Paritätisches Positionspapier Pflegeversicherung
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- Mareke Hochberg
- vor 8 Jahren
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1 Paritätisches Positionspapier Pflegeversicherung Das Maß der Menschlichkeit einer Gesellschaft bemisst sich auch und vor allem am Umgang mit von Krankheit und Pflegebedürftigkeit betroffenen Menschen. Die Sicherung einer guten Pflege ist ein Wert und Pflege hat einen Wert. Die pflegebedürftigen Menschen haben ebenso wie diejenigen, die Pflege leisten, einen Anspruch auf Anerkennung und Unterstützung durch die Gesellschaft. Das ist ein Gebot des Anstands und der Ethik, aber ebenso der Vernunft. Die gesetzliche Pflegeversicherung ist im Sozialgesetzbuch XI geregelt. Auf dieser Grundlage werden seit April 1995 Leistungen bei häuslicher Pflege und seit Juli 1996 Leistungen bei stationärer Pflege erbracht. Anfang 2010 verfügen 69,7 Millionen Menschen über Ansprüche in der sozialen Pflegeversicherung und 9,3 Millionen Menschen in der privaten Pflegeversicherung. 2,37 Millionen Menschen beziehen Leistungen der gesetzlichen Pflegeversicherung, von denen mit 1,63 Millionen mehr als zwei Drittel ambulant und ein Drittel stationär gepflegt werden. Von den ambulant gepflegten Versicherten sind etwa 60 Prozent in der Pflegestufe 1 eingestuft, weitere 30 Prozent in der Pflegestufe 2 und etwa 10 Prozent in Pflegestufe 3. Etwa 80 Prozent der ambulant gepflegten Menschen nehmen Geldleistungen, ein Fünftel dagegen Sachleistungen in Anspruch. Über Menschen sind in stationären Pflegeeinrichtungen untergebracht. Mehr als ein Zehntel davon in stationären Einrichtungen der Hilfen für behinderte Menschen. Insgesamt sind jeweils etwa 40 Prozent der stationär gepflegten Menschen in den Pflegestufen 1 und 2 und 20 Prozent in der Pflegestufe 3 untergebracht. Die Leistungsausgaben der Pflegeversicherung betrugen im Jahr 2009 etwa 19,3 Milliarden Euro, von denen jeweils etwa die Hälfte auf den ambulanten und stationären Bereich entfiel. Nachdem die Ausgaben der Pflegeversicherung in den Jahren 1999 bis 2007 nahezu durchgehend die Einnahmen übertrafen, wurde 2008 und 2009 ein Einnahmenüberschuss von 0,6 bzw. 0,9 Milliarden Euro verzeichnet. Zum Jahresende 2009 verfügt die gesetzliche Pflegeversicherung über eine Liquiditätsreserve von 4,8 Milliarden Euro und über eine zusätzliche Betriebsmittelrücklage in Höhe von 2,6 Milliarden Euro. 1
2 Erst im Jahr 1997 wurden erstmals ganzjährig Leistungen der für die ambulante und stationäre Pflege gezahlt. Bis 2008 erfolgte daraufhin keinerlei Anpassung der Leistungen, so dass das tatsächliche Leistungsniveau kontinuierlich sank. Selbst unter Berücksichtigung der bereits beschlossenen Leistungserhöhungen wäre von 1995 bis 2015 lediglich eine Steigerung von durchschnittlich 0,4 Prozent zu verzeichnen. Das deckt lediglich einen Teil der Kaufkraftverluste ab und führt zu einer fortwährenden Auszehrung des Leistungsniveaus der Pflegeversicherung, die auf diesem Wege fortwährend an Legitimation verliert. Diese Entwicklung bildet sich auch in steigenden Empfängerzahlen in der Sozialhilfe ab. Bei dem gegebenen Finanzierungsrahmen ist der notwendige Ausbau der Rahmenbedingungen für die Aufrechterhaltung und den Ausbau der Qualität in der Pflege nicht zu leisten. Ein Ausbau der Finanzierungsgrundlagen der Pflegeversicherung ist jedoch dringend notwendig. Der seit Einführung der Pflegeversicherung 1995 verwendete, einseitig somatisch und verrichtungsbezogene Pflegebegriff wurde und wird den Bedürfnissen der Betroffenen nicht gerecht. Er beinhaltet ein verkürztes Verständnis von Pflegebedürftigkeit und benachteiligt insbesondere Menschen mit dementiellen Erkrankungen, geistigen Behinderungen und ältere Menschen. Der bestehende Pflegebedürftigkeitsbegriff wird den Anforderungen an eine bedarfsgerechte Pflege längst nicht mehr gerecht. Der Beirat zur Überprüfung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs hat bereits am 25. Mai 2009 konkrete Vorschläge für die Umsetzung eines neuen Pflegebegriffs geliefert und dabei acht Kriterien genannt, die zu einer differenzierteren Beurteilung des Pflegebedarfs führen können. Der Paritätische begrüßt die Vorschläge. Der neue, erweiterte Pflegebegriff muss Grundlage für die Neudefinition der Leistungen sein. Die mit dem Pflege-Weiterentwicklungsgesetz zum vorgenommenen Leistungsverbesserungen sind ein Schritt in