Killing Hitler Roger Moorhouse
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- Wolfgang Esser
- vor 7 Jahren
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1 Killing Hitler Roger Moorhouse
2 EINLEITUNG Ich kann aber jederzeit von einem Verbrecher, von einem Idioten beseitigt werden. Adolf Hitler 1 Attentate, so behauptete der bedeutsame englische Staatsmann Benjamin Disraeli, haben noch nie den Gang der Weltgeschichte geändert 2. Der Satz wird gerne gutgläubig zitiert, besonders in Krisenzeiten; dennoch ist er pures Wunschdenken und sachlich unhaltbar. Gegenbeispiele gibt es genug, frappante obendrein: die Schüsse auf Erzherzog Franz Ferdinand in Sarajevo lösten den Ersten Weltkrieg aus; die Tötung des Leningrader Parteisekretärs Sergej Kirov lieferte den Anlass zu den mörderischen Säuberungen in Stalins Sowjetunion. Nur zwei von vielen Ereignissen, die belegen, dass Attentate den Lauf der Dinge sehr wohl zu beeinflussen vermögen. Der Frage, ob die Attentäter mit ihrem Vorgehen erreichten, was sie wollten, hat der britische Historiker Miles Hudson unlängst eine detaillierte Studie gewidmet 3, in der er achtzehn berühmte Mordanschläge aus verschiedenen Epochen der Menschheitsgeschichte analysiert. Er findet keinen einzigen, der die Verantwortlichen ihren Zielen näher gebracht hätte. In vielen Fällen bewirkten die Morde sogar das glatte Gegenteil. Die Erschießung Präsident Lincolns durch einen Sympathisanten der Südstaaten zum Beispiel erwies sich als katastrophal für die Sache der Konföderierten. Die irischen Nationalisten, die 1882 Lord Cavendish, den zweithöchsten Beamten der britischen Verwaltung in Irland, erstachen, warfen damit den Unabhängigkeitskampf ihres Volkes um eine ganze Generation zurück. Man darf also feststellen: Zweifellos haben Attentate den Gang der Geschichte geändert, niemals jedoch im Sinne der Attentäter. Immer wieder reizt Autoren, Historiker wie Belletristen die Spekulation, ob die Ermordung Hitlers die große Ausnahme von dieser Regel geworden wäre und welchen Lauf die Welt dann genommen hätte. Wie viele Menschenleben hätte ein erfolgreiches
3 EINLEITUNG Attentat retten können? Wäre mit Hitlers Ermordung der Krieg zu verhindern gewesen? Wie hätte sich Europa und vor allem Deutschland unter diesen Umständen im 20. Jahrhundert entwickelt? Ich nehme an, dass die meisten meiner Leser aus heutiger Sicht zumindest gefühlsmäßig davon überzeugt sind, dass ein gelungenes Attentat in diesem speziellen Fall erbracht hätte, was die Urheber bezweckten. Zu Hitlers Lebzeiten herrschte in dieser Frage wenig Einmütigkeit bei den Gegnern des Diktators. Es liefen hitzige Debatten über die heiklen moralischen Implikationen: Darf der Mensch Gott spielen? Würde ein solcher Anschlag nicht einen gefährlichen Präzedenzfall schaffen? Gibt es so etwas wie einen ehrbaren Verrat? Wäre die Tötung eines Staatsterroristen nicht selber ein staatsterroristischer Akt? Könnte ein so herbeigeführtes Abtreten Hitlers nicht seinerseits Furchtbares bewirken? Auch wenn es manchen überrascht: Seit die Idee aufkam, Hitler gewaltsam zu beseitigen, ist sie heftig umstritten. All die Bedenken haben Hitlers Attentäter indes nicht abgeschreckt. Wohl auf keinen Staatschef der Welt wurden so viele Mordanschläge verübt: Nicht weniger als 42 Einzelversuche haben Historiker gezählt, 4 und selbst diese Liste kann keine Vollständigkeit beanspruchen. Freilich sind darin einige eher vage Pläne mit berücksichtigt. Hinter immerhin 20 der Vorhaben aber stecken genügend Ernsthaftigkeit und Glaubwürdigkeit, um eine nähere Betrachtung im Rahmen unserer Studie zu rechtfertigen. Hitler gehört zu den mächtigsten Menschen des 20. Jahrhunderts, vielleicht war er der mächtigste