Gesundheitssystem und Gesundheitsökonomie
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- Nele Weiss
- vor 8 Jahren
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1 Gesundheitssystem und Gesundheitsökonomie Gesundheit Definition und Verständnis Definition: Unter Gesundheit verstehen wir einen Zustand des vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefinden und nicht das Freisein von Krankheit und Gebrechen. (WHO, 1948) Gesundheit und besonders auch Krankheit sind unzweifelhaft sowohl für das Individuum als auch für die gesamte Gesellschaft sehr bedeutungsvoll. Das Verständnis dieser beiden Begriffe verändert sich allerdings nicht nur innerhalb von Geschichte und zwischen Kulturen, sondern auch innerhalb einer Gesellschaft in Abhängigkeit der Situation und Stellung des Betrachters. Gesellschaftlich wurde der Frage nach Gesundheit und Krankheit mit der Industriegesellschaft an die Medizin weitergeleitet, eine Ansammlung verschiedener Institutionen und Theorien, die zunehmend komplexer wurde. Bei dieser Medikalisierung traten Krankheit und Gesundheit als individuelle Empfindungen in den Hintergrund. Gesundheit wurde zu einer Art Pflicht, Krankheit haftete die moralische Fragwürdigkeit der Nicht-Pflichterfüllung an. Heute ist zu beobachten, dass Gesundheit mit Angepasstheit an Aufgaben und Wettbewerb gleichgesetzt wird. Healthismus als Fixierung auf die persönliche Gesundheit (auch im Sinne rein sichtbarer Fitness) ist ein Mittel zum persönlichen Wohlbefinden geworden. Redet man über das Gesundheitssystem, so muss man allerdings sich vom vorher gesagten etwas lösen und sich auf die Behandlung von Krankheiten (beinahe) beschränken. Besonders der letzte Teil der WHO-Definition wird zum Schwerpunkt des Systems gemacht, wohl auch der reinen Praktikabilität wegen. Das Gesundheitssystem In Deutschland hat der Staat das Gesundheitssystem zum meritorischen Gut erklärt, d.h. es wird zum öffentlichen Gut, obwohl es auch rein privatwirtschaftlich geregelt werden könnte. Prinzipiell funktioniert das deutsche Gesundheitssystem relativ simpel. Jeder Arbeitnehmer ist zwangsweise in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) und zahlt an seine zu wählende Krankenkasse (KK) einen von ihr festgelegten Anteil seines Gehalts/Lohns. Von diesem so erworbenen Geld bezahlt die KK (bei manchen nur anteilig) die gesundheitlichen Leistungen, die ihre Versicherten (und ihre kostenlos mitversicherten Familienmitglieder) in Anspruch nehmen. Der Staat setzt die Preise für die einzelnen Leistungen fest bzw. auch die Art der Leistungen, reguliert also das ganze System. Es greift übrigens nicht die WHO- Definition, sondern 70 SGB V, der von medizinischen Erkenntnissen spricht. Das System ist also solidarisch angelegt, nicht die Häufigkeit oder Schwere von Krankheit entscheiden über den Beitrag zum System, sondern jeder trägt die für jeden gleich schwer zu tragenden Kosten des Systems. Allerdings sieht das System vor, dass Menschen mit hohem Gehalt sich nicht versichern müssen und damit sich der GKV entziehen. Diese Personen können sich privatwirtschaftlich für den Krankheitsfall versichern, wobei hierbei allerdings der Risikofaktor die zu zahlende Prämie bestimmt. Krankheitsverteilung Wenn nun also das staatliche Gesundheitssystem sich auf die Behandlung von Krankheiten konzentriert, ist es wichtig, zu analysieren, welche Formen von Krankheiten in einer Gesellschaft auftreten und wie sie verteilt sind. Die Gesellschaft wird immer älter, d.h. die Lebenserwartung steigt ungemein an. Man mag dies auf verbesserte Medizinstandards, auf bessere hygienische Bedingungen und verschärftes Gesundheitsbewusstsein zurückführen, allerdings bedeutet diese Marcus Gäßner Gesundheitssystem und Gesundheitsökonomie Seite 1 von 5
