Theorien der Sozialen Arbeit
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- Helmut Brauer
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1 UTB M (Medium-Format) 3775 Theorien der Sozialen Arbeit Ein Kompendium und Vergleich Bearbeitet von Helmut Lambers 1. Aufl Taschenbuch. 382 S. Paperback ISBN Format (B x L): 15 x 21,5 cm Weitere Fachgebiete > Pädagogik, Schulbuch, Sozialarbeit > Sozialarbeit > Sozialpädagogik/Sozialarbeit, Theorie und Methoden Zu Inhaltsverzeichnis schnell und portofrei erhältlich bei Die Online-Fachbuchhandlung beck-shop.de ist spezialisiert auf Fachbücher, insbesondere Recht, Steuern und Wirtschaft. Im Sortiment finden Sie alle Medien (Bücher, Zeitschriften, CDs, ebooks, etc.) aller Verlage. Ergänzt wird das Programm durch Services wie Neuerscheinungsdienst oder Zusammenstellungen von Büchern zu Sonderpreisen. Der Shop führt mehr als 8 Millionen Produkte.
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5 Helmut Lambers Theorien der Sozialen Arbeit Ein Kompendium und Vergleich Verlag Barbara Budrich Opladen & Toronto 2013
6 Der Autor: Helmut Lambers (Dr. phil., Dipl.-Pädagoge und Dipl.-Sozialpädagoge) ist Professor für Fachwissenschaft Soziale Arbeit am Fachbereich Sozialwesen der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen, Abteilung Münster. Arbeits- und Lehrschwerpunkte sind: Geschichte, Theorien und Konzepte Sozialer Arbeit, Sozialmanagement, Arbeitsweltorientierte Soziale Arbeit, Erzieherische Kinder- und Jugendhilfe. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier. Alle Rechte vorbehalten Verlag Barbara Budrich, Opladen & Toronto ISBN Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Lektorat und Satz: Claudia Kühne, Berlin Umschlaggestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart Druck: Friedrich Pustet KG, Regensburg Printed in Germany
7 Inhalt Einleitung Theorievorläufer Vom Spätmittelalter bis zur Industrialisierung Vom Spätmittelalter bis zur Neuzeit: Von Thomas von Aquin bis zu Juan Luis Vives Von der Neuzeit bis zur europäischen Aufklärung: Von Jean- Jacques Rousseau bis Christian Gotthilf Salzmann Von der Aufklärung bis zur Industrialisierung: Von Johann Heinrich Pestalozzi bis Johann Hinrich Wichern Theorieentwicklung zwischen Moderne und Spätmoderne Erste sozialpädagogische Theorieentwicklungen Paul Natorp Herman Nohl Erste fürsorgewissenschaftliche Theorieentwicklung und nordamerikanische Ansätze Alice Salomon Exkurs 1: Mary Ellen Richmond Exkurs 2: Laura Jane Addams Epilog: Gründungsmütter Salomon, Richmond, Addams Christian Jasper Klumker Ilse Arlt Hans Scherpner Neue sozialpädagogische Theorieentwicklung Klaus Mollenhauer Karam Khella... 99
8 Inhalt Hans Thiersch Hans-Uwe Otto und Bernd Dewe Lothar Böhnisch Michael Winkler Sozialarbeitswissenschaftliche Theorieentwicklung Louis Lowy Marianne Hege und Karlheinz A. Geißler Lutz Rössner Lieselotte Pongratz Carel B. Germain und Alex Gitterman Wolf Rainer Wendt Silvia Staub-Bernasconi Heiko Kleve Exkurs 3: Michael Bommes und Albert Scherr Theorienvergleich Vorbemerkung zur Vergleichsbildung Disziplinäre Selbstbezeichnungen Differenzen und Konvergenzen Übersicht über disziplintheoretische Wurzeln Begriffslinie: Sozialpädagogik Begriffslinie: Sozialarbeit, soziale Arbeit Soziale Arbeit als Konvergenzbegriff Sozialarbeitswissenschaft Zusammenfassung Bezugsproblem und wissenschaftlicher Gegenstand Sozialer Arbeit Wozu Gegenstandsbestimmung? Gegenstandsbestimmungen in der Gesamtsicht Diskussion Zusammenfassung Allgemeine Formen und Merkmale der Theoriebildung Die Frage nach den unterschiedlichen Theorieformen Die Frage nach den wissenschaftlichen Anforderungen an Theoriebildung Die Frage nach der Geschlossenheit der Theoriebildung VI
