Aufbau von Identität, Abbau von Wänden. Überlegungen zu Gegen die Wand. von Agnes Hornung

Transkript

1 Aufbau von Identität, Abbau von Wänden Überlegungen zu Gegen die Wand von Agnes Hornung Zu Beginn des Films knallt Cahit buchstäblich in eine Wand, was von seinem Arzt als Selbstmordversuch ausgelegt wird. Aber als er darauf angesprochen wird, sagt Cahit, er habe sich nicht umbringen wollen. Seine Antwort deutet auf eine metaphorische Wand hin, bestehend aus Vorurteilen. Zwischen Cahits Kollision mit der Wand und Sibels Konfrontation mit den Männern in Istanbul können Parallelen gezogen werden: Sibel kracht mit einschränkenden Sitten und Traditionen zusammen, die genauso tödlich sein können wie eine reelle Wand. Die zwei Protagonisten, Sibel und Cahit, ringen darum, herauszufinden, wo sie hingehören. Sie stehen zwischen der deutschen und der türkischen Kultur, sie fühlen sich weder der einen noch der anderen vollkommen zugehörig. Cahit kann seinen Platz nicht finden, seit seine Frau gestorben ist. Er trinkt und versucht unaufhörlich, sich selbst zu zerstören. Er spricht kaum Türkisch und lebt nicht mehr im Einklang mit der Tradition, obwohl er in der Türkei geboren ist. Sibel hingegen ist in einer Familie aufgewachsen, die sich an türkische Traditionen hält. Sie will sich freimachen von Sitten, die nicht wirklich ihre eignen sind und für Frauen nur Einschränkung bedeuten. Interessanterweise ergibt sich aus der Beziehung zwischen Cahit und Sibel auch eine Verschränkung der beiden Kulturen. Durch ihre Beziehung tauschen Sibel und Cahit für kurze Zeit die Rollen: Sie nimmt freudig die deutsche Kultur (und mit ihr die deutschen Männer), während er anfängt, einen Geschmack für den traditionellen türkischen Haushalt und seine gute Küche zu entwickeln. Sibel schafft es, aus der

2 türkischen Tradition auszusteigen, während Cahit allmählich einsteigt und ein Gefühl von Zuhause-sein empfindet. Die zwei wichtigsten Nebenrollen, Cahits Freund und Sibels Cousine Selma, spielen nicht nur wichtige Rollen in der Gesamtdramaturgie des Filmes, sie scheinen auch in Fragen der Identität einen Gegensatz darzustellen. Cahits Freund wohnt in Deutschland, spricht aber kein Deutsch: Er kann nicht als vollkommen in die deutsche Gesellschaft integriert angesehen werden. Sibels Cousine hingegen lebt in der Türkei. Sie arbeitet hart an ihrer Karriere und lebt allein. Durch diese zwei Nebenrollen zeigt der Regisseur Fatih Akin, dass man auf ganz verschiedene Arten von den normativen Erwartungen einer Kultur abweichen kann. Er stattet seine Hauptrollen mit dynamischen und flexiblen Identitäten aus und vermeidet so die Schaffung von oberflächlichen Kategorien und weiterer Stereotypen. Cahit und Sibel haben wechselhafte Einstellungen zu ihrer türkischen Herkunft: Cahit, als er in einer Bar verprügelt wird Scheißtürken, obwohl er sich gerade mit der türkischen Tradition anfreundet; Sibel erklärt, als sie zu viel Aufmerksamkeit von einem Verehrer bekommt, sie sei eine türkische Frau und droht mit ihrem Ehemann, obwohl sie sich mit der westlichen Lebensauffassung vertraut macht. Die Musik in Gegen die Wand unterstreicht Sibels und Cahits ungefestigte Identitäten. Als Sibel verzweifelt, weil Cahit verhaftet wird, und findet Trost in einem türkischen Lied, das Cahits Freund für sie singt, obwohl sie mit Cahit normalerweise hauptsächlich Jazz und Rockmusik hört. Eine traditionelle türkische Musikgruppe wird von Akin genutzt, um die einzelnen dramaturgischen Segmente voneinander zu trennen und einen Bezugspunkt für die gesamte Geschichte zu schaffen. Bis auf diesen Refrain hört man nur türkische Hintergrundmusik, während Sibel mit der unsichtbaren Wand der Tradition kämpft und in Istanbul zusammengeschlagen wird.

3 Diese Szene kann als Gegenstück zu der Anfangsszene verstanden werden, in der Cahit gegen eine Wand fährt, während er Depeche Mode hört. Cahit und Sibel bleiben stets in der Lage, die unmenschlichen Seiten ihrer Kulturen zu hinterfragen. Sibels Bruder hat ihr die Nase gebrochen, als sie einmal mit jemandem Händchen gehalten hatte. Cahit, ein türkischer Mann und gleichzeitig ein Außenseiter, weigert sich, einen Puff zu besuchen, und fragt sogar, warum die anderen Männer nicht mit ihren eigenen Frauen schlafen. Obwohl diese Frage von ihm ohne Hintergedanken gestellt wurde, verstehen die anderen es als eine Beleidigung. Als Sibels Familie sie enterbt, behauptet ihr Bruder, dass es getan werden musste, um die Familienehre zu retten. Cahit fragt skeptisch, ob das denn gelungen sei. Gegen die Wand dekonstruiert Klischeevorstellungen eher auf spielerische als auf angestrengte Weise. Im Gespräch mit dem Arzt in der Klink wird Cahit nach der Herkunft seines Namens gefragt. Der Arzt ist überrascht, dass Cahit nicht die Bedeutung seines Namen kennt und auch nicht an ihr interessiert ist, denn alle Türken hätten schöne und bedeutungsvolle Namen. Obwohl diese Bemerkung positiv ist, kann man leicht erkennen, dass damit die westliche Tendenz, den Orient als exotisch zu deuten, hinterfragt wird. Im gleichen Zug werden jedoch die Erwartungen des westlichen Zuschauers erfüllt, als Sibel im Land der Schlangenbeschwörer und Bauchtänzerinnen Opium ausprobiert. In dieser Szene hören wir orientalische Musik und es herrscht eine geheimnisvolle Atmosphäre, die sich jedoch völlig auflöst in dem Augenblick, in dem die betrunkene Sibel vergewaltigt wird. Ein weiteres Klischee wird angefochten: Cahit unterhält sich in Istanbul mit seinem Taxifahrer; es stellt sich schnell heraus, dass beide aus Deutschland