2 Strukturveränderung auch für das Gesundheitssystem das vermehrte Auftreten von chronischen Krankheiten, deren Behandlung große Kosten nach sich zieht. Insgesamt sind in Deutschland 66% aller zu einem Zeitpunkt kranken Menschen chronisch erkrankt. 75% aller als vermeidbaren Sterbefälle entfallen auf Unfälle in jüngeren Jahren, Karzinome, Herz-Kreislauf- und Atmungsorgane-Erkrankungen. Viel zitiert ist die hohe Zahl von Vorsorgeuntersuchungen im Bereich Herzkatheteruntersuchung: Obwohl diese Untersuchung doppelt so häufig wie im europäischen Ausland gemacht wird, sterben im Vergleich 25% mehr Menschen an einem Herzinfarkt. Auch die Zahl der durch schlechte Mammografien überflüssig vorgenommenen Brustoperationen zeugt von Verbesserungsbedarf im deutschen Medizinwesen. Damit ergibt sich die Notwendigkeit, medizinische Vorsorge und Forschung in diesen Gebieten zu betreiben bzw. zu verschärfen oder zu überdenken. Untersucht man nun, wer wie erkrankt, so stellt man fest, dass schwere oder chronische Erkrankungen vornehmlich bei finanziell weniger Gutsituierten auftreten, während in höheren Einkommensgruppen die Fälle von schwerer Erkrankung seltener vorkommen. Da aber häufig genug diese von der GKV befreit sind, ergibt sich, dass in der GKV die meisten Fälle von schweren und chronischen Erkrankungen auftreten, deren Behandlung entsprechend hohe Kosten verursacht. Auch im Alter lässt sich feststellen, dass eine entsprechend hohe gesellschaftliche Stellung meist eine weniger große Gefährdung, an schweren und chronischen Erkrankungen zu erkranken, nach sich zieht. Entsprechende Mittel ermöglichen auch eine gesunde Lebensweise, was sich in der Krankheitsbiographie wiederspiegelt. Man spricht vom sozialen Dilemma der Gesundheitspolitik. Die Menschen, die das höchste Risiko haben, kostenträchtige Erkrankungen zu bekommen, sind zumeist so gestellt, dass sie auf Grund ihres Einkommens, ihrer Bildung und ihres geringen Einflusses keine Möglichkeit haben, ihre Lebensumstände zu ihren Gunsten zu verändern. Schlagworte wie Stärkung der Eigenverantwortung greifen für diese Gruppe nicht. Folgen für die Gesundheitsökonomie und alle Beteiligten Die GKV steht vor einem grundlegenden Problem. Wie oben beschrieben sind die Teile der Bevölkerung, die auf Grund ihrer Gesundheit Nettozahler wären, auf Grund ihres Einkommens nicht Mitglied der GKV, d.h. der Teil der Mitglieder, für die die GKV draufzahlt ist entsprechend hoch. Hohe Rentnerzahlen und viele Mitversicherte bedeuten hohe Ausgaben bei geringen Einnahmen, hohe Arbeitslosenzahlen bedeuten den Wegfall von Einnahmequellen, aber den Erhalt von Kostenquellen. Daher verzeichnet die GKV zuletzt große Verluste. Damit einzelne KK nicht zu hohe Belastungen tragen müssen auf Grund ihrer Mitgliederstruktur, gibt es unter den KK einen Risikostrukturausgleich (RSA). Hierbei werden die KK finanziell gleichgerechnet. Die Kassen, die eine wirtschaftlich bessere Situation haben, stellen Gelder zur Verfügung, aus denen sich die Kassen, die große Ausgaben haben, bedienen können. So soll eine möglichst geringe Breite an verschiedenen Beitragssätzen gefördert werden, was aber nur bedingt funktioniert. Letztlich bemühen sich die Krankenkassen in ihrer Werbung um Mitglieder mit geringerem Risiko, krank zu werden und damit Kosten zu verursachen. Dabei steigen die Beiträge an, von Seiten des Staates wurde zu verschiedenen Punkten Kostendämmungspakete entwickelt, um die Kosten des Systems zu begrenzen. Das tief sitzende Problem dahinter ist die Struktur der Gesellschaft und die Situation am Arbeitsmarkt, beides führt zu Mindereinnahmen, die ausgeglichen oder an anderer Stelle wieder eingenommen werden müssen. Budgetierung in verschieden Bereichen des Gesundheitssystem zeigt, dass es eine deutliche Differenz zwischen Anspruch (möglichst technisch gute medizinische Versorgung für jeden) und der Finanzierungsmöglichkeit gibt. Das einzelne Individuum stellt sich besonders im Anblick der Diskussionen über die Medien die Frage, inwieweit das einzelne Schicksal nicht nur als Kostenfall vorkommt, der Mensch Marcus Gäßner Gesundheitssystem und Gesundheitsökonomie Seite 2 von 5
