Prof. Dr. Reinhard Singer Wintersemester 2009/2010 ( , 9/T1) Grundkurs im Bürgerlichen Recht. 9 Die Grenzen der Privatautonomie
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1 Prof. Dr. Reinhard Singer Wintersemester 2009/2010 ( , 9/T1) Grundkurs im Bürgerlichen Recht 9 Die Grenzen der Privatautonomie I. Formwidrige Rechtsgeschäfte gem. 125 ff BGB 1. Die wichtigsten Formvorschriften a) Grundsatz: Formfreiheit b) Für besonders wichtige und gefährliche Rechtsgeschäfte gibt es Formvorschriften. aa) Die strengste Form gilt für die Eheschließung ( 1311 BGB): Erforderlich sind persönliche und gleichzeitige Anwesenheit beider Verlobter vor dem mitwirkungsbereiten Standesbeamten und die beiderseitige Erklärung, die Ehe eingehen zu wollen. bb) Notarielle Beurkundung: Einzelheiten BeurKG (Niederschrift wird vorgelesen, genehmigt und eigenhändig unterschrieben, 13 I BeurkG); ferner 128 BGB. Hauptfälle: 311 b I, 518 I, 2276 (Erbvertrag) Zweck: Übereilung, Belehrung über rechtliche Tragweite durch den Notar, Beweissicherung cc) Schriftform ( 126): Satz 1 (Bürgschaft) - 780, 781 (Schuldversprechen, Schuldanerkenntnis) - 568, 623 (Kündigung Mietvertrag, Arbeitsvertrag) (Mietvertrag über ein Jahr); Zweck: Beweissicherung für den Inhalt des Mietvertrages (wichtig für Erwerber: 566 BGB) (Testament); qualifizierte Schriftform, da das Testament eigenhändig geschrieben und unterschrieben sein muss BGB (vereinbarte Schriftform) 2. Erfordernisse der Schriftform: a) Urkunde: Schriftliche Verkörperung, gleichgültig von wem b) Unterzeichnung: Unterschrift muss räumlich den Text abschließen (Abschluss- und Deckungsfunktion) Oberschrift auf (älteren) Überweisungsformularen genügt nicht (BGHZ 113, 48); Rechtsfolge: keine Beweiskraft ( 416, 440 II ZPO). 1
2 BGH: A erteilte Sparkasse S blanko Überweisungsaufträge; später stellte sich heraus, dass Angestellter ca Euro abredewidrig auf ein falsches Konto überwiesen hatte. Seine Behauptung, durch den Überweisungsauftrag sei der ursprüngliche Auftrag geändert worden, konnte nicht durch den vorgelegten Überweisungsauftrag bewiesen werden. BGH: Überweisungsformular trägt nur Oberschrift des A und hat daher als Urkunde keine Beweiskraft Unterschrift muss gesamten Vertragstext umfassen (auch Einigung). Vertragsschluss durch Briefwechsel wahrt Schriftform nicht; jeweilige Unterschriften decken nur das Angebot bzw. die Annahme (Brox/Walker, AT, Rn. 301) Aber Form gewahrt, wenn Parteien mehrere gleichlautende Urkunden herstellen und jede Partei die für die andere Partei bestimmte Urkunde unterzeichnet ( 126 II 2). BGH ZIP 2004, 2142: übersendet Vermieter dem künftigen Mieter einen unterschriebenen Mietvertrag und unterzeichnet Mieter dieses Exemplar ( Einverstanden M ), ist strenggenommen 126 Abs. 2 nicht gewahrt, weil Unterschrift des Vermieters nicht auch Einverständnis des Mieters deckt. Aber Laien sei nicht zu vermitteln, dass Mietvertrag nicht formgerecht, sind doch die Parteien mit dem Vertrag vollständig einverstanden. Vor allem ist Zweck des 566 erfüllt, über Inhalt langfristiger Mietverträge zu informieren. Briefwechsel genügt, wenn Parteien Schriftform vereinbaren (sog. gewillkürte Schriftform), 127 II 1 BGB. c) Eigenhändigkeit der Unterschrift aa) Namensunterschrift oder beglaubigtes Handzeichen Wildsautheorie : Lesbarkeit nicht erforderlich, aber ein die Identität des Unterzeichnenden ausreichend kennzeichnender Schriftzug - BGH NJW 2005, 3775: Strich und eine gewellte, weitgehend gleichförmige Linie genügen, ebenso: - BGH NJW 1997, 3380 f.: drei steil und gerade verlaufende Ab- und Aufstriche, identifiziert als großes K, das mit einem kürzeren flacher ansteigenden und leicht gekrümmten weiteren Aufstrich ausläuft - Gegenbeispiel: Paraphe aus drei Buchstaben, BGH NJW RR 2007, 351) Eigenhändigkeit verbietet nicht Vertretung; Vertreter kann formgerecht mit dem Namen des Vertretenen unterzeichnen, wenn er Vertretungsmacht hat. bb) Nicht gewahrt bei Telegramm oder Telefax. Aufgabe-Telegramm bzw. Aufgabe-Fax trägt zwar Unterschrift, geht aber dem Empfänger nicht zu ( 130 BGB). Zugegangen ist zwar ein Ankunftstelegramm bzw. Ankunftsfax, dieses trägt aber nicht die Unterschrift des Absenders (Brox/Walker Rn. 303). 2
