Studien und Materialien zum Straf- und Maßregelvollzug
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- Etta Michel
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1 Studien und Materialien zum Straf- und Maßregelvollzug herausgegeben von Friedrich Lösel, Gerhard Rehn und Michael Walter Band 23
2 Psychologische Kriminalprognose Wege zu einer integrativen Methodik für die Beurteilung der Rückfallwahrscheinlichkeit bei Strafgefangenen Klaus-Peter Dahle 2. Auflage Centaurus Verlag & Media UG 2010
3 Klaus-Peter Dahle, geb. 1960, PD Dr. phil., Dipi.-Psychologe, Fachpsychologe für Klinische Psychologie und Psychotherapie, psychologischer Psychotherapeut, Fachpsychologe für Rechtspsychologie Habilitation für Psychologie. Er ist wissenschaftlicher Hochschulassistent am Institut für Forensische Psychiatrie der Charité Berlin. Zahlreiche Publikationen, insbesondere zur Straftäterbehandlung, zu den lebenslängsschnittliehen Verlaufsformen delinquenter Entwicklungen, den Möglichkeiten und Grenzen psychephysiologischer Verfahren der Täterschaftsbeurteilung und zur Methodenentwicklung psychologisch-forensischer Diagnostik. Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek Dahle, Klaus-Peter: Psychologische Kriminalprognose: Wege zu einer integrativen Methodik für die Beurteilung der Rückfallwahrscheinlichkeit bei Strafgefangenen / Klaus-Peter Dahle. - Freiburg: Centaurus-Verl., 2010 (Studien und Materialien zum Straf- und Maßregelvollzug; Bd. 23) Zugl.: Berlin, Freie Univ., Habil., 2005 ISBN DOI / ISBN (ebook) ISSN X Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. CENTAURUS Verlag & Media KG, Freiburg 2010 Umschlaggestaltung: Antje Walter, Titisee-Neustadt Satz: Vorlage des Autors
4 Vorwort Kriminalprognosen - oder genauer: individuelle Kriminalrückfallprognosen - haben im deutschen Strafrecht vieifliltige Funktionen und mitunter sehr weitreichende Folgen. Sie beeinflussen nicht nur Auswahl und Bemessung strafgerichtlicher Sanktionen, sondern steuern auch die Modalitäten ihres Vollzuges und bestimmen nicht zuletzt über die Frage nach dem geeigneten Zeitpunkt der Beendigung vor allem freiheitsentziehender Sanktionen. Mit den so genannten,,maßregeln der Besserung und Sicherung"( 61 ff. des Strafgesetzbuchs [StGB]) sieht das deutsche Strafrecht zudem einen Maßnahmenkatalog vor, der sich allein an der Erwartung zukünftiger Strafrechtsverstöße eines Täters orientiert und sich ausschließlich durch eine entsprechende Prognose legitimiert. Gerade für diese Maßregeln hat der Gesetzgeber mit dem "Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefahrliehen Straftaten" sowie mit der Neueinführung der vorbehaltlichen ( 66a StGB) und der nachträglichen ( 66b StGB) Sicherungsverwahrung unlängst die Anwendungsschwellen gesenkt und die Anordnungsmöglichkeiten deutlich ausgeweitet. Dies unterstreicht nicht nur den Bedarf an validen Prognosemethoden. Es zeugt auch für das Vertrauen, das der Gesetzgeber offenbar in die Möglichkeiten einigermaßen zuverlässiger Vorhersagen setzt. Immerhin bedeutet eine Sicherungsverwahrung( 66 ff. StGB) oder eine psychiatrische Maßregel( 63 StGB) einen potentielllebenslangen Freiheitsentzug auf der bloßen Grundlage von Erwartungen an das zukünftige Verhalten des Betroffenen. In