Silke Birgitta Gahleitner, Gernot Hahn, Rolf Glemser (Hg.) Psychosoziale Interventionen Klinische Sozialarbeit: Beiträge zur psychosozialen Praxis
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1 Silke Birgitta Gahleitner, Gernot Hahn, Rolf Glemser (Hg.) Psychosoziale Interventionen Klinische Sozialarbeit: Beiträge zur psychosozialen Praxis und Forschung 6
2 16»Biopsychosozial«revisited Silke Birgitta Gahleitner, Helmut Pauls, Gerhard Hintenberger und Anton Leitner Unser Leben ist aktuell geprägt durch vielfältige Brüche und Übergänge (Gahleitner & Hahn 2012).»Wir durchlaufen von der frühesten Kindheit bis ins höchste Alter unterschiedlichste Lebens- und Entwicklungsphasen. In und mit ihnen verändern sich unsere Lebenswelten und Lebensorte, Lebenskonstellationen und Lebensumstände in Privatheit, Beruf und Öffentlichkeit, unsere Rollen, Funktionen und Aufgaben, unsere Kapazitäten und Möglichkeiten, unsere Bedürfnisse und Ansprüche, unser Bild von uns und der Welt sowie unsere persönlichen Beziehungen und Bindungen.«(Weinhold & Nestmann 2012, S. 52) Dazu treten Transformationsprozesse verschiedenster Art.»Technologisch-ökonomische Prozesse führen zu realen Umbauten im gesellschaftlichen Gefüge. (...) Gleichzeitig erodieren... die Deutungsmuster, die soziale Umbrüche zu normalisieren in der Lage wären.«(keupp 2012, S. 35) Für die vielen emotionalen, kognitiven und handlungsbezogenen Orientierungs-, Planungs-, Entscheidungs- und Reflexionsanforderungen benötigen wir Ressourcen. Sind diese vorhanden, erwachsen aus den beschleunigten Veränderungsprozessen Freiheiten, Chancen und Möglichkeiten. Die damit verbundenen Belastungen und Risiken (Beck 1986) jedoch treiben benachteiligte und beeinträchtigte Menschen vielfach ins Abseits, Exklusionsprozesse sind die Folge. Es gibt inzwischen ausreichend Belege dafür, dass psychosoziale Faktoren das wichtigste Bindeglied zwischen materieller Benachteiligung und psychischer wie körperlicher Gesundheit sind. Berichte der WHO (vgl. u. a. 2001) zeigen die Verschränkung biopsychosozialer Prozesse und Strukturen, insbesondere jedoch das Defizit aufseiten der sozialen Komponente deutlich auf (vgl. auch Franzkowiak et al. 2011; Homfeldt & Sting 2006). Sollen sich unsere professionellen Hilfestellungen also am aktuellen»bedarf«orientieren, müssen sie neben vielen anderen Aufgaben auch eine angemessene professionelle Antwort auf gesundheitliche Überforderungen durch psychosoziale Ver-
3 Gahleitner, Pauls, Hintenberger, Leitner:»Biopsychosozial«revisited 17 arbeitungsprozesse postmoderner Lebensverhältnisse für alle darin lebenden Menschen bereitstellen. Es bedarf daher einer Entwicklung adäquater theoretischer Überlegungen, um Menschen in den aktuellen Lebenskontexten angemessene Unterstützung durch psychosoziale Versorgungsformen bieten zu können (Gahleitner & Pauls 2010; Mühlum 2001; Pauls 2004/2011). Aus diesen und ähnlichen Überlegungen heraus wurde bereits vor einigen Jahrzehnten das biopsychosoziale Modell entwickelt (vgl. erstmals Engel 1977; Uexküll & Wesiack 1996; aktuell erweitert Egger 2005; Egger et al. i. Dr.), 1 welches Kranksein als komplexes Geschehen nicht mehr in Teilbestandteile trennt und als rein biologisches Geschehen konzeptualisiert. Entlang dieser Überlegungen bedarf es einer Entwicklung adäquater Reaktions- und Interventionsformen, um sozial deklassierten Menschen in den aktuellen Lebenskontexten angemessen Unterstützung bieten zu können. In den letzten 15 Jahren hat sich anknüpfend an diese Überlegungen Klinische Sozialarbeit als eine Spezialisierungstendenz der Sozialen Arbeit entwickelt (Mühlum 2001). Klinische Sozialarbeit bemüht sich um konstruktive Veränderungsimpulse für den Einzelnen im Kontext seiner Umfeld- und Lebensbedingungen und widmet sich dabei insbesondere der Unterstützung»schwer erreichbarer«klientel in Multiproblemsituationen (Labonté-Roset et al. 2010). Sie setzt dabei im Kontrast zur Klinischen Psychologie und Medizin am Unterstützungspotenzial durch Kompensation defizitärer sozialstruktureller Situationsfaktoren im Alltag an. Das biopsychosoziale Modell ist also per se Programm. Obwohl das Modell jedoch in seiner Entstehung ein einheitlich positives Echo ausgelöst hat, hat es sich inzwischen in viele Einzeldiskurse zerstreut. Viele Hoffnungen blieben uneingelöst (Keupp 2013). Für konstruktive Weiterentwicklungen bedarf es daher aktueller Forschungsbemühungen und Konzepte, die versuchen, das Modell von verschiedenen Seiten in seiner Funktion zu beleuchten. Im Folgenden soll ein kurzer Überblick über den aktuellen zugehörigen Diskurs gegeben werden.