9 Inhalt Unterscheidung von Disziplintheorien und Professionalisierungstheorien Zusammenfassung Typisierungsversuche Stand Schwierigkeiten Einflussreiche wissenschaftliche Erkenntniskonzepte in der Theoriebildung Sozialer Arbeit Hermeneutik Phänomenologie Kritischer Rationalismus Dialektischer und Historischer Materialismus Kritische Theorie Chicagoer Schule (Sozialökologie) und Symbolischer Interaktionismus Systemtheorien Systemtheoretisch-konstruktivistischer Zugang Systemisch-ökologisch orientierter Zugang Systemisch-ontologisch orientierter Zugang Verortungen der Theoriebildungen innerhalb der wissenschaftlichen Erkenntniskonzepte Zusammenfassung Empowerment: gemeinsamer Nenner? Was ist Empowerment? Anfragen an den Empowerment-Ansatz Theoriedilemma? Literatur Sachregister Personenregister VII
10 Inhalt Abbildungen Abb. 1: Mary Richmonds Diagram of Forces with which the Charity Worker May Co-operate Abb. 2: Hermeneutischer Zirkel (eigene Darstellung) Abb. 3: Phänomenologische Wesensschau (eigene Darstellung) Tabellen Tab. 1: Gesamtübersicht der Theorievertreterinnen und Theorievertreter Tab. 2: Handlungsmodell nach Staub-Bernasconi Tab. 3: Zuordnung nach primärer Disziplinverortung Tab. 4: Erste sozialpädagogische Theorieentwicklung Tab. 5: Erste fürsorgewissenschaftliche Theorieentwicklung und nordamerikanische Ansätze Tab. 6: Neue sozialpädagogische Theorieentwicklung Tab. 7: Sozialarbeitswissenschaftliche Theorieentwicklung Tab. 8: Typisierung nach Zentraltheorien (Lukas 1979) Tab. 9: Typisierung nach kontroversen wissenschaftstheoretischen Positionen (Marburger 1979) Tab. 10: Typisierung nach wissenschaftstheoretischen Prämissen (H.L. Schmidt 1981) Tab. 11: Integrierte Typologien (Mühlum 1982) Tab. 12: Topografie der Theorienbildung (Thiersch 2005) Tab. 13: Paradigmen der Sozialen Arbeit (Sahle 2004, Röh 2009) Tab. 14: Typisierung nach Theorieetiketten entsprechend der Kernintention (Thole 2002, 2005, 2010) Tab. 15: Typisierung nach Strömungen und Paradigmen (Spatscheck 2009) Tab. 16: Wissenschaftstheoretische Verortungen in der Gesamtsicht VIII
11 Einleitung In diesem Lehrbuch geht es um Theorien der Sozialen Arbeit, nicht um Theorien in der Sozialen Arbeit. Letztere werden in kaum überschaubarer Präsenz über referenzwissenschaftliche Beiträge der Psychologie, Anthropologie, Theologie, Philosophie, Politologi e, Soziologie, Rechtswissenschaft, Medizin und sei t Längerem auch der Ökonom ie beigesteuert. Dieses Buch widmet sich der Theori ebildung, die Soziale Arbeit und, um historisch genau zu bleiben: Sozialpädagogik und Sozialarbeit als eigenständige wissenschaftliche Disziplin(en) zu begründen versucht. Um ein Bild über die Theorie Sozialer Arbeit zu bekommen, muss man im Plural sprechen. Die Theorienlandschaft Sozialer Arbeit stellt sich dabei eher als eine Suchbewegung nach Theori efundierung dar. Entsprechend stehen wir vor einer Ansammlung von unterschiedlichen Theorien, Theorieentwürfen oder Theoriefragmenten, bei denen Anzeichen auf das Zust andekommen eines konvergierenden, mehr oder weniger in sich geschlossenen Theoriegebäudes Sozialer Arbeit nicht in Sicht sind. Seit den Versuchen, Sozi ale Arbeit (Sozialpädagogik und Sozialarbeit) als wissenschaftliche Disziplin zu etablie ren, ist es nicht gelungen, eine für ihre Profession einheits- und identitätsstiftende Theorie zu entwickeln. 