strafrechtlichen Anwendungsbereichen von Kriminalprognosen mit weitreichenden Folgen sehen Gesetzestexte und Rechtsprechung die Hinzuziehung von Sachverständigen vor, die den Rechtsanwender bei seiner Entscheidungstindung mit fachlicher und methodischer Expertise unterstützen sollen. Ihre Aufgabe ist es, die Rechtsentscheidung in ihren verhaltensprognostischen Aspekten auf eine rationale und wissenschaftlich fundierte Grundlage zu stellen. Hierzu sind jedoch Prognosemethoden erforderlich, die auch wissenschaftlichen Kriterien genügen. Sie müssen insofern auf empirisch belegten Zusammenhangserwartungen beruhen, eine objektive Anwendung ermöglichen und vor allem valide Einschätzungen gewährleisten. Der streng einzelfallorientierte strafrechtliche Kontext bedingt es zudem, dass die herangezogenen Methoden eine spezifische Analyse individueller Besonderheiten erlauben müssen; ein Vorgehen, das ausschließlich auf gruppenbezogene Durchschnittserfahrungen baut - wie z. B. die statistischen Prognoseinstrumente -, wird den rechtlichen Anforderungen nicht gerecht. Erforderlich ist vielmehr eine idiographische Methodik (zumindest deren Einbezug), die in der Lage ist, die im konkreten Anlassgeschehen realisierte Tatdynamik und ihre Hin- V
5 tergründe zu analysieren und die hierfür verantwortlichen Faktoren zu identifizieren. Weitere Vorgaben an Inhalt oder Methodik von Prognosebeurteilungen sucht man in Gesetzestexten hingegen vergeblich. Auch die Rechtsprechung hat bislang keine sehr weitreichenden inhaltlichen oder methodischen Anforderungen formuliert. Es überrascht daher nicht, dass verbindliche methodische Standards für strafrechtliche Prognosebegutachtungen einstweilen nicht in Sicht sind. Gemessen an der Bedeutung und Tragweite strafrechtlicher Prognoseentscheidungen mag es jedoch überraschen, dass systematische Grundlagenforschung und wissenschaftlich fundierte Methodenentwicklungen zur Kriminalprognose hierzulande mehr als rar sind. In der deutschsprachigen Literatur werden verschiedene methodische Ansätze diskutiert, deren Beforschung jedoch weitgehend aussteht. In der Praxis obliegt derweil dem Gutachter die Wahl einer für den jeweiligen Einzelfall geeigneten Methodik, was einer gewissen Willkürlichkeit bei der Auswahl und Anwendung methodischer Strategien im Rahmen sachverständiger Prognosebegutachtungen Vorschub leistet und zu einer wenig befriedigenden, weil uneinheitlichen Rechtspraxis beiträgt. Auf der anderen Seite ist insbesondere (aber nicht nur) im angloamerikanischen Ausland seit geraumer Zeit eine sehr rege Forschungsaktivität zu beobachten. Dort wurde in den vergangeneu Jahren eine Anzahl moderner Prognoseinstrumente entwickelt, die vergleichsweise umfassend beforscht wurden und mittlerweile auch in Deutschland zunehmend Beachtung finden. Mitunter werden sie bereits in der Praxis angewendet, systematische Untersuchungen ihrer Übertragbarkeit aufhiesige Verhältnisse und der Zuverlässigkeit der mit ihnen unter den hiesigen Bedingungen erzielbaren Einschätzungen fehlen indessen weitgehend. Darüber hinaus ist noch einmal festzuhalten, dass diese Verfahren allein nicht den hiesigen Rechtsansprüchen an den Individualisierungsgrad strafrechtlicher Prognosebeurteilungen genügen, da es sich