überhaupt. Dies sichert ihm dauerhaft einen hohen Bekanntheitsgrad. Wo immer es Brutalität, Intoleranz und Rassenhass gibt, ist sein Name präsent. Sein Gesicht auf den ersten Blick zu erkennen und von geradezu ikonischer Einprägsamkeit wie kein zweites in der modernen Welt - wird selbst jenen unvergessen bleiben, die ihr Leben in Frieden zubringen dürfen. Die Geschichte des politischen Mordes kennt genügend Beispiele für das Phänomen, dass im Bewusstsein der Nachwelt Urheber und Opfer untrennbar miteinander verbunden erscheinen: etwa John F. Kennedy und sein Attentäter Lee Harvey Oswald, Abraham Lincoln und John Wilkes Booth, Franz Ferdinand und Gavrilo Princip. Manchmal werden Attentäter als Helden gefeiert, öfter 12
4 EINLEITUNG freilich als Verbrecher geschmäht. Vergessen werden sie selten. Hitlers Attentäter jedoch sind heute weitgehend unbekannt. Höchstens der Name Claus von Stauffenberg löst bei einem breiteren Publikum eine Erinnerung aus. Auch wenn keiner der Attentäter das hochgesteckte Ziel erreicht hat, die Welt von Adolf Hitler zu befreien, verdienen diese Menschen größere Anerkennung, als sie heute erfahren. Sie verdienen Besseres, als nur in den Fußnoten der Geschichtsbücher zu existieren; Besseres als das anonyme Dunkel, in das sie die Zeitläufe und die Nichteignung ihres Schicksals zum Modethema verbannt haben jenes Dunkel, das schon ihre nazistischen Henker über sie verhängen wollten. Unter Hitlers Attentätern waren einfache Handwerker vertreten und hochrangige Militärs, unpolitische Persönlichkeiten ebenso wie ideologisch besessene, feindliche Agenten und engste Verbündete. Unerklärlicherweise sind nur wenige dieser Menschen außerhalb der engen Grenzen akademischer Historik bekannt. Dem Durchschnittsleser dürfte kaum eine ihrer Aktionen geläufig sein. Die Geschichte ihrer Pläne, ihrer Motive und ihres Scheiterns ist auch ein Protokoll über die erstaunliche Zählebigkeit eines Tyrannen. 13
5 München, Donnerstag, 8. November 1923, Uhr Nur wenige Gäste dürften den fahlgesichtigen jungen Mann bemerkt haben, der an jenem Abend den Saal des großen Wirtshauses betrat. Persönlichkeiten von Rang und Namen hatten sich dort versammelt, die sich zur gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Elite Münchens zählen konnten: Bankiers, führende Geschäftsleute, Zeitungsverleger, Politiker in leitender Funktion. Man war erschienen, um eine Ansprache zum fünften Jahrestag der Novemberrevolution zu hören; halten sollte sie der neu ernannte bayrische Generalstaatskommissar, Ex-Ministerpräsident Gustav von Kahr, der seinerzeit mächtigste Mann im Lande Bayern. Die Teilnehmer der Versammlung glaubten zu wissen, was sie erwartete: eine wuchtige Attacke wider den Marxismus, Informationen über die nächsten Schritte der Regierung und möglicherweise ein engagiertes Plädoyer, in Bayern die Monarchie wieder einzuführen. Sie erlebten stattdessen den Versuch einer Revolution. Der Ort des Geschehens, der Bürgerbräukeller, war das geräumigste Bierlokal Münchens. Es lag auf dem östlichen, rechten Ufer der mitten durch das Stadtgebiet fließenden Isar. Sein Kernstück bildete ein riesiger, an eine Höhlenhalle gemahnender Saal, der nur mühsam an die Gemütlichkeit erinnerte, die man traditionell mit bayrischen Bierwirtschaften verbindet. Reich verzierte Kronleuchter hingen von der hohen Decke und über eine Wand zog sich eine Galerie. Insgesamt fasste der Bürgerbräukeller, wenn die Gäste beidseitig der langen Biertische Platz nahmen, ohne Schwierigkeit Leute und war sehr geeignet für politische Vorträge und Versammlungen, die bevorzugt dort stattfanden. Am Abend des 8. November 1923 war die Halle rappelvoll. Schon um Uhr hatte man die Türen wegen Überfüllung geschlossen.
