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1 2 SWR2 Tandem - Manuskriptdienst Von der Theiß an den Rhein Wie Rudis Familie in Deutschland Fuß fasst Redaktion: Regie: Eggert Blum Rudolf Linßen Eggert Blum Sendung: Donnerstag, um Uhr in SWR2 Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Mitschnitte der Sendungen SWR2 Tandem auf CD können wir Ihnen zum größten Teil anbieten. Bitte wenden Sie sich an den SWR Mitschnittdienst. Die CDs kosten derzeit 12,50 Euro pro Stück. Bestellmöglichkeiten: 07221/ Einfacher und kostenlos können Sie die Sendungen im Internet nachhören und als Podcast abonnieren: SWR2 Tandem können Sie ab sofort auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter oder als Podcast nachhören: Kennen Sie schon das neue Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/ oder swr2.de 1

2 MANUSKRIPT: Ein zweijähriger Junge, der gerade laufen gelernt hatte, zwischen den Hühnern auf einer staubigen Dorfstraße in jenem flachen Land an der unteren Theiß, das Vojvodina heißt: So hatte ich Rudolf N. in Erinnerung. Die Vojvodina gehörte zu Jugoslawien, und die Familie gehörte zur dort lebenden ungarischen Minderheit, und als ich in den siebziger Jahren durch Jugoslawien reiste und Rudolfs Familie kennenlernte, ahnte niemand, dass dieser Vielvölkerstaat sich einmal in einem Bürgerkrieg selbst zerstören würde. Durch die Zufälle des Lebens verlor ich Rudi, wie ihn Familie und Freunde nennen, später aus den Augen, ja ich vergaß ihn fast. Bis mich Anfang letzten Jahres inzwischen waren Internet und Facebook erfunden worden eine erreichte: Hier ist Rudi, erinnerst du dich noch? Ich wohne und arbeite jetzt bei dir in der Nähe. Und so erfuhr ich, dass der inzwischen 39 Jahre alte Rudolf einer von über Ungarn ist, die im letzten Jahr ihr Land verlassen haben, um in Deutschland zu arbeiten. Klar, dass ich mich sofort ins Auto setzte und ihn aufsuchte, in seiner gerade angemieteten Drei-Zimmer-Wohnung. Sie liegt auf dem Land, in Feldkirch, einem Ortsteil von Hartheim, etwa 20 Kilometer südlich von Freiburg. Rudi, finde ich, hat mit dieser Wohnung Glück gehabt. Vermieter ist ein freundlicher Mann. Vorgestern hat er mir gesagt, dass er hilft mir bei Amt, sehr freundlich. Und Kaltmiete ist 445, in Freiburg so ein Wohnung wie das ist nicht 600 warm, sondern 1000 Euro warm Euro, das wäre zu viel bei einem Monatslohn von brutto von dem auch die Frau und zwei Kinder leben sollen. Seit einem dreiviertel Jahr arbeitet Rudi als Pfleger in einem Altenheim in der Nähe. Er hatte die Stelle im Internet gefunden Pfleger fehlen in Deutschland, so dass Dienste und Heimbetreiber gezwungen sind, über private Arbeitsvermittler europaweit neue Kräfte anzuwerben. Bisher war Rudi bei der Schwester seiner Frau untergekommen, die schon länger in Deutschland lebt. Aber in wenigen Wochen kommt seine Familie nach, bis dahin muss die Wohnung fertig sein. Und das bedeutet, wenn man sparen muss: Selber streichen. Und erste Erfahrungen mit einem Kernbestand deutscher Leitkultur zu machen, dem Labyrinth der Baumärkte. Der Wohnungsflur muss tapeziert werden, das traut sich Rudi nicht zu, für 12 Euro die Stunde hilft ihm der Nachbar. Nachbar: A, weil ich s Geld brauchen kann, B, weil er eigentlich sehr nett ist, bloß wie ich s zugesagt hab, wußte ich das ja noch nicht. Also ob da jetzt einer von Ungarn kommt oder von Kongolesien oder aus Australien, oder, das ist mir egal, ich hab da also keine Probleme damit. - Darf ich Ihnen einen Tipp geben? Geben Sie lieber zwei Euro mehr für ne Rolle aus. Die Tapete hat eine Angewohnheit, ne billige, die dehnt sich, wenn sie nass wird, also wenn man Kleister drauf macht. Das heißt, die Bahn geht dann eineinhalb bis zwei Zentimeter auseinander, und entsprechend hat man dann Probleme. 2

