Wenn der Schmerz nicht mehr weggeht Rüdiger Scharnagel UniversitätsSchmerzCentrum Universitätsklinikum Carl Gustav Carus Dresden
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1 Wenn der Schmerz nicht mehr weggeht Rüdiger Scharnagel UniversitätsSchmerzCentrum Universitätsklinikum Carl Gustav Carus Dresden Seite 1
2 Brauchen wir Schmerz? Congenitale Schmerzinsensitivität Akuter Schmerz: Biologische Schutz- und Warnfunktion Seite 2
3 Cartesianische Spaltung Stufe I Akuter Schmerz Modell nach Rene` Descartes ( ) Seite 3
4 Rationales Schmerzverständnis Biomedizinisches Modell Präzise Beobachtung und Beschreibung als Grundlage einer sicheren Diagnostik und kausalen Therapie Nüchterne Beobachtung ohne emotionale Beteiligung Seite 4
5 Sehr eigenartig diese Angst, die mir der Schmerz gegenwärtig bereitet, zumindest dieser Schmerz jetzt. Er ist erträglich, und trotzdem kann ich ihn nicht ertragen. Alphonse Daudet Alphonse Daudet: Im Land der Schmerzen Seite 5
6 Nozizeptoren Nozizeptoren sind periphere, freie Nervenendigungen sensibler Neurone Man unterscheidet 2 Typen freier Nervenendigungen: Aδ Fasern C-Fasern Erregung der Nozizeptoren durch: Mechanische Reize Thermische Reize Zahlreiche chemische Mediatoren Seite 6
7 Baron et al, Neuropathic pain: diagnosis, pathophysiological mechanisms, and treatment, 2010, The Lancet Neurology 9 (8): 807 Seite 7
8 Endogene Schmerzmodulation µ-opioidrezeptor-system Schmerzhemmung in der aufsteigenden Bahn Modulation des Schmerzes auf supraspinaler Ebene Monoaminerges System: NA vermittelt die absteigende Hemmung 5-HT hemmt oder verstärkt Schmerzreize Seite 8
9 Modulation der Schmerzwahrnehmung Somborski, Bingel, Funktionelle Bildgebung in der Schmerzforschung, Schmerz 2010 Seite 9
10 Definition der IASP Schmerz ist ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, das mit aktueller und potentieller Gewebsschädigung verknüpft ist oder mit Begriffen einer solchen Schädigung beschrieben wird Seite 10
11 Krankheitsmodell Voraussetzung des Therapieerfolges? Schmerzmodell Total pain Körperlicher Schmerz Psychischer Schmerz Sozialer Schmerz Spiritueller Schmerz C. Saunders Seite 11
12 Schmerzprävalenz Alter mindert Schmerzwahrnehmung nicht Alter ist kein Analgetikum Aber: underreporting of pain weniger nachgefragt!!!, weniger berichtet Höhere Leidensfähigkeit im Alter vs Erhalt von Aktivität (Autonomie) und Partizipation (Sozialleben) Seite 12
13 Medikamentöse Schmerztherapie WHO-Stufenschema 3 Nichtopioide + Hochpotente Opioide + Adjuvantien 2 Nichtopioide + Niederpotente Opioide + Adjuvantien 1 Nichtopioide + Adjuvantien Koanalgetika Keine eigentlichen Analgetika Für andere Indikationen entwickelt Ausreichende Wirksamkeit meist nur in Kombination mit Analgetika nach WHO-Stufe 1-3 Analgetika: Indikation abhängig von Schmerzintensität Koanalgetika: Indikation überwiegend abhängig vom Schmerztyp Seite 13
14 WHO Stufe I NSAID: - gut wirksam bei Knochenschmerz - beste antiphlogistische Potenz - dosisabhängiges Risikoprofil (kardiovaskulär, gastrointestinal, nephrotoxisch) - Therapie so kurz wie möglich in der niedrigsten effektiven Dosis Dauertherapie? Coxibe: - gute analgetische Potenz - bei KI für NSAID`s Metamizol: - beste spamolytische Potenz - Mittel der ersten Wahl beim Abdominalschmerz - hoher Stellenwert in Tumorschmerztherapie Seite 14
