http://www.stepping-out.org Universität Hildesheim in Kooperation mit der Internationale Gesellschaft für Erzieherische Hilfen WAS KOMMT NACH DER STATIONÄREN ERZIEHUNGSHILFE? ZUR ÜBERGANGSBEGLEITUNG VON CARE LEAVERN INS ERWACHSENENLEBEN Dr. Severine Thomas Geht doch?! Ansätze wirksamer Förderung für besonders auffällige junge Menschen Fachtagung der DVJJ e. V., Bad Boll 13.-15.02.2015 1
Gliederung Was sind eigentlich Care Leaver? Care Leaver Projekte der IGfH / UNI Hildesheim Care Leaver über Care Leaver: Film des Careleaver Netzwerks Deutschland e. V. + Diskussion Einblicke in die Lebenssituation von Care Leavern Kritische Übergangskonstellationen Was brauchen Care Leaver? Beispiele internationaler Übergangsbegleitung Care Leaver beteiligen Übergangspraxis weiterentwickeln! 2
Care Leaver?!
Care Leaver! Sven Gerich, OB in Wiesbaden Betriebsratsvorsitzender und stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender der Porsche AG 4
Care Leaver Projekte der IGfH und Universität Hildesheim Projekt Was kommt nach der stationären Jugendhilfe? (2012-2014) Bestandsaufnahme der Ausgangssituation für den Übergang aus stationären Hilfen Fokus auf das Handeln der Fachpraxis Arbeitsbuch: Beispiele guter Praxis im In- und Ausland Projekt Rechte im Übergang Die Begleitung und Beteiligung von Care Leavern (2014-2016) Subjektives Erleben des Übergangs und erfahrene Unterstützungsformen Fokus auf die Perspektive der jungen Menschen selbst Infobroschüre und Internetseite für Care Leaver (und Fachpraxis) unter Beteiligung der AdressatInnen (Interviews, Beteiligungsworkshops, Hearing mit Policy Makers) 5
Übergang ins Erwachsenenleben Es entsteht eine neue Lebensphase zwischen Jugend und Erwachsenenalter (18-25 Jahre) Emerging Aduthood (Arnett 2000) YOYO-Übergänge (Walther/Stauber 2002) 6
Care Leaver über Care Leaver Film des Careleaver Netzwerks 7
Care Leaver im Vergleich zu ihren Peers Durchschnittliches Auszugsalter (Deutschland 2007) 26 24 22 20 18 16 14 12 10 8 6 4 2 0 Männer Frauen HzE? Das durchschnittliche Auszugsalter aus dem elterlichen Haushalt liegt in Deutschland bei 23,9 Jahren (Frauen) bzw. 25,1 Jahren (Männer) (vgl. Eurostat 2009). Quelle: Nüsken 2013 in Anlehnung an Eurostat 2009 8
Erziehungshilfe und Lebensalter Datengrundlage: 2011 Absolute Fallzahlen (Bestand 31.12.) und Hilfequoten pro 10.000 der altersgleichen Population (inkl. ambulante Hilfen) Quelle: Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik: Monitor Hilfen zur Erziehung 2012 S. 11
Hilfen zur Erziehung nach Lebensalter 15 Jahre 16 Jahre 379 365 17 Jahre 327 18 Jahre 202 19 Jahre 116 20 Jahre 21 Jahre + 11 69 Inanspruchnahmequoten pro 10.000 der altersgleichen Bevölkerung, inkl. ambulante Hilfen 0 100 200 300 400 Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik: Monitor Hilfen zur Erziehung 2012, S. 11 Datengrundlage: Bestandserhebung zum 31.12.2011, eigene Darstellung 10
Stationäre Erziehungshilfen in Deutschland Absolute Fallzahlen (alle Altersgruppen, Bestand Hilfen am 31.12) 1995 2000 2005 2010 2011 Vollzeitpflege ( 33) 48,021 48,993 50,364 60,451 61,894 Heimerziehung, Sonstige betreute Wohnform ( 34) 69,969 69,723 61,806 63,191 65,367 Quelle: Destatis https://www.destatis.de/de/zahlenfakten/gesellschaftstaat/soziales/sozialleistungen/kinderjugendhilfe/ta bellen/erzieherischehilfenausgaben2011.html
Vertiefende Einblicke: Hilfen für junge Volljährige nach Hilfearten Verteilung der Hilfen für junge Volljährige nach Hilfearten (Deutschland; 2010; Summe aus andauernden und beendeten Hilfen; in %)* 4% Soziale Gruppenarbeit, 29 in Verbindung mit 41 45% 30% Erziehungsbeistand und Betreuungshelfer, 30 in Verbindung mit 41 Intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung, 35 in Verbindung mit 41 Vollzeitpflege, 33 in Verbindung mit 41 15% N = 44.452 6% Heimerziehung, 34 in Verbindung mit 41 Statistisches Bundesamt: Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe Erzieherische Hilfen, 2011. Eigene Darstellung.