6 Unzählige, die keinen Einlass fanden, standen enttäuscht draußen im Nieselregen. Der Fahlgesichtige hielt sich im Hintergrund des Saales. Den meisten Anwesenden war der Mann kein Unbekannter. Sein Gesicht mit den stechend blauen Augen, scharf hervorspringenden Wangenknochen und dem Schuhbürstenschnurrbart hatte man gesehen, zumindest seinen Namen gehört und sein Wirken flüchtig registriert. Adolf Hitler, Mitte 30, führte eine extrem nationalistische Gruppe, hauptsächlich aktiv im Raum München, die sich Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei, kurz NSDAP nannte. Wer die Nationalsozialisten nicht mochte, benutzte die bald sehr populäre, knappe Bezeichnung Nazis. Der bleiche Mann hatte sich längst ein gewisses Renommee erworben als hochtalentierter Redner, dessen leidenschaftliche, von keiner Mäßigung gebremsten Vorträge zur deutschen Politik ihr Publikum packten und begeisterten. Auch im Bürgerbräukeller hatte er schon mehrfach gesprochen. Heute war er jedoch nicht als Redner gekommen, sondern als Revolutionär. Sein Äußeres allerdings passte nicht recht zu dieser Rolle. Der schlecht sitzende Gehrock mit flattrigen Schößen, das dicht an den Schädel geklatschte Haar, das ihm strähnig in die Stirn fiel, entsprachen nicht dem Bild eines Umstürzlers, eher dem eines überarbeiteten Kellners oder Leichenbestatters. Eine halbe Stunde hielt Generalstaatskommissar von Kahr seine programmatische Rede ungestört, dann wurde er jäh unterbrochen. Die Verschwörer, Hitler an der Spitze, stürmten vorwärts. Ein SA- Trupp postierte ein Maschinengewehr am Halleneingang. Der distinguierte Herr auf dem Podium verstummte; überraschtes Geflüster lief durch den Saal, die biertrinkenden Zuhörer reckten neugierig die Hälse, Frauen fielen in Ohnmacht, Tische stürzten um. In dem allgemeinen Durcheinander kletterte Hitler auf einen Stuhl, schoss mit einer Pistole in die Decke und forderte laut und gebieterisch Ruhe; dann verkündete er: Die nationale Revolution ist ausgebrochen! 1 Nach ein paar Worten zur Situation ließ er seine Leibwache und die SA-Leute an den Ausgängen des Bürgerbräukellers Stellung beziehen. Nun rief er die drei Herren, die seit einem jüngst verhängten Ausnahmezustand praktisch die Macht über Bayern innehatten: Gustav von Kahr, Generalstaatskommissar, Otto von Los- 16
7 sow, Landeskommandant der Reichswehr für Bayern, und Hans von Seißer, den Chef der bayrischen Landespolizei, zu einem separaten Gespräch ins Nebenzimmer. Die gegebene Situation überzeugte die Genannten rasch, der Ladung Folge zu leisten. Kaum war man unter sich, überzog Hitler, vor Erregung bebend, sein dreiköpfiges Zwangspublikum mit einer wild-pathetischen Suada, seine politischen Pläne betreffend. Eine neue Regierung solle Deutschland bekommen, und er, Adolf Hitler, werde sie einsetzen und führen. Falls die Anwesenden bereit seien zu kooperieren, winkten ihnen Ministerposten in seinem Kabinett. Gegen Ende hob Hitler seine Waffe und drohte melodramatisch: Vier Schuss habe ich in meiner Pistole, drei für meine Mitarbeiter, wenn sie mich verlassen, die letzte Kugel für mich. Er drückte den Lauf an seine Schläfe und erklärte: Wenn ich nicht morgen Nachmittag Sieger bin, bin ich ein toter Mann lagen fünf Jahre Chaos hinter Deutschland. Die verheerende Niederlage im Weltkrieg war längst nicht verkraftet; die harten Friedensbedingungen der Sieger, besonders ihre milliardenhohen Reparationsforderungen, verbitterten viele. Zwar hatte das Reich seit 1919 eine parlamentarische Verfassung, doch im Volk besaß die Demokratie keine feste Basis. Rechte wie Linke feindeten sie an; man machte sie für die vielen Missstände verantwortlich, die die junge Republik plagten und nicht zuletzt für