Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Lehrstuhl für Ältere Germanistik Prof. Dr. Helmut Brall-Tuchel

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1 Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Lehrstuhl für Ältere Germanistik Prof. Dr. Helmut Brall-Tuchel Einführung in die Ältere Germanistik Stichworte zur 9. Vorlesung 1. Nibelungenlied, Klage und der Begriff der Heldensage 2. Handlungsabriß des ersten Teils des Nibelungenliedes Was ist das Thema der 1. Aventiure des Nibelungenliedes? Beim Nibelungenlied und seinem Seitenstück, der sog. Klage handelt es sich um Heldendichtungen aus dem bayerisch-österreichischischen Raum, in denen der einheimische Sagenstoff von der Ermordung Siegfrieds am Hof der Burgunder mit dem Stoff vom Untergang der Burgunden am Hofe des Hunnenkönigs Etzel verwoben werden. Während das Nibelungenlied durch seine strophische Form, seine epische Formelhaftigkeit und die stilisierte Mündlichkeit seiner Erzählhaltung auf mündlicher Überlieferung aufruht, akzentuiert die Klage die Nähe zur höfischen Buchepik mit ihrer lehrhaften und gelehrten Schriftform. Obwohl die Texte sich in einer festen Überlieferungsgemeinschaft befinden, hat man in der Neuzeit aus zumeist ästhetischen Gründen dem Lied den Vorrang vod der Klage gegeben und damit die historische Entstehungssituation vernachlässigt. Stofflich gesehen gibt die Heldensage (Zitat) "Kunde von außergewöhnlichen Begebenheiten, die als wirkliche geglaubt werden sollen, obgleich sie sich von der Wirklichkeit entfernt haben. Steht im Mittelpunkt der Heldensage eine das Maß des Alltäglichen überragende, aber durchaus irdische Gestalt, so kreist die Sage im engeren Sinne um das Geheimnisvoll-Numinose, um Wesen wie Geister, Riesen, Zwerge, Hexen, Teufel usw., die etwas Jenseitiges an sich haben. Während jedoch im Märchen der Erzähler und die Märchenfigur dem Wunderbaren wie etwas Selbstverständlichem begegnen, stellt die Sage die numinose und die profane Welt als zwei deutlich voneinander geschiedene Dimensionen dar. Insofern ist die Sage "historischer" als das Märchen (J. Grimm). Sie ist oft an das Interesse eines engeren Personenkreises einer bestimmten Region gebunden (Lokalsagen) oder auch fixiert auf die Entstehung und die Eigentümlichkeit eines Sachverhalts, der erklärt werden soll (aitiologische Sagen)." Hilkert Weddige, Einführung in die germanistische Mediävistik, S. 213.

2 Der Begriff der Heldensage legt insoweit ein gewisses Verhältnis zur Vergangenheit fest. In den Heldensagen geht es nicht um irgendeine Vergangenheit, etwa eine universalgeschichtliche oder heilsgeschichtliche, weltanschauliche oder neutrale, objektive Vergangenheit, sondern um eine, die in einem radikalen Sinne als die eigene Vergangenheit begriffen wird. Es ist diese emphatische Vergangenheit, die verehrt und gegenwärtig gehalten werden muß. Die Erinnerung an diese eigene Vergangenheit ist es, die das Verständnis der Gegenwart formieren und der Gegenwart ihren Stempel aufdrücken soll. Der Helden zu gedenken wird zu einem feierlichen quasireligiösen Akt der Identitätsvergewisserung. Man kann das bis heute an jedem Heldengedenktag beobachten. Heldensage muß daher notwendigerweise bodenständig und einheimisch sein. Das Nibelungenlied als schriftliterarische Auseinandersetzung mit der Heldensage kann insofern als Auseinandersetzung mit der Erinnerung an die heroisierte Vorzeit gelesen werden. 2. Nach der bekannten Vorsatzstrophe der Handschrift C wird in der ersten Aventiure die heranwachsende schöne Kriemhild vorgestellt, die zur burgundischen Königssippe gehört. Sie lebt unter der Obhut ihrer Brüder Gunther, Gernot und Giselher sowie deren Mutter Uote in einem wohlgeordneten Hofstaat. Kriemhild träumt, daß zwei Adler einen von ihr abgerichteten Falken zerreißen. Ihre Mutter, der sie den Traum erzählt, deutet ihr den Falken als ihren Mann, dem ein früher Tod beschieden sei. Kriemhild wehrt den Gedanken an Unheil ab, indem sie jeden Gedanken an Minne und Männer von sich weist, während die verwitwete Mutter das Glück dieser Erden in der Minne des Mannes sieht. In Xanten am Niederrhein wächst unter der Obhut von Sigemund und Sigelind der junge Siegfried heran, der alle Stationen einer höfischen Erziehung durchläuft. Seine Jugend wird mit dem prächtigen Fest der Schwertleite abgeschlossen. In der dritten Aventiure kündigt Siegfried an, die Hand Kriemhilds zu erringen, jedoch nicht durch eine standesgemäße Werbung, sondern durch eine Herausforderung der Könige des Burgundenreiches. Seine Verwandten warnen ihn vor diesem Unternehmen, aber Siegfried setzt sich über alle Bedenken und Ratschläge hinweg. Schließlich rüsten ihn seine Eltern für seine gefährliche Brautwerbungsfahrt aus. Am Wormser Hof ruft Siegfrieds Erscheinen, der nur von wenigen Recken begleitet wird, Verwunderung und Irritation aus. Hagen gibt einen kurzen Überblick über Siegfrieds Jugendtaten (Horterwerb und Drachenkampf).