durchgängig um aktuarische Instrumente handelt, die gruppenbezogene empirische Durchschnittserfahrungen wiedergeben. Selbst wenn sich die Instrumente bei hiesigen Stichproben bewähren würden, wären daher weitere Methodenentwicklungen erforderlich, um die Instrumente in eine umfassende Strategie, die auch idiographische Beurteilungen umfasst, zu integrieren. Bei der Berliner CRIME-Studie handelt es sich um ein Forschungsprojekt, das die skizzierten Defizite aufgreift und zu reduzieren sucht. Ihre wesentlichen Ziele waren eine systematische Untersuchung der international derzeit meistdiskutierten Prognoseinstrumente an hiesigen Tätergruppen, die Untersuchung der erzielbaren Anwendungsobjektivität und Vorhersagegüte einer dezidierten klinisch-idiographischen Prognosemethodik sowie - vor allem - die Entwicklung einer universell anwendbaren, wissenschaftlich fundierten und den hiesigen rechtlichen Anforderungen genügenden Methodik zur Beurteilung der Rückfallprognose von Straftätern, die die unterschiedlichen methodischen Ansätze einbezieht und integriert. Ihr Kernstück ist eine unausgelesene Stichprobe von ursprünglich rund 400 männlichen er- VI
6 wachseneu Tätern, die im Jahr 1976 in die verschiedenen Anstalten des Berliner Strafvollzuges gelangt waren, zu diesem Zeitpunkt erstmals ausfuhrlieh untersucht wurden und deren weiterer Werdegang seither in verschiedenen Schritten nachvollzogen wurde. Zu den Forschungsarbeiten haben eine Reihe von Institutionen und Personen beigetragen, denen an dieser Stelle gedankt werden soll. Hierzu zählt zunächst die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die das Vorhaben seit dem Herbst 2000 mit mehreren Sachmittelbeihilfen unterstützt und hierdurch die Arbeiten am Projekt überhaupt erst möglich gemacht hat. Ferner hat die Gustav-Radbruch-Stiftung mit einer finanziellen Unterstützung wesentlich zur Nachuntersuchung der Probanden beigetragen. Schließlich ist die Behörde des Berliner Beauftragten flir Datenschutz und Informationsfreiheit zu nennen, die mit ihrer Expertise das Projekt in ihren datenschutzrechtlichen Belangen beratend begleitet und hierdurch zahlreiche Erhebungsschritte ermöglicht hat. An konkreten Personen ist zunächst der ehemalige Direktor am Institut flir Forensische Psychiatrie, Prof. Dr. Wilfried Rasch ('ll' ), zu nennen. Er hat mich nicht nur seinerzeit an die praktische Prognosebegutachtung herangefuhrt. Er war es auch, der 1976 die zugrunde liegende Basisstudie initiierte und mir die Daten aus dem damaligen Projekt für die weitere Beforschung der Probanden überlassen hat. Zu nennen ist weiterhin Prof. Dr. Max Steiler, Professor flir Rechtspsychologie am Institut fur Forensische Psychiatrie. Ihm verdanke ich nicht nur meine Tätigkeit am Institut fiir Forensische Psychiatrie. Mit seinem- damals eher unerwarteten - Auftrag, flir ein rechtspsychologisches Lehrbuch einen Beitrag über Standards und Methoden der Prognosebegutachtung beizusteuern, hat er mein Interesse geweckt und mich dazu gebracht, mich dem Thema auch aus einer wissenschaftlichen Perspektive zu nähern. Besonderer Dank gebührt schließlich den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des CRIME-Projekts sowie zahlreichen Diplomandinnen und Diplomanden, ohne deren Engagement die Umsetzung des Vorhabens nicht möglich gewesen wäre. Besonders hervorzuheben sind dabei die beiden DFG-Mitarbeiterinnen Frau Dipl. Psych. Dr. Katja Erdmann und Frau Dipl.-Psych. VeraSchneider sowie die ehemalige studentische Hilfskraft des Projekts, Frau Dipl.-Psych. Franziska Ziethen, die mit Kompetenz und Tatkraft ganz wesentlich zum Erfolg des Projekts beigetragen haben. Klaus-PeterDahle VII