1 Für die subjekttheoretisch ausgerichtete Sozialpädagogik bleibt festzustellen, dass es bi s heute nicht zu ei ner Einigung darüber gekom men ist, was das Soziale in der Pädagogik eigentlich sei und was als das Pädagogische im Sozialen zu verst ehen und zu l eisten in der Lage i st. 2 Auch in der relativ jungen, eher systemisch und/oder systemtheoretisch ausgerichteten Sozialarbeitswissenschaft ist kein gemeinsames Theoriegebäude in Sicht. Deutlich wird dies vor allem in der sehr unt erschiedlichen Inanspruchnahme systemtheoretischer Verstehenskonzepte. Im Studium der Sozialen Arbeit stehen unterschiedliche Theorien nebenund gegeneinander. Diese Ausgangslage macht es erforderlich, sich in Ausbildung und Studium mit den verschiedenen Entwicklungen sozialpädagogischer und sozialarbeitswissenschaftlicher Theorien auseinanderzusetzen. Da 1 Vgl. Schrödter 2007, S Vgl. Dollinger 2006, S. 19; Dollinger 2007, S. 7f.; Henseler 2000, S. 9.
12 Einleitung es sich in der Theori eentwicklung Sozialer Arbeit um einen fortwährenden Diskurs handelt, niemals aber um ein abschließbares Theoriegebäude, gehört die Auseinandersetzung mit diesem Theoriediskurs zu den Grundl agen des Studiums der Sozialen Arbeit. Theoriebeiträge der Sozialen Arbeit sind ohne Kenntnisse ihrer Theoriegeschichte kaum zu verstehen. Dabei gerät Soziale Arbeit historisch betrachtet bereits mit den ersten Almosenlehren des Hoch- und Spätmittelalters (z.b. Thomas von Aquin) und Subventionslehren der Hochrenaissance (z.b. Juan Luis Vives) in den Blick. 3 Die Herausbildung des Helfens als Beruf erreichte ihre sichtbare Form hingegen erst in der modernen Gesellschaft, Anfang des 20. Jahrhunderts, und i m professionalisierten Gewand erst mit Beginn der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Da mit ist der zeitliche Rahm en für die Theorieentwicklungen der Sozialen Arbeit abgesteckt. In den erst en beiden Kapiteln werden die ersten Theorievorläufer in der Zeit vom Spätmittelalter bis zur Industrialisierung vorgestellt und der begriffliche, historische und funktionale Kontext der Theorieentwicklung der Sozialen Arbeit besprochen. Darauf folgt eine Übersicht über die Theorieentwicklungen in der modernen Gesellschaft. Die zentralen Aussagen der Theorien werden ei nführend in ihren Grundzügen skizziert; vorangestellt ist ein kurzer biografischer Abriss. Anschließend werden i n einem Diskussionsteil vertiefende und di skursive Aspekte besprochen. Der abgekürzt e Weg, den ei n Kompendium zur Erschließung seines Gegenstandes eröffnet, kann di e Auseinandersetzung mit den Originaltexten nicht ersetzen. Zur wei teren Vertiefung folgen daher Literaturempfehlungen zu den einzelnen Theorien in einer kleinen Übersicht. Auf eine systematische Kritik der vorgestellten Theorien wird hier bewusst verzichtet. Diese soll Studierenden durch ei gene reflexive Auseinandersetzungen vorbehalten bleiben. Entsprechende Kommentierungen und Anfragen, die den Reflexionsprozess nicht behindern, sind hingegen unabdingbar. Zudem wird Wert darauf gelegt, dass in diesem Kompendium keine Theorieentwicklung bewusst ausgeklammert wird; weder i m Sinne einer Bedeutungszuschreibung für den Diskurs innerhalb der Sozialen Arbeit noch mit Blick auf eigene theoretische Vorlieben. 4 3 Vgl. Lambers 2010b. 4 Engelke/Borrmann/Spatscheck (2008) klammern bspw. die T heorien von W endt und Winkler aus, mit der Begründung: Beide Theorien haben nach Meinung vieler Leserinnen und Leser und auch nach unserer Meinung nicht mehr die Bedeutung im wissenschaftlichen Diskurs der Sozialen Arbeit, wie sie sie vor 10 Jahren gehabt haben (ebd., S. 9). Winkler war in den Auflagen 1998 und 2002, Wendt in den Auflagen 1992, 1998 und 2002 noch enthalten. Zudem werden systemtheoretisch-konstruktivistische Ansätze der Theoriebildung bei Engelke weitestgehend ignoriert. Die Meinung, dass in den letzten zehn Jahr en die Theorien von W inkler und W endt von einem Bedeutungsrückgang gekennzeichnet sind, wird hier nicht geteilt. Das trifft auch auf die in dem Lehrbuch praktizierte Ausklammerung systemtheoretisch-konstruktivistischer Ansätze der Theoriebildung Sozialer Arbeit zu. 2