die richtige Richtung, aber sie reichen bei Weitem nicht aus. Durch die demographische Entwicklung, den Wandel der Geschlechter- und Erwerbsverhältnisse sowie der Familienstrukturen wird die Zahl der Pflegebedürftigen kontinuierlich steigen. Auf der Basis der bestehenden Pflegewahrscheinlichkeit sind für das Jahr 2020 etwa 2,81 und für das Jahr 2030 etwa 3,27 Millionen Pflegebedürftiger zu erwarten. Daraus resultiert ein wachsender Bedarf an Beschäftigten in Pflegeberufen. Bereits in den vergangenen Jahren nahm die Zahl der Beschäftigten in diesem Bereich jährlich um etwa acht bis zehn Prozent zu. Der längst bestehende Fachkräftemangel in der Pflege wird sich unter diesen Bedingungen in den kommenden Jahren erheblich vergrößern. Um dieser Entwicklung entgegenzusteuern, ist die Schaffung guter Rahmenbedingungen für die Pflege ebenso notwendig wie eine faire, den Leistungen der Pflegenden gerecht werdende Bezahlung. Die Leistungen der Pflegeversicherung müssen sich an den individuellen Bedarfen der Betroffenen orientieren. Der in 70 SGB XI normierte Vorrang der Beitragssatzstabilität muss zu Gunsten der bedarfsgerechten Hilfegewährung eingeschränkt und durch das Gebot der wirtschaftlichen, teilhabeorientierten Leistungsgewährung er- 2
3 setzt werden. Der Anspruch auf Leistungen der Pflegeversicherung muss möglichst unbürokratisch realisiert werden können und geeignet sein, Teilhabe zu ermöglichen. Ein möglichst hohes Maß an menschlicher Zuwendung und Qualität in der Pflege ist das oberste Ziel der Einrichtungen und Dienste im Paritätischen. Die haupt- und ehrenamtlich engagierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter setzen sich dafür mit großem Engagement ein. Darüber hinaus bleibt eine deutliche Verbesserung der finanziellen Rahmenbedingungen der Pflege unerläßlich. Die notwendige Neuordnung der Pflegefinanzierung: Solidarisch, leistungsfähig und gerecht Die Finanzierung der Pflege ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Dem Anspruch jeder Person auf eine seinen Bedürfnissen angepasste Pflege entspricht der Verpflichtung, eine solidarische, der persönlichen Leistungsfähigkeit entsprechende Finanzierung der Pflege sicherzustellen. Die künftige Finanzierung der Pflege muss diesen Anforderungen gerecht werden. Geld garantiert keine gute Pflege, aber die Rahmenbedingungen für eine gute Pflege haben ihren Preis. Dies anzuerkennen sowie eine den Bedürfnissen der Betroffenen entsprechende und gleichzeitig kostenbewusste Pflegefinanzierung herzustellen, ist eine der wesentlichen sozialpolitischen Herausforderungen. Ihr gerecht zu werden, erfordert eine Reform der Pflegefinanzierung. Die Absicherung von allgemeinen Gesundheitsrisiken durch die umlagefinanzierten Sozialversicherungen hat sich über Jahrzehnte insgesamt bewährt. Dieses System hat sich anderen Finanzierungsformen gegenüber als überlegen erwiesen. Die bestehenden Defizite in der Leistungsfähigkeit der Sozialversicherung insgesamt, die Mängel in der Schaffung und Sicherung einer qualitativ hochwertigen Versorgung sowie bzgl. ihrer Finanzierbarkeit liegen nicht in den Grundsätzen einer solidarischen und gerechten sozialen Sicherung begründet. Ihre Grundprinzipien werden von der Bevölkerung mit übergroßer Mehrheit bejaht. Der Paritätische fordert deshalb, die Beiträge zur Pflegeversicherung künftig auf der Grundlage der einkommenssteuerrechtlichen Leistungsfähigkeit der Versicherten zu bemessen. Das bedeutet eine Abkehr von der bestehenden, lohneinkommensfixierten Beitragsbemessung. Dem wachsenden Stellenwert zusätzlicher Einkommensquellen neben Lohn und Rente wird damit Rechnung getragen. Auf diese Weise wird nicht nur die tatsächliche Leistungsfähigkeit der Versicherten abgebildet, sondern auch die Finanzierung des Pflegerisikos auf eine breitere, solidere Grundlage gestellt und von häufig wechselnden Schwankungen der Lohneinkommen entkoppelt. Der damit verbundene Verwaltungsmehraufwand ist überschaubar. Bereits heute werden die Beiträge freiwillig Versicherter Rentnerinnen und Rentner in der Gesetzlichen Krankenversicherung auf dieser Grundlage berechnet. Ein pragmatischer und unbürokratischer Weg dazu wäre es, den Steuerbescheid als Grundlage der Beitragsbemessung zu nehmen. Dies entspräche auch dem Grundsatz der Einheitlichkeit der Rechtsordnung und wäre in der Umsetzung unproblematisch. Eine steuerliche Freistellung von Einkommen würde entsprechend auch für die Beitragsbemessung in der Pflegeversicherung gelten. Die nicht freigestellten Ein- 3
