Basiswissen Kinder- und Jugendpsychiatrie und Entwicklungspsychopathologie Störungen des Sozialverhaltens
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- Claus Huber
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1 Basiswissen Kinder- und Jugendpsychiatrie und Entwicklungspsychopathologie Störungen des Sozialverhaltens 15. November 2018 Dr. Marc Allroggen
2 Definition Störungen des Sozialverhaltens Andauerndes (> 6 Monate) Muster dissozialen, aggressiven oder aufsässigen Verhaltens mit Verletzungen altersentsprechender sozialer Erwartungen Leitsymptome Deutliches Maß an Ungehorsam, Streiten oder Tyrannisieren Ungewöhnlich häufige oder schwere Wutausbrüche Grausamkeit gegenüber anderen Menschen oder Tieren Erhebliche Destruktivität gegenüber Eigentum Delinquentes Verhalten Schuleschwänzen, Weglaufen von zu Hause. Hohe Komorbidität mit emotionalen Störungen und ADHS Hohe Assoziation mit schlechter sozialer Integration und schulischen Leistungen
3 Diagnostische Kriterien der Störung des Sozialverhaltens (gemäß ICD-10) Teil 1 1. Für das Entwicklungsalter des Kindes ungewöhnlich häufige oder schwere Wutausbrüche 2. Häufiges Streiten mit Erwachsenen 3. Häufige aktive Ablehnung und Zurückweisung von Wünschen und Vorschriften Erwachsener 4. Häufiges, offensichtlich wohl überlegtes Ärgern anderer 5. Häufiges Verantwortlichmachen anderer für die eigenen Fehler 6. Häufige Empfindlichkeit oder Sichbelästigtfühlen durch andere 7. Häufiger Ärger oder Groll 8. Häufige Gehässigkeit oder Rachsucht 9. Häufiges Lügen [ ] 10. Häufiges Beginnen von körperlichen Auseinandersetzungen 11. Gebrauch von gefährlichen Waffen 12. Häufiges Draußenbleiben in der Dunkelheit, entgegen dem Verbot der Eltern (vor dem 13. Lebensjahr) 13. Körperliche Grausamkeit gegenüber anderen Menschen
4 Diagnostische Kriterien der Störung des Sozialverhaltens (gemäß ICD-10) Teil Tierquälerei 15. Absichtliche Destruktivität gegenüber dem Eigentum anderer 16. Absichtliches Feuerlegen 17. Stehlen 18. Häufiges Schuleschwänzen (beginnend vor dem 13. Lebensjahr) 19. Weglaufen von den Bezugspersonen 20. Kriminelle Handlungen mit direktem Angriff des Opfers 21. Zwingen einer anderen Person zu sexuellen Aktivitäten 22. Häufiges Tyrannisieren anderer 23. Einbruch Vorliegen von mindestens 3 Symptomen für die Diagnosestellung erforderlich
5 Häufigkeit Störungen des Sozialverhaltens - BELLA Studie (Ravens- Sieberer et al., 2007) Geschlecht Jungen: 7.9 % Mädchen: 7.2% Sozioökonomischer Status Niedriger Soziökonomischer Status: 11.3 % Mittlerer Sozioökonomischer Status: 7.1 % Hoher Sozioökonomischer Status: 5.7 % Altersgruppe 7 10 Jahre: 7.9 % Jahre: 7.5 % Jahre: 7.4 % International: Jungen 6 16 %, Mädchen 2 9 % (Murray & Farrington, 2010) Im Jugendstrafvollzug: ~50 % (für einen Überblick: Allroggen, 2018)
6 Klassifikation der Störung des Sozialverhaltens ICD-10 Hyperkinetische Störung Hyperkinetische SSV (F90.1) Störung des Sozialverhaltens (SSV) DSM-5 ADHS ADHS (vornehmlich hyperaktiver/impulsiver Typ) (314.01) Störung des Sozialverhaltens auf den familiären Rahmen beschränkt (F91.0)...bei fehlenden sozialen Bindungen (F91.1) Typ mit Beginn in der Kindheit (312.81) +/- bei vorhandenen sozialen Bindungen (F91.2) mit oppositionellem Trotzverhalten (F91.3) und der Emotionen (F92) Typ mit Beginn in der Adoleszenz (312.82) mit oppositionellem Trotzverhalten (313.81) reduzierte prosoziale Emotionalität Anpassungsstörung Intermittierende Explosible Störung (312.34) Anpassungsstörung Mit vorwiegender SSV (F43.24) Mit Störung des Sozialverhaltens (309.3)