13 Einleitung Anliegen dieses Buches ist es, die unterschiedlichen Theorien sowie ihren jeweiligen diskursiven Kontext nicht nur zeitlich und sachlich geordnet in den Blick zu nehmen, sondern auch ei nen Vergleich zu ermöglichen. Als Vergleichskategorien dienen in di esem Lehrbuch die Selbstbezeichnungen der Disziplin, die wissenschaftstheoretischen Anforderungen an Theori en und ihre Verortungen, die verschiedenen Gegenstandsbestimmungen und gemeinsamen Leitorientierungen. Ob di ese zum Beispiel in dem häufig in Anspruch genommenen Empowermentbegriff gegeben si nd, wird anschließend untersucht. Abschließend erfolgt eine Einschätzung zur Vi elfalt der Theorien der Sozialen Arbeit selber. Ist sie Ausdruck eines Dilem mas? Der Entwicklungsstand bisheriger Typisierungsversuche und die dabei auftretenden Probleme werden ausführlich in den Blick genommen. Auf einen eigenen und damit weiteren Typisierungsversuch wird bewusst verzichtet. Stattdessen werden die unterschiedlichen wissenschaftlich-theoretischen Ausgangspositionen und Synthetisierungen, die verschiedenen Festlegungen auf ein Bezugsproblem sowie auch Gem einsamkeiten der Theoriebildungen untersucht. Insofern ergibt sich eher indirekt eine Typisierung der Theorien über die Eingrenzung der von ihnen formulierten Bezugsprobleme und der damit verbundenen Gegenstandsbestimmungen. 3
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15 1 Theorievorläufer Vom Spätmittelalter bis zur Industrialisierung Eine systematische Reflexion gesellschaftlicher Reaktionen auf das Phänomen Armut setzte erst gegen Ende des 19. Jahrhundert s ein, als erste Bestrebungen, soziale Tätigkeiten zu verberuflichen und zu akademisieren, zu verzeichnen waren. Bevor wir die dann einsetzende vielfältige Theorieproduktion untersuchen, sollen die ihnen vorlaufenden Ideen in den Blick genommen werden. Epochengeschichtlich bewegen wir u ns damit vom Spätmittelalter über die einsetzende Neuzeit und di e europäische Aufklärung bis hin zur Frühzeit der Industrialisierung. Aus der langen Reihe von Protagonisten, die wir als Theorievorläufer der besonders im 20. Jahrhundert einset zenden wissenschaftlichen Reflexion Sozialer Arbeit ausmachen müssen, werden wir hier nicht alle berücksichtigen können. W ir beschränken uns i m Folgenden auf di e Personen, di e die theoretische Auseinandersetzung mit dem Phänomen Armut und auch Kindererziehung in ihrer jeweiligen Zeit am nachhaltigsten bestimmten. Kindererziehung ist neben der Erwachsenenarmut deshalb mit einzubeziehen, da die Kindheit spätestens in der vorindustriellen Zeit auch im Kontext von Armut und Armutsbekämpfung reflektiert wurde. Als geistige Protagonisten nehmen wir damit die prominentesten Vorläufer Sozialer Arbeit aus der Zeit vom Spätmittelalter bis zur Moderne in den Blick. Es sind: Thomas von Aquin ( ), Johannes Gei ler von Kay sersberg ( ), Sebastian Brant ( ), Wenzelslaus Linck ( ), Juan Lui s Vives ( ), Jean-Jacques R ousseau ( ), Christian Gotthilf Salzmann ( ), Johann Hei nrich Pestalozzi ( ), Thomas Robert Malthus ( ), Fri edrich Wilhelm August Fröbel ( ), Johann Baptist von Hi rscher ( ) und Johann Hi nrich Wichern ( ) Vom Spätmittelalter bis zur Neuzeit: Von Thomas von Aquin bis zu Juan Luis Vives Für die Zeit des Übergangs vom Hoch- zum Spätmittelalter ist vor allem der Theologe und katholische Kirchenlehrer Thomas von Aquin (um ) zu nennen. Er gehört e zu den bedeut endsten und wi rkmächtigsten Philoso- 5 Vgl. ausführlicher Lambers 2010b.
