Pädagogik und Poetik der Befreiung

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1 Tim Zumhof Pädagogik und Poetik der Befreiung Der Zusammenhang von Paulo Freires Befreiungspädagogik und Augusto Boals Theater der Unterdrückten

2 Ethik im Unterricht herausgegeben von Ursula Reitemeyer Band 11 Waxmann 2012 Münster / New York / München / Berlin

3 Tim Zumhof Pädagogik und Poetik der Befreiung Der Zusammenhang von Paulo Freires Befreiungspädagogik und Augusto Boals Theater der Unterdrückten Waxmann 2012 Münster / New York / München / Berlin

4 Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Ethik im Unterricht, Band 11 ISSN ISBN Waxmann Verlag GmbH, Münster Umschlaggestaltung: Pleßmann Kommunikationsdesign, Ascheberg Druck: Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier, säurefrei gemäß ISO 9706 Printed in Germany Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, verboten. Kein Teil dieses Werkes darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

5 Für meinen Vater, der 68 auf der anderen Seite stand.

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7 Inhalt Vorwort der Herausgeberin Brasilianische Befreiungsbewegung Pädagogik und Poetik der Unterdrückten Die Pädagogik der Unterdrückten Unterdrückung und Befreiung Dialogische und antidialogische Erziehung Pädagogische Krisensemantik und die Krise der Kritik Das Theater der Unterdrückten Pädagogisierung und Politisierung des Theaters Alphabetisierung des Körpers Kritik der pädagogischen Poetik Anerkennungstheoretische Aktualisierungen der Befreiungspädagogik Anerkennung und Standardisierung Marginalien der Didaktik und die Didaktik des Marginalen Reflexive und subversive Emanzipation Literatur

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9 Vorwort der Herausgeberin Unter dem Titel Pädagogik und Poetik der Befreiung untersucht Tim Zumhof den Einfluss Paulo Freires auf Augusto Boals Theater der Unterdrückten und lotet damit zugleich Möglichkeiten einer emanzipatorisch ästhetischen Erziehung im Bereich des bildenden Unterrichts aus. Zwar gibt es zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten über ästhetische Erziehung im Zusammenhang mit moralischer Bewusstseins- und politischer Willensbildung ein Zusammenhang, der seit Schillers Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen zum Bestandteil der pädagogischen Theoriebildung gehört doch kann wohl mit Fug und Recht behauptet werden, dass weder Paulo Freire noch Augusto Bal in den letzten drei Jahrzehnten eine Rolle im Diskurs über ästhetische Erziehung gespielt haben. Dies hängt einerseits mit der Unpopularität des sowohl politischen als auch moralischen Emanzipationsanspruchs zusammen, der aus der Perspektive des machtkritischen Pluralismusaxioms als totalitärer Rest einer längst vergangenen Aufklärungsepoche erscheint, andererseits aber auch mit dem methodischen Zugriff der Befreiungspädagogik. Denn trotz aller pädagogischer Hinwendung zum ganzen Menschen und mit Blick auf die unterdrückten Klassen dessen leidvoller, höchst entfremdeter Existenzweise, arbeitet die Befreiungspädagogik nicht phänomenologisch dekonstruktiv, sondern steht auf dem Boden einer dialektischen Gesellschafts- und Bildungstheorie, in deren Zentrum das Vermittlungsverhältnis von Vernunft und Natur, Individuum und Gesellschaft sowie Wissenschaft und Geschichte steht. Darüber hinaus sind die Quellen, aus der die Befreiungspädagogik schöpft, im gegenwärtigen pädagogischen Diskurs auch nicht gerade in Mode. Weder bedarf es der Philosophie der Leiblichkeit eines Ludwig Feuerbach, um den Menschen als ein sich selbst steuerndes biologisches System zu verstehen, noch der Dialogphilosophie eines Martin Buber, um eine Theorie von Sozialisation und Unterricht zu entwickeln, die in der Selbstvermittlung des je eigenen Erfahrungswissens die höchste Stufe des Lernens und damit der Erkenntnis sieht. Auch die für Freires Emanzipationsprozess so entscheidende Anlehnung an die Marxsche Kritik der bürgerlichen Gesellschaft und Ökonomie trägt seit dem Scheitern des Kommunismus in Europa nicht dazu bei, in der Befreiungspädagogik theoretische Ansätze und pädagogische Handlungsprinzipien zu vermuten, die Antworten auf die besonderen Herausforderungen der sogenannten (post-) modernen Wissensgesellschaft bereithalten. Im Unterschied zu den geläufigen Vorbehalten gegenüber einer im weitesten Sinn politischen Pädagogik rekonstruiert Zumhof unvoreingenommen und kritisch das Verhältnis von Freire und Boal durch die Gegenüberstellung von Freires Pädagogik der Unterdrückten und Augusto Boals Theater der Unterdrückten. Kritische Rekonstruktion meint in diesem Zusammenhang, dass Zumhof sich nicht damit begnügt, die historisch systematische Verbindung zwischen Freire und Boal