15 Opioidanalgetika Opium: Opiate: Opioide: getrockneter Milchsaft der Schlafmohnkapsel (Papaver somniferum) natürliche Alkaloide des Opiums (Morphium) vollsynthetisch hergestellte Morphinderivate Seite 15
16 Kulturgeschichte Gewinnung des ersten Opiumalkaloids 1804 durch Friedrich Wilhelm Adam Sertürner Wahrscheinlich erste einheitliche Arznei mit reproduzierbarer Aufgrund der Wirkung als Morphium (schlafmachendes Prinzip) bezeichnet Morpheus: Gott des Traumes, Symbol: Kapsel des Schlafmohnes Sohn des Schlafgottes Hypnos Wirkung auf den Organismus Wesentlicher Fortschritt: Exaktere Dosierung der Einzelgaben möglich Pierre-Narcisse Guérin: Morpheus und Iris Seite 16
17 Seite 17
18 Anhedonie Euphorie Belohnung Analgesie Schmerz Toleranz Stress Distress Abhängigkeit Hyperalgesie Entzugssymptome Craving Ballantyne, Opioid Dependence vs Addiction: A Distinction Without a Difference? Arch Intern Med., 2012 Seite 18
19 Seite 19
20 LONTS - Kernaussagen Relevante Schmerzlinderung nur in Kombination mit unspezifischen Effekten (z. Bsp. Placebo) Vorrangig bei neuropathischen Schmerzen, Rücken- und Gelenkschmerzen Nachweislich positiver Einfluss von Schmerzlinderung und Schlafqualität auf verbessertes Funktionsniveau aber Verbesserung von Funktionalität und Lebensqualität nur durch Kombination mit physikalischen/psychologischen Verfahren möglich Schädliche Wirkungen von Nichtopioidanalgetika abwägen Regelmäßige Therapieüberprüfung (bereits nach 6 Wochen) Überprüfung der Indikation zur Weiterführung einer Opioidtherapie (Schmerzursache/Toleranz/Abhängigkeit) Seite 20
21 LONTS - Kernaussagen Relevante Schmerzlinderung nur in Kombination mit unspezifischen Kriterien Effekten (z. für Bsp. Langzeitanwendung Placebo) von Opioiden: Vorrangig bei neuropathischen Schmerzen, Rücken- und Gelenkschmerzen Reproduzierbare Schmerzlinderung 30% Nachweislich positiver Einfluss von Schmerzlinderung und Schlafqualität auf verbessertes Funktionsniveau aber Niedriger bis mittlerer Dosisbereich Verbesserung von Funktionalität und Lebensqualität nur durch Kombination mit physikalischen/psychologischen Verfahren möglich Verbessertes Funktionsniveau / verbesserte Schädliche Wirkungen von Nichtopioidanalgetika abwägen Regelmäßige Therapieüberprüfung (bereits nach 6 Wochen) Schlafqualität Überprüfung der Indikation zur Weiterführung einer Opioidtherapie (Schmerzursache/Toleranz/Abhängigkeit) Seite 21
22 Pharmakotherapie Veränderte Pharmakodynamik mit gesteigerte Empfindlichkeit gegenüber zentralwirksamen Substanzen Titrierung: Start low, go slow! Seite 22
23 Pharmakotherapie Durchschnittliche Anzahl eingenommener Medikamente (durchschnittlich 7 Diagnosen ) ärztlich verordnete Schmerzmedikamente 1,85 ärztlich verordnete sonstige Medikamente 5,04 Selbstmedikation 0,32 7,21 Anzahl der Patienten mit < 5 Medikamenten 15,5% Interaktionen beachten! Seite 23