16 Theorievorläufer phen seiner Zeit. Thomas von Aquin formulierte die von ihm nach dem Matthäus-Evangelium benannten sechs W erke der B armherzigkeit : Hungrige speisen, Durstige tränken, Nackte bekleiden, Fremde beherbergen, Kranke pflegen, Gefangene besuchen. Ein siebtes Werk (Tote begraben) fügt e die Kirche später hinzu. Diese W erke der Barmherzigkeit kennzeichnen im Wesentlichen den Geist der Alm osenlehre im Mittelalter. Geld in Form von Almosen sowie tätige Nächstenliebe waren die zentralen Mittel des Bedarfsausgleichs. Die Erbringung dieser Form wurde mit der Erlangung des Seelenheils als moralische Bindung gesichert. Mit Beginn der Neuzeit (15. Jahrhundert) trat zunehmend der Gedanke einer systematischen und rationalen Armenfürsorge in den Vordergrund. Ein Wegbereiter der großen Reformen städtischer Armenfürsorge war der Pri ester und Theologe Johannes Geiler von Kaysersberg (bürgerlich: Johann Geiler, ). Er berief sich nicht selten auf die Gedanken seines Freundes und Rechtsgelehrten Sebastian Brant ( ), den Verfasser des berühmt gewordenen Narrenschiffes (1494). Brant kritisierte m it den Mitteln der Narrensatire Verhältnisse in der Gesellschaft und versuchte sie als Missstände aufzudecken. Geiler und Brant plädierten für einen Umgang mit der Armut, der sich am Gemeinwesen ausrichten sollte, was letztlich Bestrebungen zur Abschaffung des B ettelns zum Ziel hatte. Das hatte zur Folge, dass die Arbeitsverpflichtung Armer zunehmend in den Mittelpunkt der Armenfürsorge geriet. Immer deutlicher betont wurde die Arbeitsverpflichtung des Armen, der für die Überwindung seiner Armut nun selbst in die Pflicht genommen wurde. Deutlich formulierte dies der Theologe Wenzelslaus Linck ( ). Jeder Mensch sollte fortan dazu verpflichtet sein, sich durch eigene Arbeit zu ernähren und Angehörige, die hierzu nicht mehr in der Lage waren, wirtschaftlich zu unterhalten. Erst wen n dies nicht mehr zu leisten war, sollte die Gemeinde eingreifen. Linck brachte neben Martin Luther ( ) einen der bedeutsamsten Beiträge reformatorischen Gedankengutes in die Reform der Armenfürsorge ein. 6 Die weitere Entwicklung der städtischen Armenpflege wurde umfassend und nachhaltig durch die Ideen von Juan Luis Vives ( ) beeinflusst. Vives spanischer Humanist, Philosoph und Lehrer war m it seinen Schriften ein Wegbereiter der späteren modernen Psychologie und Pädagogik. Vives suchte nach strukturellen Lösungen, die über die m ittelalterliche Almosenlehre hinausgehen sollten. Er entwickelte den Gedanken einer Subventionspraxis (De subventione pauperem, 1526). Si e sah vor, dass Arm e und ihre Kinder nicht Almosenempfänger bleiben, sondern zu Erziehung und zur Arbeit verpflichtet werden sollten, um auf diesem Wege aus dem Armenstand herauszufinden. Vives versuchte humanistische Ideale und die Kirchen- 6 Vgl. Sachße 1983, S