3 Wichtiger noch als die günstige Miete im ländlichen Feldkirch ist der freie Platz im Kindergarten für die dreieinhalb Jahre alte Tochter Anna. In Freiburg sind die freien Kita- Plätze teuer, und die preiswerten belegt, denn einheimische Eltern melden ihr Kind schon nach der Geburt an. Das ist ein großes Handicap für Zuwandererfamilien, die sich kurzfristiger entscheiden müssen. Kindergarten ist nicht so weit, nur 400 Meter, zu Fuß nur fünf Minuten. Und ich hatte schon mit Kindergartenleiterin besprochen, dass meine Tochter von 1. April kann hier in Kindergarten gehen. Sie spricht kein Wort Deutsch, die Tochter? Kein Deutsch. Und meine Frau auch spricht kein Deutsch. Hat deine Tochter Angst, wenn sie jetzt ganz woanders hinkommt? Nein. Ich hatte heute über Skype schon mit meiner Tochter besprochen, dass hier geht sie in einen anderen Kindergarten, und hier sprechen kein ungarische Sprache, nur Deutsch, alles ist klar, dass Kein großes Problem? Nein, für sie nicht. Als ich Rudi das nächste Mal besuche, baut er gerade die Möbel zusammengebaut. Er hat einen Discounter gefunden, der billiger ist als IKEA. Kleiderschrank, Schlafbett, ein Kommode, Nachttisch, ein Schreibtisch, Fernsehertisch, Spiegelschrank, ja, und alles kostet, gute Frage, wieviel, Matratze, und Feder, 900, dann 200, Euro. Ist das in Ungarn genauso teuer oder billiger? In Ungarn kostet soviel wie in Deutschland. Aber die Löhne sind niedriger in Ungarn? Jaja. Ich hatte 400 Euro pro Monat bekommen, meine Frau 300 Euro. Also zusammen 700 Euro? 700 Euro, ja. Was an Hausrat fehlt, bringt das Ehepaar G. mit dem Anhänger aus Ungarn. Sie helfen Rudi auch beim Montieren der Möbel. Die Zeit ist knapp: In einer Woche 3

4 landet Kata mit den Kindern auf dem Stuttgarter Flughafen, dann muss alles fertig sein. Frau G.: Rudi ist unser sehr guter Freund. Seit viele Jahren. Und wir wollen ihm helfen, wir wollen, dass ihr Leben hier in Deutschland nicht so schwer an die Beginnung. Ich denke, das ist sehr schwer für diese Familie, aber das Leben in Ungarn ist noch schwieriger. Das Geld, das wir bekommen für unsere Arbeit, das ist sehr klein, und die Preise sind wie auch in Deutschland. Frau G.s Mann ist Tierarzt, ein Beruf, von dem die Familie in Ungarn noch recht gut leben kann. Rudi dagegen war im Sozialbereich tätig. Und dort hat die Regierung unter dem Druck der Finanzkrise, die Ungarn früher traf als Griechenland, radikal gekürzt. Rudi arbeitete als Fachberater für Suchtkranke bei der Caritas in der südungarischen Großstadt Kecskemét. Die Zuschüsse fielen weg, es gab erste Kündigungen, dem Familienvater Rudi wurde die Lage zu unsicher. Zumal auch mehr und mehr Freunde sich Arbeit im Ausland suchten. Viele, viele. Zum Beispiel unser Freund, jetzt arbeitet im Deutschland, im Elektrotechnik, weil er ist Elektrotechniker, und arbeitet so drei, vier Wochen und dann geht zuhause und ist zuhause eine Woche und dann kommt zurück, seine Frau ist Pädagogin und sie ist im Ungarn geblieben. Weil als Pädagogin, sie kann hier in Deutschland kein Arbeitsstelle gefunden, und wegen ihre Kinder auch ist so besser, dass sie sind in Ungarn und