7 Inhalt 1 GRUNDLAGEN DER KRIMINALPROGNOSE...! 1.1 KRIMINALPROGNOSE UND STRAFRECHT: RECHTLICHE GRUNDLAGEN Zukunftsbezüge im Strafrecht Kriminalprognosen durch Sachverständige Fachliche Qualifikation des Prognosesachverständigen Rechtliche Anforderungen an Inhalt und Methodikvon Prognosegutachten THEORETISCHE GRUNDLAGEN VON KRIMINALPROGNOSEN Wissenschaftstheoretische Aspekte Verhaltenstheoretische Aspekte Kriminaltheoretische Aspekte Entscheidungstheoretische Aspekte EMPIRISCHE GRUNDLAGEN VON KRIMINALPROGNOSEN Basisraten und empirische Rüclifallquoten Tat-, Täter- und Situationsmerkmale und Rüclifälligkeit Lebensalter und Rüclifälligkeit Behandlungseffekte METHODISCHE GRUNDLAGEN VON KRIMINALPROGNOSEN Grundlegende methodische Strategien: Begriffsdefinitionen Prognose durch Klassifikation: Statistisch-nomothetische Kriminalprognose Prognose durch individuelle Erklärung: Klinisch-idiographische Kriminalprognose Methodische Hilfsmittel mit Brückenfunktion: Prognosechecklisten METHODEN DER KRIMINALPROGNOSE STATISTISCH-NOMOTHETISCHE ("AKTUARISCHE") PROGNOSEINSTRUMENTE Klassische statistische Prognoseinstrumente Instrumente zum "Risk-Needs-Assessment" Spezielle Prognoseinstrumente PROGNOSTISCHE KRITERIENKATALOGE UND CHECKLISTEN KLINISCH-IDIOGRAPHISCHE PROGNOSEMETHODEN Spezielle klinisch-idiographische Methoden Universelle klinisch-idiographische Methoden ZUR SITUATION IN DEUTSCHLAND IX
8 4 CHRONISCHE RÜCKFALLDELINQUENZ IM INDIVIDUELLEN MENSCHLICHEN ENTWICKLUNGSVERLAUF: DIE BERLINER CRIME-STUDIE ZIELSTELLUNG ANLAGE DES UNTERSUCHUNGSPROJEKTS Untersuchungsdesign Datenquellen und -erhebung Stichprobe METHODEN Methodik der Prognoseerstellung Rücifallkriterien Auswertungsmethoden (Übersicht) METHODENKRITISCHE ANMERKUNGEN ERGEBNISSE Rücifallraten Zusammenhänge ausgewählter Einzelmerkmale mit Rüclifälligkeit Ausprägungen und Verteilungscharakteristika der Prognosebeurteilungen Beurteilerübereinstimmung Übereinstimmung zwischen den Prognosemethoden Vorhersagegüte der aktuarischen Prognoseinstrumente Vorhersagegüte der klinisch-idiographischen Prognoseeinschätzungen Leistungsvergleich aktuarischer und klinisch-idiographischer Prognosen Differentielle Vorhersageleistungen bei relevanten Subgruppen Fehlprognosen und Grenzen der Vorhersagbarkeit Integrative nomothetische Prognose ERGÄNZENDE AUSWERTUNGEN UND ERHEBUNGEN Der Violence RiskAppraisal Guide (VRAG) Algorithmen zur Einschätzung der Rücifallwahrscheinlichkeit Täter mit gravierenden Gewalttaten Sexualstrafläter X
9 5 FAZIT BEWERTUNGDERBEFUNDEDERCRIME-STUDIE Stärken und Grenzen nomothetischer Prognosen Stärken und Grenzen idiographischer Prognosen EINE INTEGRA TIVE METHODIK ZUR PROGNOSTISCHEN URTEILSBILDUNG FORSCHUNGSDESIDERATE WEGE ZUR VERBESSERUNG DER PROGNOSTISCHEN BEGUTACHTUNGSPRAXIS LITERATURVERZEICHNIS XI
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