die bedrohlich labilen Wirtschaftsverhältnisse. Namentlich die galoppierende Inflation zerstörte die Lebensgrundlage zahlreicher Menschen und trieb nicht wenige in die politische Radikalisierung. Schon 1920 lag der Preisindex nahezu 15-mal so hoch wie im Vorkriegsjahr 1913; zwei Jahre später erreichte er fast das 350fache wurde zum eigentlichen Krisenjahr. Im Westen besetzten die Franzosen wegen ausgebliebener deutscher Reparationszahlungen das Ruhrgebiet; passiver Widerstand, gewalttätige Streiks und Hungerrevolten waren die Folgen. Kaum minder unruhig war es in den östlichen Landesteilen. Im brandenburgischen Küstrin versuchten unzufriedene Reichswehr-Einheiten einen Putsch; in Sachsen und Thüringen hielten sich ein paar Monate prokommunistische Regierungen. Ein Ende der politischen Instabilität war nicht abzusehen, die Wirtschaft erwartete ein Sturz ins Bodenlose. Januar 1923 kletterten die Preise auf das 2.500fache ihres Standes von 1913; im Dezember betrug der Steigerungsfaktor über eine Billion 17
8 ( ). 3 Die Hyperinflation bewirkte den allgemeinen Zusammenbruch der deutschen Währung, deren Kaufkraft gegen null tendierte. Ein schlichtes Brot kostete gelegentlich über 400 Billionen Mark. In vielen Haushalten wurden die Inflationsbanknoten lieber im Ofen verbrannt, als mit ihnen Brennstoff zu erwerben. Die meisten Deutschen standen finanziell vor dem Nichts. Die Situation in Bayern war nicht erfreulicher. Die Umwälzungen der letzten Jahre hatten bei manchen Bajuwaren separatistische Gelüste erweckt. Die bayrische Landesregierung in München ging selbstbewusst eigene Wege, Mahnungen aus Berlin geflissentlich ignorierend. Was etwa die radikale Rechte betraf, so ließ die Landesregierung sie relativ ungeniert gewähren. Tatsächlich hatte die rechte Opposition gegen Berlin in Bayern zwei starke Machtbasen: die restaurativ-monarchistische alte Rechte, vertreten durch das in München diktatorisch herrschende Triumvirat Kahr, Lossow und Seißer, und die revolutionär-völkische neue Rechte, vertreten durch Hitler und sein Gefolge. In einer bemerkenswerten Symbiose verachteten beide die Berliner Zentralmacht, behinderten sie in trauter Gemeinsamkeit nach Kräften und konnten es kaum erwarten, endlich zum Aufstand zu blasen. Was die ersehnte Revolution allerdings bewirken sollte darüber gingen die Visionen weit auseinander. Vereinfacht gesagt: Die alte Rechte wünschte eine unabhängige bayrische Regierung, während die neue Rechte die Zentralregierung zu übernehmen begehrte. Die einen wollten los von Berlin, die anderen wollten den Marsch auf Berlin. An jenem Abend im Bürgerbräukeller konnte Hitler das regierende Triumvirat zumindest fürs Erste von seiner Vision einer nationalen Revolution überzeugen. Etwa eine Stunde konferierten die vier, dann kehrte Hitler zurück in die Halle und stieg, begleitet von seinen drei neuen Verbündeten, aufs Podium. Inzwischen war weitere namhafte Unterstützung eingetroffen: General Ludendorff, einstmals Erster Generalquartiermeister der kaiserlichen Armee und seit kurzem Kombattant Hitlers. Auch er betrat die Tribüne. Immer wieder reichten die fünf einander demonstrativ die Hände, beteuerten ihre ernsthafte Bereitschaft zur Zusammenarbeit und den Willen, eine provisorische nationale Regierung zu bilden. Hatte sich zu Beginn das Auditorium noch skeptisch verhalten, 18