10 10 Vorwort der Herausgeberin durch die Analyse ihrer gemeinsamen theoretischen Wurzeln (marxistische Gesellschaftstheorie, Dialog- und Sprachphilosophie) herauszuarbeiten. Vielmehr reflektiert diese Studie den indirekt affirmativen Charakter jeglicher emanzipatorischer Pädagogik, den sie trotz aller Verweise aufs Negative und Spekulative wohl nie ganz abstreifen kann. Daraus erklärt sich auch, warum Zumhof die Befreiungspädagogik Freires leibphilosophisch erweitert und theaterpädagogisch ergänzt. Ganz richtig wird nämlich die Differenz zwischen Freire und Boal in Rekurs auf Feuerbachs Hegelkritik als Paradigmenwechsel von einer Pädagogik der emanzipatorischen Bewusstseinsbildung zu einer Pädagogik des emanzipierten Leibes erklärt, wodurch, so die Hoffnung des Autors, die affirmative, letztlich ideologische Tendenz der Befreiungspädagogik unwirksam gemacht werden könnte. Insofern in das Emanzipationsprojekt aus der Sicht Freires der Unterdrücker einbezogen ist, denn auch die herrschende Klasse muss von Vorurteilen und einem letztlich inhumanen Pragmatismus befreit werden, zählt das gegen die Befreiungspädagogik häufig vorgebrachte Argument einer einseitigen Klassenkampfideologie nicht, weshalb Freire und Boal auf diesem Feld auch nicht verteidigt werden müssen. Die Gefahr der Pädagogik der Unterdrückten, in eine affirmative Pädagogik umzuschlagen, liegt eher, wie Zumhof mit Verweis auf die Theologie der Befreiung feststellt, in ihrem utopischen Gehalt, der daher vielleicht unter Zuhilfenahme der Methode der Negativen Dialektik noch einmal gewendet werden müsste. Allerdings, so muss an dieser Stelle geltend gemacht werden, kann das Bildungsprojekt, das zugleich immer ein Emanzipationsprojekt ist oder es handelt sich nicht um Bildung auf utopische Implikationen nicht verzichten, auch und gerade nicht vom Standpunkt der Kritischen Theorie. Wohl darf die Utopie nicht trivialisiert werden, weder durch pädagogischen Aktionismus, noch durch die Pädagogisierung ästhetischer Erfahrungen, doch das utopische Moment ist dem pädagogischen Handeln durch seine Verknüpfung mit der gesellschaftlichen Praxis, die es zu humanisieren gilt, notwendig eingeschrieben. Interessant ist der von Zumhof herausgearbeitete Umschlag von Boals pädagogischem Theater in eine Theaterpädagogik, der auch als Umschlag einer bloß spekulativen Bildungstheorie (Bewusstseinsphilosophie) in eine Pädagogik der Leiblichkeit interpretiert werden kann. In diesem Zusammenhang werden Perspektiven einer nicht-affirmativen ästhetischen Theorie von Bildung und Erziehung im Anschluss an Benner und Mollenhauer skizziert, die allerdings ergänzt werden durch ein von Feuerbach und Buber ins Spiel gebrachtes Prinzip leiblicher (und sprachlicher) Unmittelbarkeit. Hier betritt die Studie insofern Neuland, als die konstitutive Bedeutung der unmittelbaren Begegnung zwischen Erzieher und Zögling, zwischen Lehrer und Schüler, für das erzieherische und unterrichtliche Vermittlungsverhältnis vielleicht zum ersten Mal zur Geltung gebracht wird. Dadurch wird möglich, das pädagogische Verhältnis ethisch zu dimensionieren und zwar vor aller pädagogischer Einwirkung und jenseits eines (außerpädagogischen) Verwer-

11 Vorwort der Herausgeberin 11 tungsinteresses. Denn in der Möglichkeit der unmittelbaren und auf keinen bestimmten Zweck ausgerichteten Begegnung zwischen Erzieher und Zögling liegt die Wurzel einer moralischen, auf die grundsätzliche Anerkennung des Anderen ausgerichteten Haltung, auf die doch aller Unterricht zielt, jedenfalls dann, wenn er sich als bildender Unterricht versteht. Entsprechend favorisiert Zumhof eine anerkennungsorientierte Didaktik, die insofern an die Befreiungspädagogik anschließt, als die Würde des Lernenden im Mittelpunkt steht, die von dessen sinnlich leiblicher Existenz gerade nicht abgezogen werden kann, sondern mit Feuerbach und auch Marx gesprochen sich in menschwürdigen Lebens- und Arbeitsformen realisiert. Daher reicht es im Argumentationsgang der Befreiungspädagogik nicht aus, das abhängige und entfremdete Bewusstsein als individuelles Selbstbewusstsein zurückzugewinnen und im politischen Klassenbewusstsein aufzuheben. Vielmehr richtet sich eine anerkennungsorientierte Didaktik in Form einer pädagogischen Grundhaltung und Methodik auf die Befreiung bzw. Humanisierung des ganzen Menschen und damit auch auf die Befreiung seiner Sinne und seines Leibes. In Zeiten prekärer Lebens- und Arbeitsverhältnisse auch in den modernen, postindustriellen Wissensgesellschaften könnte es geschehen, dass einigen Grundprinzipien und didaktischen Methoden der Befreiungspädagogik eine Renaissance winkt, weil anders das von den Soziologen so bezeichnete Phänomen vererbter Bildungsbenachteiligung bestimmter gesellschaftlicher Schichten im Unterricht und durch Unterricht nicht aufgehoben werden kann. Es könnte sogar geschehen, dass wir angesichts stetig zunehmender Ausdifferenzierungen gesellschaftlicher Milieus zu Alphabetisierungsmethoden eines Paulo Freire zurückgreifen müssen, um wenigstens eine (moralische und politische) Grundalphabetisierung für alle sicherstellen zu können. Nicht zuletzt darum ist das letzte Wort über die Brauchbarkeit der Befreiungspädagogik im Sinne Freires noch nicht gesprochen. Abschließend ist zu sagen, dass innerhalb der Reihe Ethik im Unterricht mit diesem elften Band zum ersten Mal das Forschungsfeld der ästhetischen Erziehung berührt wird. Angesichts der dünnen Forschungslage auf dem Gebiet der Theaterpädagogik werden sich auch all jene für diese Studie interessieren, die z. B. im schulischen oder sozialpädagogischen Bereich theaterpädagogisch tätig sind. Ursula Reitemeyer Münster, im September 2011

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