3 cc) Prozessrecht: Telefax und Telegramm genügen Schriftform (z.b. für Klage 253 ZPO; Berufung 519 ZPO). arg.: Parteien sollen bei Wahrung von Fristen nicht vom technischen Fortschritt ausgeschlossen werden (Zöller/Greger, ZPO, 130 Rn 9). dd) Keine Übertragung der prozessrechtlichen Grundsätze zu Telegramm und Telefax auf das materielle Privatrecht (BGHZ 121, 224). Grund: Form soll Bürgen vor Übereilung schützen; im Prozessrecht geht es dagegen nur um sinnvolle, effektive Kommunikation. BGHZ 121, 224: Notar hatte eine Telekopie (Fax) der bei ihm im Original vorliegenden, vom Bürgen B unterzeichneten Bürgschaft an G gesandt, der darauf hin Jeans im Wert von DM lieferte, die nicht bezahlt wurden. G 433 II: S 765 Notar: Telekopie versandt B d) Textform ( 126 b): Es genügt Abgabe auch in einer anderen zur dauerhaften Wiedergabe in Schriftzeichen geeigneten Weise, z.b. per , CD Genügt nur bei bestimmten rechtsgeschäftsähnlichen Erklärungen wie z.b. Widerruf von Verbraucherverträgen ( 355 I 2 BGB) e) Elektronische Form ( 126a BGB): - ersetzt die Schriftform ( 126 III), wenn nichts Gegenteiliges bestimmt (z.b. bei Bürgschaft, 766 I 2) - Voraussetzung: qualifizierte Signatur nach dem Signaturgesetz (ausgestellt von einer qualifizierten Einrichtung, erstellt mit einer sicheren Signatureinheit, 2 Nr. 7, 10 SigG). 3
4 2. Die Heilung des Formmangels durch Erfüllung: Formmängel können durch Erfüllung der Verpflichtung geheilt werden; s. o. 311 b I 2 (s.o. Fall 30 Schwarzkauf ); 518 II; 766 Satz 2 BGB. Grund für die Heilung: Übereilungsschutz gewährleistet, da vor Erfüllung keine Bindung der Parteien 3. Die Einschränkung der Nichtigkeitsfolgen gem. 242 BGB (Formnichtigkeit und Treu und Glauben) Lösung Fall 62: Anspruch K - Z auf Auflassung des Grundstücks I. 611, 612, 311b I: Gratifikation enthielt Versprechen zur Grundstücksübertragung und hätte daher notariell beurkundet werden müssen II. Rechtsfolge: Versprechen gem. 125 S. 1 BGB nichtig III. Berufung auf Formmangel kann in besonders krassen Fällen gegen Treu und Glauben verstoßen: 1. Arglistige Täuschung über Erfüllungsbereitschaft (Problem: Vorsatz nicht nachweisbar). 2. Fahrlässige Erregung eines Irrtums über die Einhaltung der Form. Beispiel: Verkäufer eines Grundstücks erklärt (fahrlässig), dass nach Anzahlung von M verbleibender (Rest-) Kaufpreis in Höhe von der richtige Kaufpreis sei; er garantiere, dass dem Käufer nichts passieren werde (RGZ 107, 357; Singer, Das Verbot widersprüchlichen Verhaltens 127 f.). Richtig ist dagegen: vollständiger Kaufpreis ( ) hätte beurkundet werden müssen. RG: Berufung auf Formmangel treuwidrig! 3. Streitig sind die Fälle, in denen Erwerber zwar weiß, dass das Rechtsgeschäft formbedürftig ist, aber auf die Loyalität des Geschäftspartners vertraut, weil dieser auf seinen guten Ruf als Kaufmann ( königlicher Kaufmann ) oder sein Wort als Edelmann hinweist. RGZ 117, 121, 125 (Edelmannswort): = Lösung Fall 62: Reichsgericht: - vermisst Einwirkung von Z auf den Irrtum des K - Erklärung in feierlicher Form ersetzt nicht Beurkundung 4
5 BGHZ 48, 396, 399 f (königlicher Kaufmann): geschäftsführender Gesellschafter einer OHG hatte einem früheren Angestellten in privatschriftlicher Form die Übereignung eines Grundstücks versprochen Auf den Hinweis des früheren Angestellten, dass die Zuziehung eines Notars erforderlich sei, hat dieser mit einem gewissen Stolz darauf hingewiesen, dass der Vertrag ja seine Unterschrift trage. Als der Angestellte zu bedenken gegeben hat, dass jeder Mensch sterblich sei, hat der Gesellschafter erklärt, dass er den Vertrag ja auch mit dem Firmennamen unterschrieben habe und der Vertrag deshalb einem notariellen Vertrag gleichwertig sei. Funktionsvoraussetzungen privatautonomen Handelns nicht gewährleistet; nahezu unmöglich, gegenüber dem früheren Prinzipal auf der Einhaltung der Form zu bestehen. Ergebnis: Berufung auf Formmangel treuwidrig ( 242 BGB) 5
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