Vertiefende Einblicke Unmittelbar nachfolgende Hilfen 18-21-Jährige Quelle: Statistisches Bundesamt: Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe Erzieherische Hilfen, 2011. Eigene Darstellung. Beendete Hilfen gem. 34 SGB VIII in 2011 (N=10.150) 2% 2% 2% 2% 35% HzE gem. 27-35, 41 SGB VIII keine nachfolgende Hilfe gem. 27-35, 41 SGB VIII Allgemeine Beratung durch den ASD 57% Zuständigkeitswechsel: Hilfefortführung ( 33; 34) Weiterverweisung an andere Beratungseinrichtungen Eingliederungshilfe gem. 35a SGB VIII
Kritische Übergangskonstellationen Hilfegewährungspraxis: Abhängigkeit von regionaler Bewilligungspraxis Jugendtypisches Verhalten kaum berücksichtigt, Normalitätsvorstellung Auszug mit 18 mangelnde Mitwirkung indiziert keinen weiteren Hilfebedarf Fokus auf Bildung nicht zentral Übergang in andere Leistungssysteme gefährdet Bildungschancen Bildung wird kaum als biographische Chance wahrgenommen Wohnungslosigkeit / Soziale Isolation in der eigenen Wohnung Psychisch kranke junge Erwachsene / Care Leaver ohne klare Diagnose
Gestaltungselemente im Übergang Wohnformen Unterschiedliche stationäre opder ambulante Settings des betreuten Wohnens als Kern der Verselbständigung Gewährungszeitraum sehr unterschiedlich Gruppenangebote Erwerb von Schlüsselkompetenzen Vernetzung der Jugendlichen untereinander Themenangebote für Pflegeeltern und Jugendliche: z. B. Pubertät, Biographiearbeit, Ablösung von den Pflegeeltern 15
Gestaltungselemente im Übergang Beziehungsarbeit und Beziehungskontinuität BetreuerInnen als Schlüsselfiguren Paten/Mentoren soziale Vernetzung Herkunftsfamilie ambivalente Bindungen und Wurzeln der Identität Kompetenztrainings Hauswirtschaftliche Fertigkeiten Finanzen Körperhygiene/Gesundheit Umgang mit Behörden Inanspruchnahme nachgehender Hilfsangebote 16
Gestaltungselemente im Übergang Schulische/berufliche Bildung Schulbesuch/Übergänge in Arbeit- und Ausbildung Spezifische Beratung / Begleitung bezogen auf den Einzelfall Praxismodell: Vorstellung jedes Care Leaver bei der Arbeitsverwaltung Vernetzungen, runde Tische etc. Mentorenprogramme Nachgehende Begleitung und Ehemaligenarbeit Keine verbindlichen Konzepte nachgehender Unterstützungsangebote nach stationären Erziehungshilfen Vereinzelt: mediale Vernetzung, z.b. über Facebook, oder feste monatliche Ehemaligentage 17
Was brauchen Care Leaver? - Was ist gute Praxis? Nicht mehrere Übergangsprozesse parallel einleiten! Partizipation im Sinne von Selbstverantwortung und Selbstbestimmung fördern! Netzwerke stärken / Gruppenangebote erweitern! Reversible und flexible Übergängen aus Erziehungshilfen ermöglichen! Bildung als Aufgabe der Erziehungshilfe besser verwirklichen!
