»Hauptsache, er stirbt nicht«

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1 so. GESELLSCHAFT 72 Familien mit radikalen Jugendlichen berät die Berliner Beratungsstelle Hayat derzeit. Was können Eltern tun, wenn ihr Kind in den Dschihad nach Syrien fahren will? Ein Interview mit Leiterin Claudia Dantschke. VON ANN-KATHRIN SEIDEL (TEXT) UND AGNIESZKA KRUS (FOTOS)

2 v V v v v v v Frau Dantschke, Sie führen in Berlin die bekannteste Beratungsstelle für radikalen Islamismus. Sie haben Fälle aus dem gesamten Bundesgebiet. Welche Menschen rufen bei Ihnen an? In den allermeisten Fällen sind es die Eltern von Kindern, die sich radikalisiert haben. Aber es rufen inzwischen auch Großmütter an, denen es nicht um die Tochter oder den Sohn geht, sondern um die Enkelkinder. Inzwischen, und das ist ähnlich wie im Rechtsextremismus, haben wir nämlich auch salafistische Familien in Deutschland. Dann hören wir Sätze wie: Meine Kinder habe ich schon aufgegeben, aber ich möchte wenigstens meine Enkel retten. In diesen Fällen und davon haben wir mehrere versuchen wir, die Großmutter so aufzustellen, dass sie eine Alternative zu den Eltern wird. Das sind meist höchst belastende Situationen für die Großmütter, denn die Eltern haben die Kinder oft schon gegen sie aufgehetzt. Diese Frauen hören Sätze wie: Oma, warum bist du nicht Muslimin, dann dürfte ich dich lieben? Das geht ganz tief rein. Wie haben die Familien denn festgestellt, dass ihr Kind radikal geworden ist? Meistens geht es um kleine Konflikte: Das Kind will seine alten Freunde nicht mehr sehen. Es lehnt ab, zu Familienfeiern zu kommen, weil es dort Alkohol gibt. Es will nur noch halal (nach islamischem Recht ZUR PERSON Claudia Dantschke ist Arabistin und Journalistin, geboren in Leipzig. Seit mehr als 20 Jahren arbeitet sie zu den Themen Migration, Islam und Islamismus. Sie gilt als eine der profiliertesten Kennerinnen der Szene und der Antiradikalisierungsarbeit. Seit 2001 ist Dantschke für das Zentrum Demokratische Kultur in Berlin tätig, leitet die Arbeitsstelle Islamismus und Ultranationalismus wurde Claudia Dantschke mit dem Ingeborg-Drewitz-Preis der Bürgerrechtsorganisation Humanistische Union ausgezeichnet.

3 v v V v v v v erlaubt, Anm. er Red.) essen. Es hängt alle Bilder in der Wohnung ab, weil im Islam keine Bilder von Menschen gezeigt werden dürfen. Gerade Weihnachten und Ostern sind neuralgische Punkte, gegen die in der salafitischen Szene gehetzt wird. Sprich: Alles, was ein Familienleben ausmacht, wird gestört. Sprechen Sie auch mit dem Kind direkt? In den meisten Fällen nicht. Eltern haben nicht selten eine durch Sorgen oder Vorurteile verstellte Sicht auf die Realität. Wie stellen Sie fest, wie stark das Kind in der Salafistenszene drin ist? Wir lassen uns von den Eltern berichten, wie sich ihr Kind verhält: Welche Literatur liest es? Welche Prediger findet es gut? Zu welcher Moschee geht es? Besonders wichtig sind die Argumente, die es bringt: Handelt es sich nur um religiöse oder auch um politische Begründungen? 80 Prozent unserer Fälle sind bereits auf einem sehr starken ideologischen Weg, und wir haben auch einige, deren Kinder bereits nach Syrien ausgereist sind. Das heißt, Sie arbeiten vollständig durch die Eltern. Diese sind aber keine Salafismusexperten. Wie können sie trotzdem einen Zugang DAS IDOL VIELER ISLAMISTINNEN Keine Party, kein Alkohol, keine Frauengeschichten Prediger Pierre Vogel (l.) verkörpert einen Typ Mann, der vielen religiösen Frauen gefällt. dpa