ihr Mann ist in Deutschland. Familie N. hat sich anders entschieden. Kata bringt ihren gerade erst sechs Monate alten Sohn Mate mit nach Deutschland. Er wird sie noch lange ans Haus fesseln. Es war eine schwere Wahl, denn Kata ist eine gut ausgebildete und selbständige Frau. Sie hatte nach dem Abitur an einer Fachhochschule Betriebswirtschaft studiert, sich als freie Buchhalterin selbständig gemacht und dazu noch einen Zweitjob in einer Anwaltskanzlei angenommen. Aber die Krise in Ungarn ließ die Aufträge für freie Buchhalter schwinden, und als die Kanzlei ihr ankündigte, ihre Stelle streichen zu müssen, entschied sie sich zum Gehen. Als sie mit Mate im siebten Monat schwanger war. Wäre es nicht besser gewesen, mit beiden Kindern noch länger in Ungarn zu bleiben? Wo ihr die Großmutter beim Kinderhüten helfen kann? Das Leben einer Fernpendlerfamilie auf Zeit zu führen, wie Tausende andere auch? Katalin: (Ungarisch) Übersetzerin: Mit dreieinhalb Jahren versteht ein Kind nicht, warum der Vater dauernd weg ist, wie Rudi im letzten Jahr. Anna hat sehr unter seiner Abwesenheit gelitten. Ich will nicht, dass unsere Familie zerrissen wird. Und ich habe gar keine Angst gehabt, mit den Kindern hierher zu kommen, weil ich mich hier sicher fühle. Die Kinder und ich, wir sind über meinen Mann krankenversichert und es gibt gute Kinderärzte in der Nähe. Natürlich, wenn unsere Arbeit in Ungarn sicher gewesen wäre, wären wir dort geblieben. Ich hatte eine Eigentumswohnung, die muss ich jetzt verkaufen, zu einem schlechten Preis. Und hier in Deutschland wird es für mich sehr schwer, ohne Sprachkenntnisse, das ist mir klar. Aber Mate ist erst sieben Monate alt, da werde ich 4

5 die nächsten zwei Jahre zuhause bleiben, und die Zeit will ich nutzen, um Deutsch zu lernen. Das ist mir ganz wichtig, damit ich hier möglichst bald eine Arbeit finde. Zwei Wochen nach ihrer Ankunft bringt Kata ihre Tochter Anna zum ersten Mal in den Kindergarten. Erzieherin: Die Mama, die spielt mit! Komm, gehen wir mal gucken. Guck mal, da oben ist eine Puppenecke. Was ist Ihre Erfahrung, wie schnell Kinder, die wie die Anna jetzt neu kommen und überhaupt kein Wort Deutsch sprechen, wie schnell die das lernen? Erzieherin: So n paar Wörter in 14 Tagen. Also das geht ganz schnell. Wir haben auch schon mal ein Kind gehabt, das Kind konnte auch kein Wort Deutsch, aber als es dann nach einem halben Jahr gegangen ist, konnte es wirklich gut Deutsch. Und die Mütter? Erzieherin: Die Mütter? Ja, die Mütter lernen dann durch das Kind ein bissel Deutsch. Nach dem ersten Besuch im Kindergarten ist Kata erleichtert. Und fühlt sich in ihrer Entscheidung bestärkt. Klar war, dass Anna so früh wie möglich in einen deutschen Kindergarten gehen sollte, um später in der Grundschule nicht hinterherzuhinken. Nun erlebt Kata aber auch entgegenkommende Nachbarn, eine bürgerfreundliche und nicht korrupte Verwaltung und ein sicheres Wohnumfeld. Anders als in ihrer Heimatstadt Nagykörös in Südungarn. Katalin: (Ungarisch) Übersetzerin: Nagykörös ist heruntergekommen. Wir sind eine Kleinstadt mit Einwohnern, und die Leute ziehen weg, weg in die nächste Großstadt, nach Kecskemét. Das ist in etwa so groß wie Freiburg, da gibt es noch etwas mehr Arbeit als bei uns. In Nagykörös gibt es nur noch Arbeitslose, deshalb hat unsere Stadt auch kein Geld mehr. Die Bürgersteige sind kaputt, die Straßen werden nicht mehr repariert, ich komme nicht mal mit dem Fahrrad in die