3 Siegfried fordert Gunther zum Zweikampf um Land und Herrschaft heraus, läßt sich aber besänftigen und wird ein geehrter Gast am Burgundenhof. Sachsen und Dänen erklären Gunther den Krieg und Siegfried bietet seine Hilfe an und führt den Feldzug mit einem Kommandounternehmen und in einer Feldschlacht zu einem siegreichen Abschluß (4. Aventiure).Beim Siegesfest darf er Kriemhild zum erstenmal sehen und läßt sich bewegen, weiterhin in Worms zu bleiben (5. Aventiure). Gunther entschließt sich auf die Nachrichten über die schöne starke Brünhilt unvermittelt, selbst zu einer Brautwerbung aufzubrechen, obgleich die übermenschlich starke Jungfrau aus dem Norden nur im Kampfspiel überwunden und gewonnen werden kann. Auf Hagens Rat hin wird Siegfried um Beistand und Begleitung bei dem Unternehmen gebeten und der Held willigt unter der Bedingung ein, daß er im Gegenzug die Hand Kriemhilds erhalte. Siegfried führt die Expedition nach Isenstein, in Brünhilds Reich und verleugnet dort seinen Stand und seine Identität, indem er sich als Gunthers Mann ausgibt und ihm unter der Tarnkappe zum Sieg bei den Wettkämpfen verhilft. (Aventiure 6 und 7). Um im fremden Land über hinreichende Machtmittel zu verfügen, holt Siegfried aus dem Reich der Nibelungen, das Alberich für ihn verwaltet, 1000 Ritter herbei (Aventiure 8), wobei er sich die Herrschaft in seinem Reich wieder erkämpft. Auf der Rückfahrt nach der erfolgreichen Brautwerbung eilt Siegfried auf den Rat Hagens hin als Bote nach Worms, wo Kriemhild ihn empfängt. Er mahnt den Lohn für seinen Dienst ein und nach der Hochzeit zwischen Gunther und Kriemhild findet die Vermählung von Siegfried und Kriemhild statt. Brünhild ist erschüttert, die Schwester des Königs mit einem Vasall verheiratet zu sehen und verweigert ihrem Gemahl daraufhin den ehelichen Beischlaf, fesselt ihn in der Brautnacht und hängt ihn an einen Nagel an der Wand des Schlafgemachs. Auf Gunthers Klage hin muß Siegfried erneut eingreifen und Gunthers Platz einnehmen. Er ringt Brünhild im Schlafgemach nieder, nimmt ihr Ring und Gürtel ab und Gunthers anschließender eheherrlicher Einsatz nimmt Brünhild endgültig ihre Kraft (Aventiure 10). Siegfried und Kriemhild verlassen dann den Wormser Hof und kehren nach Xanten zurück. Zehn Jahre später werden in Worms und Xanten Söhne geboren. Brünhild freilich läßt die Frage nach Siegfrieds Status und der Ehe Kriemhilds nicht ruhen. Sie drängt Gunther immer wieder zu einer Einladung, der Sigemund, Siegfried und Kriemhild dann auch Folge leisten. Am Nachmittag anläßlich eines Turniers kommt es dann zum Streit der Königinnen. Brünhild nimmt eine Wendung Kriemhilds über die Vorrangstellung ihres Mannes