7 Entwicklungsverlauf von Störungen des Sozialverhaltens (Fairchild et al. J Child Psychol Psychiatry 2013; 54(9): )
8 Entwicklungsverlauf Störungen des Sozialverhaltens (nach Loeber et al., 2000) Frühe Kindheit Adoleszenz Erwachsenenalter Angst Depression Substanzmißbrauch Opposition. Trotzverhalten Störung des Sozialverhaltens Antisoziale Persönlichkeitsstörung Hyperkinetische Störung
9 Entwicklungspsychopathologie von aggressivem Verhalten Hochexpressive Gewalt Relationales aggressives Verhalten Adoleszenz Verdecktes aggressives Verhalten Offen aggressives Verhalten Grundschulalter Sexuelle Gewalt Verbale Gewalt Oppositionelles Verhalten Kleinkindalter Körperliche Gewalt
10 Entstehungsbedingungen (mod. nach Blair. Nature Reviews Neuroscience 2013, 14: ) Perinatale Faktoren Amygdala Affektive Empathie Callous-unemotional traits Proaktive Aggression Genetische Faktoren Striatum und vmpfc Kognitive Verzerrung Reaktive Aggression (frühe) Traumata Amygdala Sensitivät neg. Stimuli Angst
11 Entwicklung aggressiven Verhaltens Reaktiv-impulsive Aggression (Ostrowsky, 2010) Momentane, spontane Aggression als Reaktion auf vermeintliche Bedrohung oder Provokation defensive Orientierung Genetische Prädisposition + frühe negative psychische Erfahrungen Hypersensibilität mit verstärkter Reaktion auf negative und bedrohliche emotionale Reize Affektiv-motorische Impulsivität mit später häufigem Bedauern der aggressiven Reaktion
12 Entwicklung aggressiven Verhaltens Proaktiv-instrumentelle Aggression (Fecteau et al., 2008; Ostrowsky, 2010) Vorausgeplante und zielstrebige Aggression zur Erfüllung von Bedürfnissen ohne Defizite in der Impulskontrolle offensive Orientierung Hohe genetische Komponente Defizite bei der Verarbeitung negativer emotionaler Informationen Empathiedefizite Störung des Sozialisationsprozesses Delinquentes und dissoziales Verhalten
13 Störung des Sozialverhaltens Callous-unemotional (CU-) Traits Mangel an Schuldgefühlen Empathiedefizite Emotionale Kälte Eher Proaktive Aggression Stabiles Bild von delinquentem und dissozialem Verhalten
14 Diagnostik 1) Exploration des Kindes/Jugendlichen und der Eltern - Entwicklung der Symptomatik - Erfassung Schutz- und Risikofaktoren - Biografische Anamnese, Familienanamnese - Umgang mit Problemverhalten - Vorherrschendes Muster aggressiven Verhaltens (Pro-/reaktiv) 2) Erfassung Komorbiditäten ADHS, emotionale Störungen, Suchterkrankungen 3) Indikationsgeleitete somatische Diagnostik 4) Indikationsgeleitete testpsychologische Diagnostik 5) Fremdanamnese (z. B. Schule)
15 Therapie - Grundvoraussetzungen Psychoedukation Motivational Interviewing Kosten-Nutzen-Abwägung Eltern Schule Justiz Motivation Umfeldbezogene Maßnahmen Elterntraining Therapie Psychotherapie (CBT)