4 v v v V v v v zu ihren Kindern bekommen? Sie müssen keine Experten sein. Wir wollen ja gerade weg von der religiösen oder politischen Diskussion, hin zu einer komplett persönlichen Ebene. Die zentralen Fragen sind: Wie kommen wir wieder zusammen? Es sind simpelste Kommunikationsmittel, die wir den Eltern mit auf den Weg geben beispielsweise, dass sie nicht bewerten, sondern Interesse zeigen. Manchen empfehlen wir, mit in die Moschee zu gehen und stellen die Kontakte für sie her. Das Ziel ist es, die Lebenswünsche des Kindes wieder in den Vordergrund zu bringen, ihm eine neue Perspektive zu geben. Das familiäre Umfeld ist Teil des Problems, aber auch Teil der Lösung. Aber was kann eine Familie denn noch machen, wenn ihr Kind kurz davor ist, nach Syrien auszureisen? Sie kann das Kind ja schlecht einsperren. Wir haben gerade den Fall eines solchen Mädchens in Westdeutschland. Sie ist in einer wirklich radikalen Moschee, die beispielsweise auch nicht akzeptieren will, dass die Kinder von Ungläubigen erzogen werden. Deswegen will das Mädchen Kindergärtnerin werden. Der Vater ist natürlich total dagegen, aber wir haben versucht ihm klarzumachen, dass er ihren Wunsch ernst nehmen soll, denn er könnte ihm Zeit verschaffen. AUFKLÄRUNG ERFORDERLICH Viele Eltern, die zu Claudia Dantschke in die Beratung kommen, haben keine Ahnung von der Strömung, der sich ihre Kinder angeschlossen haben.

5 v v v v V v v Was hat sich denn bei den Jugendlichen verändert seit dem Auftauchen des Islamischen Staats? Kurz gesagt: Die Fälle nehmen zu, sie werden jünger und weiblicher. Es existiert derzeit ein großer Sog nach Syrien nach dem Motto: Jetzt kann man zur ersten Generation gehören und Geschichte schreiben. Man gehört zu den besten, den erfolgreichsten, den stärksten. Was mir aber wichtig ist: Diese Jugendlichen gehen dort nicht primär hin, um Köpfe einzuschlagen. Es gibt eine kleine Minderheit von Gewalttätigen, die einfach Kuffar die Ungläubigen töten wollen. Das Gros allerdings hält die Gewaltvideos einfach für Feindpropaganda. Arbeiten Sie auch mit Eltern, deren Kinder bereits nach Syrien ausgereist sind? Was können die noch tun? Diese Eltern sind panisch. Sie gehen davon aus, dass ihr Kind übermorgen die Waffenausbildung hat und sich überübermorgen in die Luft sprengen wird. Den sehe ich nie wieder so kommen diese Eltern zu uns. Wir können ihnen dann sagen, dass sich die meisten Kinder erfahrungsgemäß nach einiger Zeit melden. Dann aber ist die Kommunikation extrem wichtig. Eine Möglichkeit ist, dem Kind Schuldgefühle zu machen mit Sätzen wie: Ich will dich noch einmal sehen, ich habe Angst um dich. Das klappt nicht immer, aber eventuell bei jenen Jugendlichen, die sich den Dschihad anders vorgestellt EINSTIEG ÜBER VERTEILAKTIONEN Die Bücherstände der Salafisten sind in den Innenstädten präsent. Sie sind oft erste Anlaufpunkte für Jugendliche, die sich für die Bewegung interessieren. dpa