4 Siegfried auf und wendet sie auf eine politische und ständerechtliche Ebene an. Siegfried könne nicht der Beste aller Männer sein, weil er erstens dem König unterworfen und zweitens unfrei (eigen man) sei. Kriemhild will den Vorrang ihres Mannes in einer öffentlichen Zeremonie dokumentieren. Sie bezichtigte Brünhild, eine Kebse zu sein und schreitet mit ihren Jungfrauen an Brünhild vorbei als erste in den Dom. Nach der Messe zur Rede gestellt, untermauert sie ihre Position mit dem Zeugnis von Ring und Gürtel, den Siegfried ihr in der Brautnacht abgenommen und ihr geschenkt habe. Die herbeieilenden Männer schlichten den Streit oberflächlich, indem Siegfried einen Eid ableistet, sich nicht des Beischlafes mit Brünhild gerühmt zu haben. Hagen überredet in einem Mordrat Gunther dazu, sich Siegfrieds zu entledigen. (Aventiure 14) Mit einer List entlockt Hagen Kriemhild das Geheimnis von Siegfrieds Verwundbarkeit und auf einer Jagd ermordet er ihn nach einem Wettlauf hinterrücks. Man legt die Leiche Siegfrieds nachts vor die Kemenate Kriemhilds und streut das Gerücht aus, Räuber hätten ihn erschlagen. Die Wunden des Ermordeten beginnen zu bluten, als Hagen im Münster an ihn herantritt und Kriemhild beschuldigt ihn und ihren Bruder Gunther des Mordes.Sigemunt und Siegfrieds Nibelungen kehren nach der Bestattung heim, Kriemhild bleibt auf Bitten ihrer Mutter und ihres Bruders Giselher in Worms (Aventiure 17 und 18). Nach einer Trauerzeit von dreieinhalb Jahren erwirkt Giselher eine Versöhnung zwischen Kriemhild und ihren Brüdern. Der Nibelungenhort wird nun nach Worms geholt und Kriemhilds Freigebigkeit weckt das Mißtrauen Hagens, der ausdrücklich von der Versöhnung ausgeschlossen war. Er versenkt den Schatz im Rhein. Neuneinhalb Jahre vergehen, in denen Kriemhild treu an ihren Gatten und Geliebten denkt Was also ist das Thema der ersten Aventiure des Nibelungenliedes? Geht es um die Jugendgeschichte einer königlichen Jungfrau? Wohl kaum, denn im Umfeld des sog. Falkentraums finden sich vor allem Angaben über den Ort (Burgonden), die Person Kriemhilts und ein Lob ihrer Schönheit, gepaart mit düsteren Vorausdeutungen auf kommendes Verhängnis (dar umbe muosen degene vil verliesen den lîp 2,4). Dann folgt schon die Beschreibung eines um 1200 modern erscheinenden Hofstaates und die Skizze des ihn tragendenden Personenverbandes. Der Text suggeriert mit bekannten Namen und Lokalitäten eine gewisse historisch-geographische Konkretheit. Es ist ja kein mythisches und auch kein legendarisch überhöhtes Bild von Herrschaft und Personenverband, das hier skizziert wird. So wie das Burgundenreich in der ersten Aventiure, so sieht weltliche Herrschaft im Mittelalters idealiter aus. Das Nibelungenlied gibt ein Bild davon, wie man um 1200 Herrschaft über eine

5 Region, d. h. über Land und Leute ausübte und verstand. Man spricht von Landes- oder Territorialherrschaft, die von einem adeligen Personenverband getragen wird. Zentrum und Bezugspunkt von allen weltlichen Lebensbezügen ist der "Hof". Im Nibelungenlied ist er erstmals in der Literaturgeschichte repräsentiert durch die sogenannten Hofämter und die Personen, die diese Ämter, die in aller Regel Ehrenämter von zeremoniellem Charakter sind, innehaben. In diese Darstellung einer machtbewußten und das Leben genießenden Männergesellschaft plaziert der Erzähler den Traum eines Mädchen und die Deutung des Traumes durch die Mutter. Weibliche Intuition, die unbewußte Kriemhilds und die vielleicht lebenskluge Ahnung Uotes, stellt diesen herrlichen Zustand der burgundischen Hofwelt in Frage - vage noch, ohne konkrete Hinweise, gleichsam unter der Oberfläche der sichtbaren Welt. Weibliche Traumerfahrung und weibliches Wissen um die Zukunft, finden in der Hofgesellschaft keine Resonanz. Warnende Stimmen werden im Nibelungenlied ohnehin konsequent überhört. Frauen haben so lange keine Stimme, wie sie keinen männlichen Stimmführer finden, der ihre Interessen und Vorstellungen vertritt. Nur der Erzähler ist mitunter im Bunde mit den Frauen. In der letzten Stophe der ersten Aventiure schließt er sich der Traumdeutung Uotes an und greift dann weit in eine eigensinnig verspielte Zukunft voraus: Kriemhild, so weiß er, wird allen ihren Beteuerungen zum Trotz die Frau eines außerordentlich kühnen Recken werden und dieser Recke, Der was der selbe valke, den si in ir troume sach, den ir besciet ir muoter. wie sêre si daz rach an ir naehsten mâgen, die in sluogen sint! durch sîn eines sterben starp vil maneger muoter kint Der Blick des Nibelungenliedes auf die Menschen ist eindringlich und illusionslos. Das ist neu, so alt die Stoffe und die Bildmuster auch sind, die im Nibelungenlied verwendet werden. Angelpunkt allen Geschehens ist nunmehr, was im Inneren des Menschen vorgeht, was er in seinen heimlichen Gedanken wälzt und wie die verborgene Innenwelt immer stärker die Oberhand über die Außenwelt gewinnt. Zur Vertiefung:

6 Das Nibelungenlied wird im akademischen Unterricht entweder in der zweisprachigen Ausgabe von Helmut Brackert oder in der Ausgabe der Reihe "Deutsche Klassiker des Mittelalters" gelesen: Das Nibelungenlied. Nach der Ausgabe von Karl Bartsch, hg. von Helmut de Boor, Wiesbaden Die Forschungsliteratur ist weit verzweigt. Als Einstieg empfehlen sich: Joachim Heinzle, Das Nibelungenlied. Eine Einführung, München, Zürich 1987 Jan-Dirk Müller, Das Nibelungenlied. Klassiker-Lektüren Bd. 5, Berlin 2002