24 Cannabis was steckt drin? Delta- 9- Tetrahydrocannabinol (THC) Hauptwirkstoff mit psychotroper Wirkung Entspannung, Wahrnehmungsveränderung, Psychose Cannabidiol (CBD) Wirkstoff mit krampflösender Wirkung entzündungshemmend schmerzhemmend CB1-Rezeptor zentral, aber mit geringer Dichte im Hirnstamm; Agonisten wie THC haben Einfluss auf Gedächtnis, Teilnahme, Bewegung CB2-Rezeptor meist peripher, vor allem von Zellen des Immunsystems exprimiert. Seite 24
25 Cannabis was wird diskutiert? Anwendung in der Medizin Anwendung als Genussmittel Seite 25
26 Cannabis die Droge So sollten denn die Weltleute und die Toren, die begierig sind, außerordentliche Freuden kennenzulernen, sich ganz klar darüber werden, dass sie im Haschisch keinerlei Wunder finden werden, sondern nichts als eine gesteigerte Natur. Gelassenheit, Euphorisierung, verändertes Körpergefühl, freies Denken Voraussetzung: richtiges Set Ängste, Panik, Halluzinationen, Übelkeit, Herzrasen, Mydriasis, Augenrötung Haschisch: getrocknetes Blütenharz Marihuana: getrocknete Blütenblätter Charles Baudelaire, Die künstlichen Paradiese Seite 26
27 Cannabis - medizinische Anwendung Seite 27
28 Cannabis die Situation Dronabinol, Marinol Nabilon Sativex Ausnahmeerlaubnis zum Erwerb von Cannabis Sorte Bedrocan Gehalt: THC ca. 22 %, CBD bis zu 1 % Sorte Bedica Gehalt: THC ca. 14 %, CBD bis zu 1 % Sorte Bedrobinol Gehalt: THC ca.13,5 %, CBD bis zu 1 % Sorte Bediol Gehalt: THC ca. 6,3 %, CBD ca. 8 % Sorte Bedrolite Gehalt: THC ca. 0,4%, CBD ca. 9% Cremer-Schäfer, Cannabis, Hirzel-Verlag, 2016 Seite 28
29 Gesetzentwurf der Bundesregierung Problem und Ziel: Verkehrsfähigkeit und die Verschreibungsfähigkeit von weiteren Arzneimitteln auf Cannabisbasis (dazu gehören z. B. Medizinalhanf, das heißt getrocknete Cannabisblüten sowie Cannabisextrakte in pharmazeutischer Qualität) herzustellen, um dadurch bei fehlenden Therapiealternativen bestimmten, insbesondere schwerwiegend chronisch erkrankten Patientinnen und Patienten nach entsprechender Indikationsstellung in kontrollierter pharmazeutischer Qualität durch Abgabe in Apotheken den Zugang zur therapeutischen Anwendung zu ermöglichen. Alternativen: Ein Eigenanbau von Cannabis durch Patientinnen und Patienten kommt aus gesundheits- und ordnungspolitischer Sicht nicht in Betracht _GE_Cannabis_als_Medizin_mit_Cannabisagentur.pdf Seite 29
30 SGB V 31 Arznei- und Verbandmittel, Verordnungsermächtigung (6) Versicherte mit einer schwerwiegenden Erkrankung haben Anspruch auf Versorgung mit Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten in standardisierter Qualität und auf Versorgung mit Arzneimitteln mit den Wirkstoffen Dronabinol oder Nabilon, wenn 1. eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung im Einzelfall nicht zur Verfügung steht, 2. eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome besteht und 3. die oder der Versicherte sich verpflichtet, an einer bis zum [5jährigen] laufenden nicht interventionellen Begleiterhebung zum Einsatz dieser Arzneimittel teilzunehmen. Bei der Erstverordnung muss die Genehmigung der Krankenkasse vorliegen! Seite 30
31 Geht s auch ohne Medikament? Seite 31