4 18 Grundlagen Gesellschaftlicher Hintergrund Immer mehr nationale wie internationale Studien zeigen auf, wie stark sich Ungleichheitsverhältnisse auf den Gesundheitszustand Benachteiligter auswirken (vgl. hier und im Folgenden Gahleitner et al. 2013). In einer groß angelegten Studie aus den USA (Wilkinson & Pickett 2010) konnte beispielsweise gezeigt werden, dass soziale und gesundheitliche Probleme nicht nur in armen Ländern auftreten, sondern sogar besonders stark in Gesellschaften, die eine starke Ungleichheitsverteilung aufweisen. So sterben zwar in den reichen Nationen an Armutskrankheiten wie z. B. Cholera kaum noch Menschen, dafür nehmen Wohlstandskrankheiten zu. Während wirtschaftliche Prosperität in ärmeren Ländern eine Steigerung des Lebensstandards bewirken kann, hat eine Einkommenssteigerung in reicheren Ländern kaum noch Relevanz für die genannten Aspekte. So kristallisiert sich als gemeinsame Ursache aller erfassten gesundheitlichen und sozialen Probleme weltweit die Ungleichheit innerhalb eines Landes als der stärkste Einflussfaktor für die Lebenserwartung heraus. Mangel an Respekt, Wertschätzung, Ansehen und sozialer Einbettung sind also bedeutsame Faktoren mit negativem Einfluss auf den gesamten Lebensverlauf. Auch in Untersuchungen aus dem deutschsprachigen Raum lässt sich zeigen, dass bei Familien mit niedrigem sozioökonomischem Status die Krankheitshäufigkeit am höchsten ist: Sie erleiden häufiger Verletzungen, konsumieren häufiger psychoaktive Substanzen, haben ein schlechteres Ernährungsverhalten, sind häufiger übergewichtig und insgesamt häufiger physisch und psychisch beeinträchtigt (vgl. u. a. BT-Drs. 16/ ; Mielck 2011). Der Zusammenhang zeigt sich auch in umgekehrter Reihenfolge. In einer weiteren umfassenden Studie zu frühen Traumata in der Kindheit (sogenannte ACE-Studie über»adverse childhood experiences«; Felitti 2002) zeigte sich longitudinal: Menschen, die ein frühes Trauma erlitten haben, leiden ungleich häufiger an Armut, Arbeitslosigkeit, Mittellosigkeit, unzureichender oder unsicherer Unterkunft bzw. Wohnungslosigkeit und sozialer Gefährdung. Gewalteinwirkung, Mangel an Respekt, Wertschätzung, Ansehen und sozialer Einbettung sind also bedeutsame Faktoren mit negativem Einfluss auf Gesundheit, Lebenserwartung und Möglichkeiten zur Lebens-
5 Gahleitner, Pauls, Hintenberger, Leitner:»Biopsychosozial«revisited 19 gestaltung. Krankheitsentstehung kann damit als ein multi kausaler, nonlinearer Prozess begriffen werden, der sich in Form von Dispositiven (aus bio-psycho-sozial-kulturellen, politischen und ökonomischen Verhältnissen) vollzieht (vgl. Leitner 2010, S. 164; vgl. auch Pauls & Gahleitner 2011).»Biographische Studien kranker Menschen zeigen sehr deutlich, dass Krankheit nicht nur als körperliche Funktionsstörung oder leiblich erlebtes Leiden vorgetragen wird, sondern als tiefe Erfahrung des Normalitätsverlustes und damit im Kern soziales Problem.