17 Theorievorläufer lehre seiner Zeit in Übereinstimmung zu bringen. Er erkannte den Menschen als ein soziales W esen. Folglich ersc hien ihm die Frage nach der Verursachung von Not und Armut eine in die Armenpflege einzubringende Perspektive. Armut war demnach nicht Ausdruck einer göttlichen Ordnung, sondern durch die Habgier und Herrschsucht des Menschen selbst verschuldet (ökonomische Ursachen). Wohlhabende sollten einerseits der Pflicht unterliegen, ärmeren Menschen weiterhin zu helfen, andernfalls würden sie der Gem einschaft schaden. Andererseits sollten alle Bedürftigen der Pflicht unterliegen, zu arbeiten und auf di ese Weise ihre Bedürftigkeit aufzuheben. Das M otiv des Helfens wurde an Arbei t gebunden, durch die Angebotspflicht des Wohlhabenden auf der ei nen und durch di e Annahmepflicht des Armen auf der anderen Sei te. Vives Ideen entfalteten Wirkungen in der prakt ischen Armenpflege, die weit über seine Zeit hinausgehen. Nicht was der Bedürftige fordert, sondern das, was i hn fördert, soll ihm gegeben werden. 7 Arbeitspflicht, Arbeitsbeschaffung, Armenregistrierung und Kont rolle der Armen und der gesamte erzieherische Impetus der Vives schen Unterstützungstheorie sind Elemente, die lediglich sprachlich moduliert bis heute eine Rolle in der Wohlfahrtspflege spielen. 1.2 Von der Neuzeit bis zur europäischen Aufklärung: Von Jean-Jacques Rousseau bis Christian Gotthilf Salzmann Der Kraft des menschlichen Verstandes vertrauend und von der kontinuierlichen Durchsetzung der Vernunft in der Menschheitsgeschichte überzeugt, strebte der R ationalismus der Aufkl ärung nach gl atten, widerspruchsfreien Lösungen auf allen gesellschaftlichen Eb enen. Gegen dieses rationalistische Aufklärungsverständnis trat der französi sch-schweizerische Schriftsteller, Philosoph und Pädagoge Jean-Jacques R ousseau ( ) auf. Auf ei ne Preisfrage der Akadem ie zu Di jon, ob di e Erneuerung der W issenschaften und Künste zu einer Verbesserung de r Sitten geführt habe, antwortete Rousseau in einem Aufsatz mit einem deutlichen Nein. Er bekam dafür den ersten Preis (1749). Danach fol gten mehrere, später berühmt gewordene Schriften, die Johann Wolfgang von Goet he ( ) und auch spät er Friedrich Engels ( ) bei ihren eigenen Werken inspirierten. 7 Hier gibt es unver kennbare Parallelen zum heutigen Gedanken des aktivier enden Sozialstaates. Fördern und Fordern ist ein zentraler Leitgedanke neoliberaler Sozialpolitik, in der europäischen Politik erstmals durch Tony Blair (englischer Premierminister von ) vertreten. 7
18 Theorievorläufer Eines der berühmtesten und bekanntesten Werke Rousseaus ist der Erziehungsroman Émile, ou De l éducation 8 (1762), der nicht nur wi ssenschafts- und kulturkritisch war, sondern seinerzeit auch als kirchenfeindlich eingestuft wurde. R ousseaus Schriften und Theori en werden durch seine Ablehnung des feudal istischen Systems und sei nen Glauben an den Fort - schritt der Menschheit und ihren Schlüssel die Erziehung getragen. Rousseaus einleitende Worte zu seinem pädagogischen Hauptwerk Emil oder Über die Erziehung lesen sich wie eine Anklage gegen die herrschende, als nicht kindgerecht empfundene Praxis. Man kennt die Kindheit nicht: mit den falschen Vorstellungen, die man von ihr hat, verwirrt man sich umso mehr, je weiter man geht. Die Klügsten bedenken nur, was Erwachsene wissen müssen, aber nicht, was Kinder aufzunehmen imstande sind. Sie suchen immer nur den Mann im Kind, ohne daran zu denken, was er vor seinem Mannsein war. 9 Hier wird bereits angedeutet, dass R ousseau gleichermaßen Aufklärer und Kritiker der Aufklärung war. Alles ist gut, wie es aus den Händen des Schöpfers kommt; alles entartet unter den Händen des M enschen. 