6 v v v v v V v haben. Das schlimmste wäre, damit an die Medien zu gehen, wie im Fall der beiden Wiener Mädchen, der derzeit Thema in den Medien ist. Dadurch ist jeder Weg zurück verstellt. Für IS sind sie zu einem Symbol im Medienkampf geworden und die werden darum kämpfen, dass die Mädchen ja nicht zurückkommen. Haben Sie auch Familien von Rückkehrern in der Beratung? Wir haben nur sehr wenige Fälle, im unteren einstelligen Bereich, sodass wir keine Verallgemeinerungen machen können. Die meisten Familien bitten nicht um Hilfe, wenn ihre Kinder wieder da sind, weil sie einfach froh sind, sie wieder zu haben. Dabei ist gerade in diesen Fällen eine Betreuung extrem wichtig teils von seiten der Sicherheitsbehörden, teils aber auch durch Traumatherapeuten. Müssen Sie es den Sicherheitsbehörden melden, wenn Sie vermuten, dass eine Frau oder ein Mann zu einem Sicherheitsrisiko werden könnte? Wir haben nicht den Status eines Rechtsanwalts oder Seelsorgers. Wir sind meldungspflichtig und das teilen wir den Eltern natürlich mit. Wir versuchen, mit den Eltern gemeinsam den Schritt zu machen, wenn es darum geht, die Sicherheitsbehörden einzuschalten. Ich hatte noch keine Familie, die sich dagegen gewehrt hat. Je stärker SYMBOLE STEHLEN Der Name Hayat heißt Leben und ist von Claudia Dantschke gezielt gewählt worden, denn die Medienabteilung von IS trägt den gleichen Namen. Auch der grüne Vogel im Logo ist ein salafistisches Symbol, das die Berater neu besetzen wollen.

7 v v v v v v V Syrien relevant wird, desto eher sagen die Eltern: Und wenn mein Sohn in Deutschland im Knast landet, Hauptsache er stirbt nicht. Das hat sich in den letzten zwei Jahren durch IS radikal verändert. Wie hoch schätzen Sie die Terrorismusgefahr ein, die von den Rückkehrern ausgeht? Der IS verfolgt durch die Köpfung der westlichen Hilfsarbeiter die Strategie, den Westen in den Krieg mit hineinzuziehen, um die heftigen innerdschihadistischen Konflikte zu klären. Diese Strategie ist aufgegangen: Der Feind ist der Westen, sind die Ungläubigen, die gegen die Muslime kämpfen. Die Aufrufe der syrischen Dschihadisten, auch hierzulande Terroranschläge zu verüben, muss man ernst nehmen. Es geht um einen Wettlauf mit Al Qaida und anderen Terrorgruppen, nun im Ausland Signale zu setzen. Ich halte einen kleinen Anschlag, der aber große Symbolkraft besitzt, für wahrscheinlich. Daran müssen nicht unbedingt Rückkehrer beteiligt sein. IS hat seinen Aufruf im Propagandamagazin Dabiq in der vergangenen Woche breit gestreut. Ebenso könnten sich kleine dschihadistische Zellen oder das sympathisierende Umfeld angesprochen fühlen. N 20 FÄLLE SIND AKTUELL»SICHERHEITSRELEVANT Seit der Einrichtung der Beratungsstelle im Januar 2012 hat Hayat 101 Fälle beraten. 29 davon hat das Team um Claudia Dantschke bereits abgeschlossen. In elf Fällen wurde die Beratung positiv beendet. 18 Fälle waren entweder ganz leicht oder die Hilfesuchenden haben den Prozess abgebrochen. 20 Fälle sind aktuell sicherheitsrelevant. Das heißt, dass sie akut gefährdet sind, nach Syrien zu reisen, bereits ausgereist sind oder in der Gefahr schweben, in terroristische Aktivitäten verwickelt zu werden. Vier junge Menschen, deren Familien in der Beratung bei Hayat waren, sind in Syrien gestorben oder derzeit vermisst.