9 brach es jetzt in hemmungslose Begeisterung aus. Besonders Hitlers Rede elektrisierte die Leute. Spontan erhob sich der Gesang: Deutschland, Deutschland über alles. Die Stimmung der Mehrheit hatte völlig umgeschlagen, erinnerte sich später ein Augenzeuge; Hitler hatte sie mit einigen Sätzen umgedreht, wie man einen Handschuh umdreht. Es hatte fast etwas von einem Hokuspokus, von einer Zauberei 4. Anschließend verlas Rudolf Heß, Hitlers persönlicher Sekretär, eine Liste mit den Namen prominenter Volksfeinde, die zu verhaften und vor Gericht zu stellen seien ein Omen künftiger Schrecken. Inzwischen trafen aus der Stadt zunehmend Sympathisanten ein. Den ersten Akt des Putsches, so schien es, hatte Hitler erfolgreich überstanden. Außerhalb der Bierhalle freilich ging die Sache nicht so glatt. Anfangs glückte den Putschisten einiges. Als die SA-Truppen vor der Infanterieschule aufmarschierten, liefen die Kadetten zu ihnen über. Die Räume der führenden Tageszeitung Münchner Post waren rasch besetzt, desgleichen das Wehrkreiskommando VII im ehemaligen bayrischen Kriegsministerium immerhin die Befehlszentrale des bayrischen Teils der Reichswehr. Auch die großen Münchner Bierhallen waren eingenommen, doch je weiter die Nacht vorwärtsschritt, desto spärlicher wurden die Siegesmeldungen. Mehr strategisch wichtige Punkte vermochte man nicht zu erobern, keine Kasernen, keine öffentlichen Gebäude. Dies lag einerseits an der organisatorischen Unfähigkeit der Putschisten, andererseits an der wachsenden Entschlossenheit der Gegenseite. Diese machte sich inzwischen zum Kampf bereit, und kaum hatten Kahr, Lossow und Seißer ihre Handlungsfreiheit wieder, verurteilten sie den Putsch und setzten sich an die Spitze des Widerstands. Die aus Sicherheitsgründen kurzfristig nach Regensburg verlegte Regierung verbot zuerst das Erscheinen der Morgenblätter; dann orderte sie militärische Verstärkung aus den Provinzen. Bald kontrollierten die Reichswehrtruppen die ganze Stadt; sie waren genau instruiert, wie sie der Rebellion begegnen sollten. Im Bürgerbräukeller richteten sich die Möchtegern-Revolutionäre auf eine lange Nacht ein. Bei reichlich Bier und belegten Brötchen hielt sich für eine Weile noch ihr Optimismus. Tatsächlich aber hatten sie die Initiative verloren und steckten in einem bedrohlichen Patt. Ein kalter Morgen dämmerte. Die Putschisten mussten einse- 19
10 hen, dass ihr Versuch, die Bastionen der Macht zu stürmen, gescheitert war. Ein Korrespondent der Londoner Times ging an eben jenem Morgen zum Bürgerbräukeller, wo er Hitler und Ludendorff in einem kleinen Zimmer des Obergeschosses fand. Hitler, schrieb er, sei todmüde gewesen; dieser kleine Mann im alten Regenmantel mit einem Revolver an der Hüfte, unrasiert und ungekämmt, so heiser, dass er kaum sprechen konnte, habe sichtlich Mühe gehabt, den agilen Revolutionär zu geben. Ludendorff wiederum erschien ihm nachdenklich und besorgt 5. Die Putschisten berieten, was zu tun sei. Einer schlug vor, den bayrischen Kronprinzen um Unterstützung anzugehen. Ein anderer empfahl den taktischen Rückzug nach Rosenheim nahe der österreichischen Grenze. Draußen zerfaserte der Aufstand zusehends; Befehle wurden nur noch schleppend befolgt, und immer mehr Trupps verließen ihre Posten, da sie ihre Sache verloren glaubten. Irgendwann an diesem Vormittag kam im Bierhallenquartier jener Gedanke auf, der vielen als die rettende Idee erschien: ein Demonstrationsmarsch durch die Innenstadt. So könnte man nicht nur die Kameraden befreien, die das Wehrkreiskommando besetzt hatten und dort in der Falle saßen, sondern auch die Münchner Bevölkerung mitreißen und das Patt brechen. Die Armee, kalkulierte man, stelle kein wirkliches Problem dar: Nie würde sie ihre Maschinengewehre gegen Ludendorff richten, den prominentesten General des Weltkriegs. Die Hitzköpfe erwogen sogar, bei hinreichender Mobilisierungskraft den Marsch auf Berlin zu wagen nach dem Vorbild Mussolinis, der ein Jahr zuvor mit seinem Marsch auf Rom die Macht erobert hatte. In dem gegen ihn und seine Kombattanten geführten Prozess