10 Diese philosophische Grundeinstellung begleitete Rousseaus gesamte Pädagogik. Die Natur bildet hierbei den Zent ralbegriff seiner Philosophie. Rousseau definierte ihn in positiver Abgrenz ung zur Kultur. Kulturelle Entwicklung setzte er gl eich mit einer verhängnisvollen Fortentwicklung des Menschen von seinem eigentlichen, ursprünglich positiven Naturzustand. Wissenschaft, Literatur, Künste bzw. säm tliche Kulturleistungen des Menschen waren für Rousseau der Ursprung al len menschlichen Übels, bedeuteten Ursache von Unfreiheit, Ungleichheit und gesellschaftlichem Zerfall. 11 Rousseau war jedoch genöt igt, den i n seiner ersten und zweiten Preisschrift vertretenen Natur-Kultur-Antagonismus zu relativieren, da er ni cht allein an der Kulturkritik, sondern auch an der Verbesserung der m enschlichen Gesellschaft interessiert war. Mit seinem Werk Contract Social (Gesellschaftsvertrag) entwarf er eine Staatstheorie und mit seinem Émile die entsprechende Pädagogik dazu. Die zentrale Aufgabe, die Rousseau in seinem Gesellschaftsvertrag politisch lösen wollte, lautete: Finde eine Form des Zusammenschlusses, die mit ihrer ganzen gemeinsamen Kraft die Person und das Vermögen jedes einzelnen Mitg liedes verteidigt und schützt und durch die doch jeder, indem er sich mit allen vereinigt, nur sich selbst gehorcht und genauso frei bleibt wie zuvor Emil oder Über die Erziehung. 9 Rousseau 1971 (1762), S A.a.O., S Vgl. Rousseau 1. und 2. Preisschrift, zit. in Reble 1971, S Rousseau 1977 (1762), S
19 Theorievorläufer Diese wie eine Quadratur des Kreises anmutende Aufgabe lässt sich analog zu Rousseaus Pädagogik lesen. Die Lösung sah er i n der Fortbewegung von der modernen Kultur durch Hinwendung zur Natur. Die Erziehungsidee einer von ihm als natürliche Erziehung benannten Erziehung ging von der anthropologischen Annahme aus, dass der M ensch von Natur aus gut, infolge kulturell erlittener Blessuren jedoch degeneriert und zu regenerieren sei. Rousseau will künstliche Lern- und Erziehungsmittel umgehen, ihm geht es weniger um die Lernmethoden als um die Lernmotivation. Rousseau lehnte zum Beispiel John Lockes ( ) Idee, m ithilfe von Lesewürfel n das Lesen zu lehren, vehement als künstliches Verfahren ab. Rousseau war ein Gegner didaktischen Materials, vielmehr sollte der natürliche Alltag in den Erziehungs- und Bildungsprozess einbezogen werden. Zeitgewinn durch Synthetisierung von Erziehung und theoretisierender Didaktik ist für Rousseau identisch mit einer Entfernung von dem, jedem Kind von Geburt an, mitgegebenen Entwicklungsplan, von dessen Anlage Rousseau ausging. 13 Rousseaus radikale Kulturkritik su chte Kindheit aus der Macht aller kirchlichen und aristokratischen Autorität zu ent reißen und fernab di eser Zivilisation idealtypisch heranzubilden. Der hierin verborgenen Autonomiekonzeption gab Rousseau in seiner Staatsidee vom Gesellschaftsvertrag (Contract Social) ein politisches Gesicht. Ein gesellschaftlicher Zusammenschluss, der die Summe aller individuellen Freiheitsbegriffe schützt, sollte gefunden werden. Der Bürger m üsse Schritt für Schritt zur Republik, zu einem Volk, das seine Regierung selber einsetzt und seine kulturell fehlentwickelten, selbstsüchtigen Interessen zugunsten sozialer umgestaltet, befähigt und durch Erziehungsarbeit 14 entwickelt werden. Rousseaus fiktiv entworfene Erziehungskonzeption lieferte das dazugehöri ge Menschenbild. Rousseau