32 Defizitorientierte Therapie Verlagerung des Behandlungsschwerpunktes von der symptomatischen Schmerztherapie zur Behandlung gestörter körperlicher, psychischer und sozialer Funktionen Pfingsten, 2001, Multimodale Verfahren auf die Mischung kommt es an!, Schmerz 15: Seite 32
33 Multimodale Behandlung Ziel Wiederherstellung der objektiven und subjektiven Funktionsfähigkeit ( functional restoration ) Steigerung der Kontrollfähigkeit und des Kompetenzgefühls Ressourcenorientierte Vorgehensweise Institutionale Direktionalisierung Alltagsorientierende Normalisierung zunehmende Medikalisieung Pathologisierung von Schmerzen Krankenrolle Arnold B et al. (2009) Multimodale Schmerztherapie Konzepte und Indikation Schmerz 23: Seite 33
34 Behandlungsziele Förderung einer positiven Körperwahrnehmung physische, psychische, soziale Reaktivierung Verbesserung der körperlichen Leistungsfähigkeit (Koordination, Beweglichkeit, Kraft, Ausdauer) Reduktion dysfunktionaler Muster der Schmerzbewältigung Erkennung und Beeinflussung schmerzmodulierender Faktoren Motivationsförderung zur Übernahme von Eigenverantwortung Erkennung und Stärkung eigener Ressourcen Balance Anspannung/Entspannung Be- und Entlastung Wahrnehmung von Leistungsgrenzen Arnold B et al. Multimodale Schmerztherapie für die Behandlung chronischer Schmerzsyndrome, Schmerz 2014, 28: Seite 34
35 Behandlungsziele Förderung einer positiven Körperwahrnehmung physische, psychische, soziale Reaktivierung Verbesserung der körperlichen Leistungsfähigkeit (Koordination, Beweglichkeit, Kraft, Ausdauer) Reduktion dysfunktionaler Muster der Schmerzbewältigung Erkennung und Beeinflussung schmerzmodulierender Faktoren Motivationsförderung zur Übernahme von Eigenverantwortung und Erkennung und Stärkung eigener Ressourcen Schmerzfreiheit? Balance Anspannung/Entspannung Be- und Entlastung Wahrnehmung von Leistungsgrenzen Arnold B et al. Multimodale Schmerztherapie für die Behandlung chronischer Schmerzsyndrome, Schmerz 2014, 28: Seite 35
36 Seite 36
37 Interdisziplinarität - Ziele und Grenzen Ärzte Psychologen Pflege übergeordnet FunktionelleWiederherstellung Bio-psycho-soziales Modell Individuelle Ziele Physiotherapeuten Ergo-/Kunsttherapeuten Seite 37
38 Zusammenfassung Prävalenzzunahme chronischer Schmerzen bis 7. Dekade (50%) Besondere Risiken der Zielgruppe: kognitive/sensorische Beeinträchtigungen Komorbidität Multimedikation / multiple therapeutische Interventionen Verlust Aktivität/Partizipation Underreporting of Pain altersspezifische Diagnostik psychische Komorbidität erfassen Interdisziplinäre Zusammenarbeit, multimodale Therapieverfahren Therapieerfolg nicht ausschließlich an Schmerzreduktion sondern Funktions-, Kompetenz- und Lebensqualitätsverbesserung messen Seite 38
39 Dresdner Gespräche zum Schmerz 2016 Hörsaal Orthopädie (2.OG), Haus 29 im Universitätsklinikum 09. November 2016 Von Leid und Schmerz Gedanken zur therapeutischen Grundhaltung PD Dr. phil. Dipl.-Psych. Dipl.-Theol. Rita Bauer, Universitätsklinik Dresden Von Leid und Trost Vokalmusik alter Meister Concentus, Dresden Moderation: Prof. Dr. Rainer Sabatowski, Dr. phil. Ingrid-Ulrike Grom Seite 39
40 Vielen Dank für die Aufmerksamkeit Eichen am Strand -Carl Gustav Carus Seite 40
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