Stadtmitte. Es ist auch nicht mehr sicher, ich würde nachts nicht aus dem Haus gehen alleine, und auch mit den Kindern nicht auf den Spielplatz. Wer kann, zieht weg, nur Alte und Arme bleiben zurück. In Nagykörös, Kinder können nicht so gut mit Fahrrad fahren. Weil hat keine guten Wege und große Verkehr, keine guten Pflaster, und auch Spielplätzen ist schlechter als in Deutschland. Zum Beispiel in unsere Nähe, in Nagykörös, haben eine neue Spielplatz gebaut, und nach zwei Monaten Schaukel wird kaputt, und Spielzeuge, schon wird kaputt alles. Weil viele armen Leute leben da in unserem Wohnviertel, und haben nicht so große Kultur, dass für gemeinsame Sachen muss man aufpassen. 5

6 Katalin: (Ungarisch Übersetzerin: Vor zweihundert Jahren war unser Städtchen noch das Zentrum einer Grafschaft, aus der Zeit stammen noch die prächtigen Häuser am Marktplatz. Und im Sozialismus ging es uns einigermaßen gut wegen der großen Konservenfabrik. Die Bauern der Gegend haben Mais und Gurken angeliefert, die Konserven wurden in ganz Ungarn und Europa verkauft. Die Fabrik gab Leuten Arbeit. Es war schlimm, als sie zugemacht hat. Abgewickelt wurde die Konservenfabrik erst gekauft von der französischen Konkurrenz, dann geschlossen. Aber mag es Nagykörös auch schlecht gehen, Kata hängt an ihrer Heimatstadt. Das ist bei Rudi anders. Ihm fiel der Umzug nach Deutschland leichter - nicht nur wegen seiner besseren Sprachkenntnisse, sondern auch, weil ihn Systemwechsel und Bürgerkrieg auf dem Balkan schon länger seiner Heimat beraubt hatten. Rudi hat zwei Staatsbürgerschaften: Die von Ungarn und die von Serbien das früher zu Jugoslawien gehörte. Ich habe in Marburg geboren. 1973, in Marburg hier in Deutschland. Meine Eltern arbeiteten auch in Deutschland, aber wenn ich geboren, meine Mutter wollte zurückfahren, weil für sie ihre Eltern so fehlen und konnte sie nicht in Deutschland bleiben, und darum haben sie zurück nach Jugoslawien gefahren und umgezogen. Zurück in die Vojvodina. Als der jugoslawische Bürgerkrieg ausbrach, ging Rudi zum Studium nach Ungarn um der Einberufung zu entgehen und nicht in Bosnien auf seine kroatischen Landsleute zu schießen. Mit einem doppelten Diplom, für Krankenpflege und für Suchtberatung, kehrte er dann zurück nach Serbien. Und wurde sofort Soldat wider Willen im Kosovokrieg. Ich war fünf Monate im Kosovo verbracht im Krieg. Zuerst war ich auf den große Waffen, aber nachher ich war als Krankenpfleger im eine Station, ja. Das war besser als mit Waffen. Und am Ende, ich war schon kaputt, und ich habe mit Rauchen beginnen, und vorher ich war Nichtraucher, aber da in Kosovo habe ich viel gerauchen. Ach, ich wollte es nicht, da im Kosovo. Mein Nationalität ist Ungarn, und ich habe in Ungarn studiert, ich wollte nicht in Serbien bleiben. Und so ging Rudi wieder nach Ungarn. Wo er, übrigens übers Internet, seine jetzige Frau Kata kennenlernte. Atmo Musikunterricht Nach meinen ersten Besuchen bei der Familie Nagy war ich lange nicht mehr in Feldkirch gewesen. Da meldet sich Rudi am Telefon. Und erzählt stolz, dass er seine Tochter Anna jetzt einmal in der Woche in die Musikschule im Nachbarort fahre, zur musikalischen Früherziehung. Nicht ganz billig, aber das sei es ihm wert. Und ob ich mir das anschauen wolle. Klar, sage ich. 6