16 Wirksame Interventionen auf Elternebene (Garland, 2008) Positive Verstärkung Effektives Begrenzen / Bestrafen Eltern-Kind-Beziehung stärken Problemlösen Fertigkeiten vermitteln Ärgermanagement Affektwahrnehmung Rückfallprophylaxe Vermittlung von Grenzsetzung/Bestrafung Psychoedukation Hausaufgaben Rollenspiele Verhaltensrückmeldung Zielvereinbarung und -überprüfung
17 Umfeldbezogene Maßnahmen (S3 Leitlinien SSV) Casemanagement (Suter & Bruns, 2009) Kombination Hometretament und stationäre Behandlung (Boege et al., 2015) Evidenzbasierte therapeutische Behandlung im institutionellen Kontext (De Swart et al., 2012) Komplexe Behandlungsprogramme Multidimensional Treatment Foster Care (MTFC) (Chamberlain & Smith, 2003); Multisystemic Therapy (MST) (Henggeler & Lee, 2003)
18 Patientenzentrierte Therapieempfehlungen (Eyberg et al., 2008; NICE guidelines; S3 Leitlinien SSV) Psychopharmakologische Behandlungsoptionen (Pappadopulos et al., 2011) bei impulsiver Aggression und emotionaler Dysregulation, wenn psychotherapeutische Maßnahmen nicht ausreichend gewesen sind -Stimulantien -Risperidon (ggf. Abilify) -Lithium -Valproat Kognitiv-behaviorale Therapieansätze (Smeets et al., 2015) Soziales und Problemlösetraining: Problemlösen Fertigkeiten vermitteln Ärgermanagement Affektwahrnehmung
19 Management und Prävention aggressiven Verhaltens Familie Unterstützung der elterlichen Erziehungskompetenz (klare und konsistente Regeln, positive Verstärkung, milde Konsequenzen, Kompromissbereitschaft) Fokus liegt auf prosozialen Verhaltensweisen (weg von Problemzentrierung) Individuum Emotionsregulation Impulsivität Soziale Kompetenz Bewältigungsmechanismen Gleichaltrigengruppe Förderung Kontakte zu nicht aggressiven Jugendlichen Schule Policy; Krisenstrategien, klare Regelungen, positives Classroom-Management, Klassenrat
20 Prävention aggressiven Verhaltens (Connor, 2006) Präventions- und frühe Interventionsprogramme sind effektiv, wenn Unterstützung von Kind, Familie und Lehrer/Erzieher erfolgt Gezielte Interventionen regelmäßig, hochfrequent erfolgen Die Intervention ausreichend lang ist (mind. 2 Jahre) Spezifische Interventionen zur Reduktion psychosozialer Risikofaktoren (gewalttätiges Familienklima, vernachlässigender oder misshandelnder Erziehungsstil) erfolgen Eine Verbesserung der Eltern-Kind-Interaktion erfolgt (Kommunikation, Problemlöse-Verhalten, Copingstrategien) Die Intervention möglichst früh erfolgt (Alter des Kindes 0-6 Jahre) Eine intensive Kollaboration zwischen Familie, Schule, Jugendamt, Jugendgerichtshilfe und KJP erfolgt
21 Zusammenfassung Störungen des Sozialverhaltens stellen eine heterogenes Störungsbild dar, das vor allem durch aggressives und dissoziales Verhalten gekennzeichnet ist. Bedeutsam scheint eine Unterscheidung in Patienten mit und ohne CU-traits, während die Unterscheidung zwischen spätem und frühem Beginn wahrscheinlich prognostisch weniger aussagekräftig ist. Es besteht eine hohe Komorbidität mit emotionalen Störungen. Psychotherapeutisch sind vor allem Verfahren wirksam, die einen systemischen Ansatz verfolgen und sowohl die Familie als auch das Umfeld mit einschließen. Bei schweren Verläufen kann zur Verbesserung der Impulskontrolle der Einsatz atypischer Neuroleptika sinnvoll sein.
22 Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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