4 kommen sollten bis zur Beitragsbemessungsgrenze mit dem halben Beitragssatz berücksichtigt werden. Für die lohnbezogenen Anteile der Pflegeversicherungsbeiträge ist die paritätische Finanzierung wiederherzustellen. Sie ist Ausdruck der gemeinsamen Verantwortung von Arbeitgebern und Arbeitnehmern und gewährleistet gesamtgesellschaftlich, dass Anreize für Prävention und Gesundheitsförderung im Betrieb bestehen bleiben. Die Beitragsbemessungsgrenze ist auf das Niveau der Beitragsbemessungsgrenze in der Gesetzlichen Rentenversicherung anzuheben. Für das Jahr 2010 entspräche dies einer Anhebung auf Euro (West) beziehungsweise Euro (Ost) im Jahr bzw Euro (West) und Euro (Ost). Durch diesen Schritt wird der solidarische Charakter der sozialen Pflegeversicherung zusätzlich betont. Die in Deutschland bestehende Möglichkeit, dass sich ausgerechnet der einkommensstärkste und häufig überdurchschnittlich gesunde Teil der Bevölkerung durch einen Wechsel in eine private Versicherung dem Solidarausgleich entziehen kann, ist anachronistisch und findet weltweit nahezu kein Pedant. Aus diesem Grund ist die Versicherungspflichtgrenze künftig aufzuheben und eine allgemeine Versicherungspflicht einzuführen. Rechtlich notwendigen Übergangsfristen und dem gebotenen Bestandsschutz sind dabei Rechnung zu tragen. Die Leistungen der Pflegversicherung sind künftig jährlich anhand der Preissteigerungsrate zu dynamisieren. Der Paritätische lehnt die Einführung einer zusätzlichen kapitalgedeckten Pflegeabsicherung ab. Mit der Einführung einer weiteren Finanzierungsquelle würde die Fragmentierung der Absicherung fortgeschrieben, ohne dass es kurz- und mittelfristig zu positiven Finanzierungseffekten käme. Gegenüber einem umlagefinanzierten Sicherungssystem bietet eine kapitalgedeckte Absicherung keine Vorteile, im Gegenteil. Die Verwaltungskosten kapitalgedeckter Sicherungssysteme sind überdurchschnittlich hoch. Die bestehenden Finanzierungsprobleme der privaten Versicherungen belegen darüber hinaus, dass diese Finanzierungsform keineswegs sicherer ist als umlagefinanzierte Formen. Zudem ist ungeklärt, wie eine weitere obligatorische Versicherungsform für Menschen ohne oder mit geringem Einkommen finanziert werden könnte. Schließlich würde eine zusätzliche kapitalgedeckte Pflegeabsicherung einen mehrjährigen Aufbau eines Kapitalstocks erfordern, ohne dass in diesem Zeitraum Leistungen ausgezahlt werden können. Eine kapitalgedeckte Pflegesicherung ist kein Beitrag zur Lösung der drängenden Probleme in der Pflege. Der Paritätische fordert deshalb den solidarischen Ausbau der bestehenden Pflegeversicherung zu einer sozialen Bürgerversicherung. Mit den daraus resultierenden, zusätzlichen Einnahmen soll eine Ausweitung und Dynamisierung bedarfsgerechter Leistungen finanziert werden. Auf diese Weise wird sichergestellt, dass die Zahl der zusätzlich auf Leistungen der Sozialhilfe angewiesenen Betroffenen sinkt. Durch eine Reform der Besteuerung von Erbschaften ist zudem sicherzustellen, dass eine Kumulation vererbter Einkommen in Grenzen gehalten und das daraus resultierende Steueraufkommen zur Gestaltung der Folgen des demographischen Wandels eingesetzt wird. Der Paritätische hat dazu detaillierte Vorschläge unterbreitet. 4
5 Die Förderung von Prävention und Gesundheitsförderung ist die wirksamste und günstigste Maßnahme zur Vermeidung der Pflegebedürftigkeit. Der Paritätische fordert deshalb, die öffentliche Gesundheitsförderung auszubauen und Maßnahmen der Prävention, auch durch ein Präventionsgesetz, zu stärken. Bürgerschaftliches Engagement ist ein wesentliches Element zur Stärkung der Zivilgesellschaft und ein Beitrag zur Bewältigung der Herausforderungen der demographischen Entwicklung. Die Stärkung der Rahmenbedingungen des bürgerschaftlichen Engagements, die Förderung von Möglichkeiten zur Pflege Angehöriger und die umfassende Förderung der Beratungsinfrastruktur für pflegebedürftige Menschen und ihre Angehörigen sind neben einer Reform der Pflegefinanzierung weitere Bausteine für eine solidarische, nachhaltige Absicherung des Pflegerisikos, deren Umsetzung zu den wichtigsten Zukunftsaufgaben zählt. 2. Dezember
stationär Insgesamt 400.000 258.490 426.855 671.084 126.718 131.772 Pflegestufe I Pflegestufe II Pflegestufe III Insgesamt
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