«(Hanses 2005, S. 193; vgl. auch Hanses 1996, 1998; Hanses & Börgartz 2001). Historie Das Wissen um»ganzheitlichkeit«ist alt, die Auftrennung in die Bestandteile»Psyche«und»Soma«hat sich erst im Verlauf des Wissenschaftsdiskurses implementiert. Sie entstammt der Vorstellung eines psychophysischen Dualismus, der ursprünglich auf Descartes (1641/1960) zurückgeführt wird (kritisch zu dieser Position u. a. Damasio 1995). In der Psychologie und den Sozialwissenschaften, besonders jedoch in der Medizin, taucht(e) die Fragestellung nach diesem Dualismus immer wieder auf, ohne dass sie wirklich abschließend zu beantworten wäre. Dies ist umso interessanter, da sogar medizinhistorisch als verbindende Klammer verschiedener psychosomatischer Strömungen immer wieder auch ein Menschenbild existierte, das den ganzen Menschen biopsychosozial in seinem Gesundsein wie Kranksein betrachtet. Bereits die Antike bezog den Menschen vom Leib ausgehend in seiner sinnenhaften Wahrnehmungsfähigkeit und mit seinen ganzen Ausdrucksmöglichkeiten in das Behandlungsgeschehen über Bewegung, Tanz, Drama usw. ein (vgl. u. a. Petzold & Sieper 1990). Man war auf die»vorfindliche Ganzheit«des Menschen gerichtet, glaubte allerdings auch noch an das Wirken der Götter. Auch Freud und seine Zeitgenossen trugen wesentliche Aspekte zu umfassenderen Betrachtungsweisen bei (vgl. u. a. Freud 1913; Adler 1912; Ferenczi 1964). Eine Reihe von Anstößen kam aus der psychosomatisch ausgerichteten Strömung der Medizin (Deutsch 1927; Alexander 1971), mit einem disziplin- und methodenübergreifenden
6 20 Grundlagen Wissenschaftsbegriff, der sich von der rein»naturwissenschaftlichen Medizin«mit biologistisch ausgerichtetem Menschenbild und dem Anspruch, Krankheit und Gesundheit als von der sozialen Wirklichkeit getrennt erfassen zu können, immer mehr abkehrte (vgl. dazu auch die medizinsoziologischen Überlegungen zur Salutogenese; Antonovsky 1979). Den unbestreitbaren Erfolgen des rein biomedizinischen Ansatzes stehen die Vielschichtigkeit heutiger Krankheitsbilder und die immer schlechter zu bewältigende Kostenexplosion aufgrund einseitiger und oft unzureichender biomedizinischer Behandlungskonzepte im Gesundheitswesen gegenüber (Leitner 2007). Auch aktuelle Forschungsergebnisse aus der Neurophysiologie wie z. B. Fuchs (2010) mit seiner phänomenologisch-ökologischen Konzeption weisen darauf hin, dass somatische Prozesse, emotionale und kognitive Prozesse sowie soziales Geschehen untrennbar miteinander verwoben sind (vgl. auch Damasio 1995, 1999). Inzwischen findet sich eine Vielzahl von paradigmatisch sehr heterogenen theoretischen Konzepten, die darauf hinweisen, dass die Fragen nach dem Zusammenwirken des Gesamtorganismus und seinen jeweiligen kausalen Verknüpfungen noch weit von Eindeutigkeiten entfernt sind. Trotz dieser vielfältigen Entwicklungen gibt es bis zum heutigen Tag keine Lösung für eine Reihe anstehender Fragen. Nach wie vor ringen die einzelnen Disziplinen wie Medizin, Psychologie und immer mehr auch Soziale Arbeit vor dem Hintergrund der jeweiligen Forschungsentwicklungen um den Führungsanspruch, anstatt kooperative Forschungsgelder zu akquirieren. Darüber hinaus aber sind die Probleme dem Modell auch immanent:»die Notwendigkeit ganzheitlicher Ansätze wird forschungsstrategisch zum Fluch.«(Hanses 2005, S. 189) Ursachen und Wirkungen bei multikausal begriffenen Störungsbildern, die multimodale Interventionen erfordern, sind schwer zu erbringen und erfordern höchst differenzierte Untersuchungs designs. Forschung Seit ca. 60 Jahren, mit der beginnenden Erforschung von Risikofaktoren, wurden systematisch ähnlich den eingangs aufgeführten soziale und psychologische Faktoren in Studien zum Krankheitsgesche-
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