7 Rudi möchte mehr für seine Tochter. Sie besitzt eine Blockflöte, und auf dem Flohmarkt haben die Eltern ein Notenbuch dazu erstanden. Ich wollte fragen, nach diesem Jahr, kann Anna auch weiterkommen oder kann etwas anderes lernen? Musikalisch? Musiklehrerin: Also die Instrumente kann man im Grunde erst lernen ab erster Klasse, und sie wird ja noch nicht eingeschult, und von daher würde die musikalische Früherziehung weitergehen. Dass man noch mehr meinetwegen Xylophon spielt oder auch mehr mit der Stimme arbeitet, diese Sachen. Als Rudi mit seinem kleinen Auto zwei andere Kinder zuhause abgeliefert hat und wir bei ihm auf dem Sofa sitzen, frage ich ihn, ob er von der Auskunft der Musiklehrerin enttäuscht ist. Ja, sagt er. Ich hab gedacht, daß nach einem Jahr, kann Anna etwas noch weiter machen. Etwas richtig lernen. Tanz oder mit Trommel oder Blockflöte. Im Ungarn, schon im Kindergarten beginnen mit Trommeln, und viel Singen, und zum Beispiel Muttertag, im Ungarn es ist eine große Feier, und die Eltern kommen im Kindergarten und sehen, was ihre Kindern haben gelernt. Und hier im Kindergarten, es nicht so gut. Ungarische Kindergarten sind stärker. Das heißt, die Kinder lernen mehr? Kinder lernen mehr, ja. Und dass Kinder mehr lernen, wenn sie ein Ding in die Hand und notfalls auseinandernehmen statt am Computer zu spielen, darüber sind sich Rudi und Kata einig. Sesamstraße in sparsamster Dosierung das geht gerade noch. Aber nie und nimmer eine Playstation: Katalin: (Ungarisch) Übersetzerin: Kleine Kinder müssen andere Erfahrungen machen, sie sollten mit ihren Sinnen spielen und mit den Händen alles ausprobieren. Computerspiele sind schlecht, weil sie so monoton sind, da lernen die Kinder nur zu klicken, aber sie verstehen nicht, wie das funktioniert. Dann schon besser Radfahren. Über dreihundert Euro, seufzt Rudi, hat das Puky- Rad für Anna gekostet. Dazu nochmal 60 Euro für den Helm mit Blinklicht. Aber wer im Kindergarten mithalten will, muss ein Puky fahren. Ohne Stützräder! Darauf ist Anna besonders stolz. Wenn es darum geht, das Puky vorzuführen, lässt sie sich sogar von dem fremden Reporter einen ganzen deutschen Satz entlocken: 7

8 Anna: Ich habe ganz alleine alles aufgezogen. Kannst du dir auch die Schuhe anziehen? Anna: Ja. Anna hat Deutsch und Radfahren gelernt, und Rudi hat einiges darüber gelernt, wie der deutsche Arbeitsmarkt funktioniert. Denn er hat nach Ablauf eines Jahres seine erste Stelle gekündigt. Da hat mir nicht gefallen, dass ich müsste auch kochen. Weil da Pfleger machen auch Abendessen, und manchmal, wenn jemand ist krank, dann auch Mittagessen. Und das war mir sehr stressig. Wenn ich arbeite, ich möchte alles gut machen. Und nicht nur schnell, und wenn musst du nicht kochen, dann hast du mehr Zeit für Pflege. Und wie war s mit den unbezahlten Überstunden? Es war immer so, dass wegen so viele Sachen, das da war, konnte ich nicht meine Arbeit bis Ende Arbeitszeit beenden. Und immer, immer hatte ich später zuhause gekommen. Zum Beispiel, meine Arbeitszeit war bis viertel nach acht, aber konnte ich nur 21 Uhr zu Hause kommen, oder halb zehn. Zeitweise war Rudi so erschöpft, dass er sich krankschreiben lassen musste. Zu kündigen, ist jedoch riskant für einen Einwanderer mit mangelnden Sprachkenntnissen. Wo gibt es eine Beratung? Was bedeutet das Kleingedruckte im Arbeitsvertrag? Was verlangt im Notfall der Rechtsanwalt? Aber alles ging gut, und nun arbeitet Rudi in der Pflegeabteilung der Theresienklinik im nahen Bad Krozingen. Er verdient 400 Euro mehr, weil man hier seine Berufserfahrung und seine ungarischen Diplome anerkannt