und professionellen Helfern zusammengesetzt sind und es nicht dabei bleibt, einen drohenden Suizidversuch zu verhindern, sondern es auch darum geht, die Patienten nach einem solchen Ereignis zu betreuen. Professionelle Hilfe und die Behandlung nach einem Suizidversuch mit dem Ziel der Verhütung eines weiteren Suizidversuchs sollten als Kriterien eine Therapie gegenüber einer Prävention von Suizidalität abgrenzen. Es ist zweckmäßig, bei der Therapie von Suizidalität zu unterscheiden zwischen aktueller Krisenintervention und psychiatrisch-psychotherapeutischer Behandlung, zwischen Pharma kotherapie, Psychotherapie und sozialtherapeutischen Maßnahmen sowie speziellen Einrichtungen zur Behandlung von Suizidpatienten. 1. Krisenintervention Zentral ist hier die Herstellung einer hilfreichen Beziehung. Sie umfasst dabei Aspekte von Fürsorge und Schutz, Klärung von Konflikten, medizinische Versorgung, Diagnosestellung und Therapie einer zugrunde liegenden psychiatrischen Störung. Fürsorge und Schutz bedeuten vornehmlich Schutz des Lebens des Suizidenten, d. h. eine akute medizinische Versorgung. Dies kann folgende Maßnahmen beinhalten: eine Aufnahme auf eine internistische Intensivstation zur Entgiftung, eine Überweisung in eine chirurgische Nothilfe zur operativen Versorgung oder auf eine geschlossene psychiatrische Station bei weiterbestehender akuter Suizidgefahr. Diagnosestellung bedeutet vor
7 110 X. Therapie allem die Abklärung einer psychiatrischen Störung, wie etwa Depression, Panikstörung, Suchterkrankung, Schizophrenie. Klärung von aktuellen Konflikten beinhaltet z. B. die Klärung von Partnerschaftskonflikten oder Eltern-Kind/Jugendlichen Konflikten. Therapie der zugrunde liegenden psychiatrischen Störungen bezieht sich z. B. auf Depression, Panikstörung, Suchterkrankung, Schizophrenie. Man kann zwischen psychotherapeutischer und psychia t rischer Krisenintervention unterscheiden. Bei der psychotherapeutischen Krisenintervention empfiehlt sich folgendes Vorgehen: Akzeptieren des suizidalen Verhaltens als Notsignal; Verstehen der Bedeutung und subjektiven Notwendigkeit dieses Notsignals; Bearbeitung der gescheiterten Bewältigungsversuche; Aufbau einer tragfähigen Beziehung; Wiederherstellen der wichtigsten Beziehungen; gemeinsame Entwicklung alternativer Problemlösungen; gemeinsame Entwicklung alternativer Problemlösungen auch für künftige Krisen; Kontaktangebot als Hilfe zur Selbsthilfe. Der allerwichtigste Punkt ist dabei der Aufbau einer tragfähigen Beziehung, in der sich der Therapeut auf die Beziehung zum Suizidgefährdeten einlässt oder dafür sorgt, dass dieser eine weiterführende Betreuung erhält. Suizidale Patienten neigen dazu, ihnen angebotene Hilfe nicht wahrzunehmen oder abzulehnen, und zwar umso häufiger, je größer der zeitliche Abstand zwischen dem Suizidversuch und dem therapeutischen Angebot ist. In mehreren Studien wurden verschiedene Strategien der Nachsorge für Suizidpatienten getestet. Die Ergebnisse dieser Studien können wie folgt zusammengefasst werden: Die Inanspruchnahme von Nachbetreuungseinrichtungen kann oft schon dadurch erreicht werden, dass der erstbehandelnde Arzt mit der Nachbetreuungseinrichtung einen festen Termin vereinbart oder darauf achtet, dass der Patient einen solchen Termin ausmacht. Noch besser wird die Nachbetreuung akzep
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