sagte Hitler einige Monate später aus, man habe den Entschluss zum Marsch in die Stadt gefasst, um das Volk für sich zu gewinnen 6. Es ging auf Mittag zu, als sich vom Bürgerbräukeller aus ein etwa Mann starker Zug Richtung Innenstadt bewegte, alle bewaffnet, alle finster und unbeugsam dreinschauend. Unter Hakenkreuzfahnen und schwarz-weiß-roten Reichskriegsflaggen marschierten in der ersten Reihe: Hitler und Ludendorff an der einen Seite; an der anderen Max von Scheubner-Richter, Hitlers enger Vertrauter und Berater; dazwischen der stiernackige Ulrich Graf, gelernter Metzger, später Amateurringer, jetzt Leibwächter Hitlers, der Nazi- Philosoph Gottfried Feder und der Führer der 20
11 Münchner SA-Trupps, Hermann Göring, in einem eleganten knöchellangen Ledermantel, den er offen ließ, so dass der Pour-le- Mérite-Orden am Hals gut sichtbar war (er hatte sich diese höchste deutsche militärische Auszeichnung als Flieger im Weltkrieg erworben). Dahinter marschierten in Viererkolonnen Hitlers Sicherheitskräfte: das Münchner SA-Regiment und der gleichfalls paramilitärisch organisierte Bund Oberland. Ein mit Waffen voll beladener Wagen begleitete sie. Die Nachhut bildete ein bunt zusammengewürfelter Haufen aus sympathisierenden Studenten, Geschäftsleuten und Veteranen. Einige waren bereits alte Kämpen der nationalen Sache, andere schlicht zufällige Mitläufer, die die Nervenkitzel versprechenden Ereignisse der vergangenen Nacht zur Teilnahme inspiriert hatten. Manche trugen eine fesche Uniform, manche ihre Ehrenzeichen aus dem Krieg, andere trotteten in ihrem Arbeitszeug daher. Von den neugierigen Münchnern bald bejubelt, bald verhöhnt, schritten die Putschisten tapfer aus, wobei sie sich durch das Absingen nationalistischer Lieder Mut machten. An der Isar erwartete sie ein Polizeikordon, der die Ludwigsbrücke sperrte. Drohend senkten einige Kämpfer ihre Bajonette; andere traten den Beamten mit dem Mahnruf entgegen, nicht auf Kameraden zu schießen. Da die Angesprochenen zögerten, wurden sie schlicht überrannt. Der Zug passierte ungehindert die Brücke und setzte seinen Weg durchs Isartor ins Herz Münchens fort zum Marienplatz, wo sich eine riesige Menschenmenge versammelt hatte, die schaulustig verfolgte, was sich da entwickelte. Die Marschkolonne wandte sich nun nordwärts Richtung Odeonsplatz; von dort aus wären es nur noch knapp 50 Meter bis zum Ziel gewesen, dem Wehrkreiskommando im alten Kriegsministerium an der Ludwigstraße. Schon schritt man durch die enge Residenzstraße, an deren Ende die Feldherrnhalle liegt, eine erbaute Ehrenstätte zur Würdigung des bayrischen Militärs mit einer zum Odeonsplatz hin offenen Loggia. Neben diesem Monument hatte eine zweite, größere Polizeikette Posten bezogen und den Weg verstellt. Die Demonstranten hakten sich unter und stürmten los; einige sangen, einige senkten wieder die Bajonette. Diesmal ließ sich die Staatsmacht nicht überrennen. Als die Ordnungskräfte und die Verschwörer vor der Feldherrnhalle zusammenstießen, knallte ein Schuss. Sofort eröffnete die Polizei 21
12 das Feuer, das die Gegenseite heftig erwiderte. Ein wildes Gefecht brach los. Schon bei der ersten Salve der Gendarmen sank die vorderste Reihe der Putschisten nieder; die übrigen flohen. Wer nach ein paar Minuten noch dalag, war entweder tot oder schwer verletzt. Göring erhielt eine Kugel in den Oberschenkel. Scheubner- Richter, der sich links bei Hitler eingehakt hatte, wurde tödlich in die Brust getroffen und riss den Putschistenführer mit zu Boden. Graf, der während der Attacke Hitler mit seinem Körper deckte, erlitt zahlreiche gravierende Schusswunden. Achtzehn Menschen kostete der Kampf das Leben: vier auf Seiten der Polizei, vierzehn auf