hat, und er muss nicht mehr kochen, sondern das Essen nur noch verteilen er fühlt sich wohl bei seiner neuen Arbeit. Und ich denke, daß der leergefegte Arbeitsmarkt für Pflegekräfte Zuwanderern wie Rudi nützt. Die Tabletten können nehmen, ja? Mit Pudding oder mit Reis? Guten Appetit. Seit einem Jahr lebt die Familie Nagy nun zusammen in Deutschland. Eine Erfolgsgeschichte, denke ich. Bis auf einen wunden Punkt: Katas Plan, dass sie erst einmal zwei Jahre zuhause bleibt, bis Mate in den Kindergarten kommt, und die Mutter in dieser Zeit genügend Deutsch lernen kann, um dann eine sinnvolle Arbeit zu finden dieser Plan geht nicht auf. Einmal pro Woche Deutsch lernen im Internet kostet wenig, bringt aber nicht genug. Und einen richtigen Deutschkurs gibt es nicht auf dem Land, dort, wo die Wohnung bezahlbar ist und der Kindergarten Plätze frei hat. Aber was tun? Wäre es nicht gut, frage ich Rudi, Mate bereits jetzt in eine Kleinkindergruppe zu schicken, damit Kata Zeit für den Deutschkurs hat? 8

9 Ja, genau. Ja, gibt es auch hier in Feldkirch auch, für Kleinkinder, gestern habe ich mit Kindergartenleiterin besprochen, weil wir wollten es machen, dass Mate geht auch in Kleinkindergruppe, zweimal wöchentlich, aber gibt s kein Platz. Rudis Frau Kata ist die Leidtragende dieser schwierigen Situation. Noch hält sie tapfer durch und steht zu ihrer gemeinsamen Entscheidung. Nur das Heimweh lässt nicht nach. Katalin: (Ungarisch Ich weiß nicht, warum ich dieses Heimweh habe. Das ist eine schwere Frage. In Nagykörös habe ich immer gelebt, dort bin ich zur Grundschule gegangen, dann zur Oberschule. Dort habe ich meine Arbeit gehabt. Da kenne ich Jede und Jeden, die Gartenzäune, die Hoftore, ich kann bei unseren Nachbarn ein- und ausgehen. Mir gehörte eine eigene Wohnung. Ja, und hier in Deutschland muss ich ganz von vorne anfangen, mir alles neu aufbauen. Deutsch lernen, Arbeit finden. Aber was für Arbeit? In Ungarn hatte ich mein eigenes Büro, ich war selbständige Unternehmerin. Hier werde ich noch ganz lange nur die Arbeiten machen können, die sonst niemand tun will. Als Putzfrau. Oder im Supermarkt Regale einräumen. Das ist übel. Das tut richtig weh. Meine Mutter hat schon gesagt, dafür habe ich nicht dein Studium bezahlt, dass du im Supermarkt an der Kasse sitzt. Obwohl sie es richtig findet, dass ich nach Deutschland gehe, weil es ja auch keine Alternative gibt. Aber das Heimweh, das wird bleiben. Auch wenn wir schon zehn oder fünfzehn Jahre in Deutschland leben wir werden hier immer noch Fremde sein. Rudi ist optimistischer. Heimweh, sagt er, das hatte ich früher mal aber jetzt? Nee. Nach Serbien auch nicht und nach Ungarn auch nicht. Fehlt mir Freunde in Ungarn, aber zum Beispiel Katas Freunde, ein, zwei, arbeitet auch im Ausland, über Internet, über Skype können wir sprechen, ist schon anders als im Zeit meiner Eltern. Sie werden es schaffen, die vier, Mate, Anna, Kata und Rudi. Ich denke zurück an Rudis langen Weg vom Land an der unteren Theiß, wo sein Vater als Traktorfahrer viel Staub schlucken musste, in das friedliche Feldkirch am Oberrhein. Wo Rudi nicht mehr als Fachberater für Suchtkranke, sondern als Altenpfleger arbeitet. Er und seine Frau Kata, beide haben für ihren Wechsel von Ungarn nach Deutschland einen beträchtlichen beruflichen Preis bezahlt. Aber Mate und Anna werden einmal studieren. In Berlin oder Budapest. Und zu jenen zweisprachigen Europäern gehören, die unsere Zukunft sind. 9