3 auf einen Posten degradiert, dessen Wirtschaftlichkeit der einzige Maßstab zur Erfolgsbewertung ist. Ausblick Das Solidaritätsprinzip zieht sich als roter Faden durch die Grundidee des Gesundheitssystem (Solidarität der Beiträge, RSA), doch die Ökonomie zeigt deutlich die Grenzen des Systems auf. Aktuelle Überlegungen des Gesundheitsministeriums sind, Kosten einzusparen, indem einzelne Teile der Gesundheitsindustrie zum Verzicht auf Entgelderhöhungen gezwungen werden sollen (Ärzte). Die Pharmaindustrie soll ihre Produkte gleich zu günstigeren Preise abgeben. Dass die Beiträge zur GKV mittelfristig wohl auf durchschnittlich 14,5% steigen werden, scheint trotzdem laut Experten unvermeidbar. Langfristig gibt es Schätzungen, die Beitragssätze zwischen 2 und 3 befürchten, wenn keine grundlegende Reform erfolgt. Rationalisierungspotentiale sind offensichtlich vorhanden, ihre Ausschöpfung oder überhaupt ihre Erarbeitung scheiterte bislang an bestehenden Strukturen und/oder an Eigentumsdenken einzelner Beteiligter. Hier ist ein Umdenken der Beteiligten hin zur Erhaltung der qualitativ hochwertigen gesundheitlichen Versorgung erfolgen. Eine klarere Definition der Ziele würde dabei hilfreich wirken. Langfristig stellt sich die Frage, ob und wie das Gesundheitssystem in der derzeitigen Form und Zielsetzung aufrecht zu erhalten ist. Andere Länder zeigen, dass ein privatwirtschaftliches Gesundheitssystem durchaus funktionieren kann. Diskussionspunkte Ist die WHO-Definition von Gesundheit durch ein nationales Gesundheitssystem (unabhängig von der Art) umsetzbar? Welche Maßnahmen sind möglich, um sowohl im Einzelfall als auch im gesamten System den Kostenfaktor chronische Krankheit zu beseitigen? Welche Vor- oder Nachteile hätte ein privatwirtschaftlich organisiertes Gesundheitssystem? Welche Möglichkeiten der Finanzierung unseres Gesundheitssystems sehen Sie? Wo sind Rationalisierungsmöglichkeiten im Gesundheitssystem aus ihrer persönlichen Erfahrung? Die soziale Ungleichheit bei der Verteilung von Vorsorgemöglichkeiten und Eintreffen schwerer Krankheiten zwischen Arm und Reich ist groß. Sehen Sie Möglichkeiten, durch politische Entscheidungen dieser Ungleichheit entgegenzuwirken? Quellen Schäfers/Zapf (Hrsg.), Handwörterbuch zur Gesellschaft Deutschlands, Leske & Budrich, Opladen, 1998 Feuerstein, Rationierung und Rhetorik im Gesundheitswesen, Public Health Forum 9 Heft 32 (2001), Urban & Fischer Verlag Fozouni/Güntert, Wodurch wird eine Prioritätensetzung im Gesundheitswesen bestimmt?, Public Health Forum 9 Heft 32 (2001), Urban & Fischer Verlag Kowalski/Müller/Schuster, Knapp bei Kasse, Focus 44 (2002) S. 208f., Focus Magazin Verlag GmbH Sauga, Gut gelaunt in den Ruin, Spiegel 45 (2002) S. 100ff., Spiegel Verlag Rudolf Augsstein GmbH & Co. KG Wolf-Doettinchem/Wedemeyer/Wache, Kurz vom Exitus, Stern 47 (2002) S. 88ff., Gruner & Jahr AG & CO. Wüllenweber/Vogel, Kein Cent darf übrig bleiben, Stern 47 (2002) S. 98ff., Gruner & Jahr Ag & CO. Marcus Gäßner Gesundheitssystem und Gesundheitsökonomie Seite 3 von 5
4 Anhang: Statistiken V er tei l ung der Ar t der Kr ankenver sicher ung i n Deutschl and Ar t der M itgli edschaf t i n der GKV 10 0 % 45% 88,5% 40,7% % 3 25% 30,8% % 5 20, % 8,5% 9,1% 5% Gesetzlich versichert Privat versichtert P f licht mit glieder R en t n er Fr eiw ilige M it glieder M it ver sicher t e Familien an gehö r ige Beitragssätze in BRD zur gesetzlichen Krankenkasse V er tei l ung der Lei stungen der GKV i m 1. Hal bj ahr , Ver walt un gskost en 5% ,5% Krankengeld 6% Z ahn er sat z, zahn ä r zt liche Kr an ken hausbehan dlun g ,4% Behan dlun g 8% 33% Jahr Son st ige Leist un gen ,2% ,4% Är zt liche Behan dlun g 16 % A r zn ei-, H eil- un d H ilf smit t el 22% , 0, 5, 10, 15, mittlerer Beitragssatz Überschüsse und Defizite der gesetzlichen Krankenkassen in Millionen Euro *1. Halbjahr Marcus Gäßner Gesundheitssystem und Gesundheitsökonomie Seite 4 von 5
5 Lebenserwartung von Frauen und Männern in der BRD bei Geburt Lebenserwartung in Jahren Jahr Männer Frauen Anteil der chronisch kranken Patienten in verschiedenen Altersgruppen über 65 Jahre 86% 14% 40 bis 65 Jahre 72% 28% 15 bis 40 Jahre 33% 67% Gesamte Bevölkerung 66% 34% 5 10 chronisch krank sonstig krank 14% 12% 1 8% 6% 4% 2% USA 76,5 Deutschland Vergleich der Gesundheitsausgaben mit der Lebenserwartung 77,5 Schweiz 79,5 Frankreich 78,4 Belgien 77,9 78 Niederlande 77,8 Italien 78,5 Japan 80,6 Spanien 78, , Jahre Anteil der Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt Lebenserwartung Marcus Gäßner Gesundheitssystem und Gesundheitsökonomie Seite 5 von 5
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