4 kommen, was die Vorstellung, Deutsch-Türken könnten nur in Deutschland leben, untergräbt. Aber hier treffen zwei Männer türkischer Herkunft aus Deutschland in Istanbul aufeinander. Außerdem ist der Taxifahrer aus München, was möglicherweise darauf abzielt, bayerische Stereotypen in Frage zu stellen. Die Infragestellung von Stereotypen betrifft sowohl Vorurteile gegenüber Türken, als auch die gegenüber und zwischen Deutschen. Gegen die Wand hinterfragt nicht nur ethnische Klischees, sondern fechtet auch typische Gender-Vorstellungen an. Der Film spielt mit der traditionellen Mann- Frau-Aufteilung der Rollen und dekonstruiert gleichzeitig das Genre des Liebesfilms. Indem er mit den Selbstmordversuchen der Protagonisten beginnt, kehrt der Film die Chronologie der typischen Liebesgeschichte um. Laut dem bekannten Schema müsste die Geschichte mit der Hochzeit enden, in der Annahme, dass das Paar glücklich bis in den Tod zusammenbleibt. Im Gegensatz dazu folgt in Fatih Akins Film die Hochzeit auf den Todeswunsch, und sie basiert nur auf einer zufälligen Bekanntschaft, nicht auf Liebe. Erst nachdem sie geheiratet haben, verlieben sich die Protagonisten ineinander. Am Ende eröffnet die tragische Liebe zwischen Sibel und Cahit ihnen die Möglichkeit, nach ihrer Identität zu suchen was ein klassischer love story Charakter in jedem Fall zu Beginn der Geschichte tun würde. Die Vorstellung von Heirat wird in diesem Film ebenso dekonstruiert, hier ist ihre Basis nicht Liebe, sondern purer Überlebensdrang. Ironischerweise bedeutet Heirat für Sibel Emanzipation, Befreiung von der traditionellen Frauenrolle, die ihre Kultur ihr aufzwingt. Für Cahit bedeutet Heirat zunächst, jemanden zu haben, der für ihn saubermacht, doch später auch, um eine Gefährtin zu haben, die ihn beschützt. Die Filmelemente, die normalerweise genutzt werden, um eine Hochzeit darzustellen, werden ebenfalls auf den Kopf gestellt: Es ist Sibel, die Cahit bittet, sie zu heiraten.

5 Sie kauft die Ringe und bereitet die Hochzeit vor. Cahit ist nicht einmal sicher, wann er die Braut zu küssen hat. Die traditionelle Hochzeitsnacht verbringt Sibel nicht mit ihrem Ehemann, sondern mit einem Fremden. Als Mann und Frau führen Sibel und Cahit ein ungewöhnliches Leben: Sie gehen gemeinsam tanzen, aber treffen getrennt zuhause ein. Frauenbeziehungen werden von Fatih Akin sensibel dargestellt. In einer relativ abgeschlossenen und von Männern dominierten Gesellschaft kann die Beziehung zwischen Sibel und ihrer Mutter als eine besondere angesehen werden. In einer bestimmten Situation erwähnt Sibel, dass sie nur wegen ihrer Mutter nicht von zuhause weggelaufen ist. In der Gegenwart ihrer Mutter scheint sie entspannt, im Krankenhaus raucht sie gemeinsam mit ihr, nachdem die Männer gegangen sind. Obwohl Sibels Mutter sich den muslimischen Traditionen unterwirft, weiß sie, dass das eine Herausforderung sein kann. Sibels Cousine Selma ist das Gegenbeispiel: Sie lebt weit entfernt von ihrer Familie und hat aufgrund ihrer Karriere keine Zeit für Liebesdinge. Mutter und Cousine markieren diametral entgegen gesetzte Pole, Sibel steckt in der Mitte und findet ihre Rolle erst am Ende des Filmes. Ohne ihre multikulturellen Implikationen wäre die einfache Handlung nicht mehr als eine Liebesgeschichte ohne Happy End. Es ist natürlich kein Zufall, dass die Hauptcharaktere einen deutsch-türkischen Hintergrund haben. Und trotzdem zeigt der Film mehr als nur Türken, die mit ihrer Integration zu kämpfen haben. Gegen die Wand ist eine allgemein menschliche Geschichte, die nicht nur von Liebe handelt, sondern von der Suche nach den eigenen Wurzeln und der eigenen Identität. Indem er Gender- und ethnische Stereotypen dekonstruiert, zielt dieser Film darauf ab, die Wände zwischen Kulturen und Menschen abzureißen.

6 Bibliographie Alter, Ethan. Head-On. Filmjournal Agnes Hornung