war mit seinen politisch-philosophischen Schriften einer der geistigen Wegbereiter der Französi schen Revolution ( ). Sei ne pädagogischen Schriften, insbesondere sein Erziehungsroman Emil oder Über die Erziehung beeinflussten nachhaltig besonde rs die philanthropische Pädagogik des 18. und di e spätere Reformpädagogik des 19. Jahrhundert s im deutschsprachigen Raum. Stark inspiriert durch Jean-Jacques Rousseau war die pädagogische Ideengeschichte der sogenannten philanthropischen Bewegung. 15 Besonders zu nennen ist hier der evangel ische Pfarrer und Pädagoge C hristian Gotthilf Salzmann ( ). Sal zmann arbeitete an der von Johann Bernhard 13 Vgl. Rousseau 1971, S Vgl. Vogel 1974, S Der Philanthropismus (Philanthrop: Menschenfreund) ist eine W ortschöpfung des 18. Jahrhunderts. Er bezeichnet ei ne deutsche Reformbewegung zur Zeit der Aufklärung. Die philanthropische Pädagogik war besonders von Rousseau inspiriert und Grundlage der späteren Reformpädagogik im 19. Jahrhundert. 9
20 Theorievorläufer Basedow ( ) gegründeten und geprägten Schule, dem Philantropinum in Dessau gründet e Salzmann eine eigene Anstalt in Schnepfenthal. In seinem Krebsbüchlein (1780, 3. Auflage 1792) und in seinem Ameisenbüchlein (1805) kritisierte Salzmann in ungewöhnlicher Form die Erziehungspraktiken seiner Zeit: Von allen Fehlern und Untugenden seiner Zöglinge muss der Erzieher den Grund in sich selbst suchen 16. Mit seinem Konrad Kiefer (1796) war er al s der deut sche Jean-Jacques R ousseau bekannt geworden. Ähnlich wie in Rousseaus Émile stellte Salzm ann in seinem Erziehungsroman seine romantischen Erziehungsvorstellungen vor. Im Ameisenbüchlein (1806) sind seine Überzeugung und Ideen von der Notwendigkeit der Erziehung der Erzieher nachzule sen. Mit seinem sechsteiligen Roman Carl von Carlsberg oder über das menschliche Elend (1783/87) griff Salzmann die Waisenanstalten an, und er empfahl ihre radikale Auflösung und Unterbringung der Kinder in Pflege familien. Salzmann war nicht der Urheber, aber einer der theoriegebenden Protagonisten des Waisenhausstreites zum Ende des 18. Jahrhunderts. Dieser Streit konnte aber letztlich nicht die Anstaltspädagogik verh indern, die sich im 19. Jahrhundert endgültig durchsetzte Von der Aufklärung bis zur Industrialisierung: Von Johann Heinrich Pestalozzi bis Johann Hinrich Wichern Mit dem Schweizer Johann Hei nrich Pestalozzi ( ) ebenfalls stark von Rousseau inspiriert betr itt ein Pädagoge die Bühne der Armenerziehung, der weit über die Landesgrenzen hinaus Beachtung fand. Er gehört bis heute zu den m eist zitierten Autoren in der Sozialpäda gogik. Pestalozzi gilt sozusagen als Ahnherr oder Stifte rfigur des sozial pädagogischen Denkens. 18 Mit Pestalozzi ist der Gedanke ei ner Volkserziehung für Kinder aller Schichten verbunden. Er suchte nach einem Modell der Armenerziehung, das in seiner pädagogischen Beziehungs gestaltung über di e von Philipp Jacob Spener ( ) etablierte Form der Arbeits-, Zucht- und Waisenhäuser und den von August Hermann Francke ( ) erwerbsbasierten Armenschulen und W aisenhäusern hinausgehen sollte. Pestalozzi entwickelte für seine Arbeit eine sogenannte Elementarmethode. Ihr liegt die Auffassung 16 Salzmann 1964, (1805), S Vgl. Röper 1976, S Vgl. Horlacher 2007, S
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