Seiten der Gefolgsleute Hitlers. Karl Laforce, der jüngste der Putschisten, die vor der Feldherrnhalle starben, war gerade erst neunzehn. Hitler, im Tumult gestürzt, stand eine ganze Weile nicht wieder auf, so dass unter den Seinen schon das verzweifelte Gerücht die Runde machte, er sei tot. Zunächst hatte der Putschistenführer selbst eine schwere Schussverletzung vermutet; tatsächlich rührten seine Schmerzen aber von einer verrenkten Schulter her. Der sterbende Scheubner-Richter hatte im Fallen so heftig an Hitlers linkem Arm gezerrt, dass dieser aus dem Gelenk gesprungen war. 7 Obwohl stark angeschlagen, rappelte sich Hitler schließlich wieder hoch und schleppte sich zu einem nahe gelegenen Platz, wo ein paar seiner Anhänger in einem Auto warteten, die ihn, nicht ohne Schwierigkeiten, aus München herausschafften. Man fuhr südwärts, Richtung Österreich. Die abenteuerliche Flucht endete am Nachmittag im oberbayrischen Uffing; Hitlers wohlhabender Freund und Förderer, der Kunsthändler Ernst Putzi Hanfstaengl (später Hitlers Pressechef), besaß dort ein Landhaus. Ein herbeigerufener Arzt und Sympathisant Hitlers versorgte notdürftig die Verletzung. Zwei Tage später, in den frühen Abendstunden des 11. November, hatte die Staatsmacht den Oberputschisten aufgespürt. Augenzeugen berichten, dass Hitler zusammenbrach, als er hörte, die Polizei stehe vor der Tür. Mit dem Ruf: Nun ist alles verloren! griff er nach seiner Pistole. 8 Doch statt sich zu erschießen, wie er im Bürgerbräukeller versichert hatte, fügte Hitler sich widerstandslos, als ein Polizeioffizier eintrat und ihn für verhaftet erklärte. Schauplatz der Diensthandlung war ein Schlafzimmer, wo Hitler im Pyjama, schweigend und düster dreinschauend, seine 22
13 Festnahme erwartete. 9 Hitlers nationale Revolution lag in Scherben. Ihr Führer war dem Tod entronnen, aber gescheitert; seine Partei war verfemt, seine treusten Gefolgsleute waren tot, eingesperrt oder außer Landes geflohen. Knapp ein Vierteljahr nach den Ereignissen stellte man ihn wegen Hochverrats vor Gericht; das Urteil: fünf Jahre Festungshaft, zu verbüßen in Landsberg am Lech. Die meisten zeitgenössischen Beobachter kamen übereinstimmend zu dem Schluss, das Phänomen Adolf Hitler werde wohl eine Fußnote in der deutschen Geschichte bleiben als Schimäre oder einer jener fanatischen Spinner, von denen die Historie viele kennt, die mit radikalem und revolutionärem Gelärme kurz Aufmerksamkeit erregten, aber nichts bewirkten. Die Londoner Times erklärte Hitler, den sie verachtungsvoll als Anstreicher und Demagogen titulierte, für politisch erledigt. 10 Nicht wenige sprachen von ihm nur noch in der Vergangenheitsform. Nach dem misslungenen Putsch 1923 fiel, so erinnert sich später der Schriftsteller Stefan Zweig, der Name Adolf Hitler [...] in Vergessenheit zurück 11. Hitler selbst schien gegen sämtliche negativen Orakel immun. Wie er während seines Verfahrens gegenüber dem Staatsanwalt provozierend herausstrich, wusste er sich zu Höherem berufen. Mögen Sie uns tausendmal schuldig sprechen, wetterte er, die Göttin des ewigen Gerichts der Geschichte wird lächelnd den Antrag des Staatsanwaltes und das Urteil des Gerichtes zerreißen, denn sie spricht uns frei 12. Der Kugelhagel der bayrischen Polizei, der seine Truppen in München niedergeworfen hatte, gab ihm erstmals Gelegenheit, die Vorsehung zu bemühen. Hitler zog aus dem Putschversuch, der blutigen Niederlage und der Haft in Landsberg eigene Schlüsse und den unerschütterlichen Glauben, das Schicksal habe ihn gezielt verschont, um seine historische Bestimmung zu erfüllen, Deutschland zu retten. Er war nun ein Mann mit einer Mission. 23
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