Was brauchen Care Leaver? - Was ist gute Praxis? Abschiede vorbereiten und Abschiednehmen lernen! Orte des Zurückkommens schaffen! Bindungen ermöglichen und erhalten: Ehemaligenarbeit und Patenschaften institutionalisieren! Infrastruktur für Hilfen aus einer Hand verbessern!
Die Perspektive der Adressat_innen Gute Vorbereitung des Übergangs = Schlüsselrolle Ein größerer Teil der Care Leaver betrachtet sich aber als nicht gut vorbereitet. Wechsel aus manchmal stark reglementierten Situation in der Hilfe oder Pflege wird als starke biografische Zäsur erlebt. Auch der formelle Abschied von Vertrauenspersonen wie Pflegeeltern oder Betreuer_innen muss thematisiert und emotional verarbeitet werden. Auch Care Leaver mit positiven Hilfeverläufen fühlen sich im Übergang z. T. zurückgewiesen. 20
Internationale Perspektiven auf den Übergang Anspruch auf Erziehungshilfen bis 23 Rückkehr möglich! Gesetzliche Verankerung der Übergangsbegleitung Übergangsprogramme für Care Leaver: Wohnen + Bildung Selbstorganisation und Selbsthilfe von Care Leaver Kampagnen zur Verbesserung der Situation von Care Leaver Sensibilisierung für Anforderungen an den Übergang: Hearings mit Politik, Fachpraxis und Care Leaver Stärkung der Rechte von Care Leaver: Advocacy 21
Erkenntnisse Formale Orientierungen in der Hilfe Selbstständigkeit als formale Schlüsselkategorie Volljährigkeit als zeitliche Markierung Erwachsensein = alleine Wohnen? Strukturelle Ungleichheiten Unterschiedliche Hilfevoraussetzungen: Regionale Disparitäten Übergang an der Schnittstelle verschiedener Hilfesysteme Potentiale Bedeutung von Beziehungen und sozialen Netzwerken Bildung als Ressource 22
Von der Übergangs- zur Bildungsperpsektive Irritation in der deutschen Fachpraxis (vgl. quantitative Untersuchung) deutet auf ein diffuses Verhältnis von Bildung und Erziehungshilfen hin: die wollen doch sowieso alle nur Models und Erzieher werden ich bin seit 1984 im Geschäft und habe noch nie erlebt, dass jemand studiert hätte mir fällt da spontan ein junger Mann ein, der ein Pädagogikstudium absolviert Abitur machen ist oft schon schwer, da, wenn man fit ist, die Jugendhilfe oft nicht mehr greift
Bildung in der stationären Erziehungshilfe Erfahrungen von Care Leaver Akin: Und dann sollte halt erst mal der Sack zugemacht werden, dass ich dann irgendwie was in den Händen habe. Dass die selbst nicht so richtig an, an, an ihre Kinder da glauben so. Also das fand ich, fand ich echt schade.
Biographische Bedeutungen von Bildung 1. Bildung als Statusmanagement 2. Bildung zwischen Exklusivität und Normalität 3. Bildung als Rückzugsmöglichkeit 4. Bildung zur Schaffen von Eigenem 4. Bildung als erlebbare Wirkmächtigkeit 5. Bildung als Chance für soziale Anerkennung 6. Bildung als Konstanz in instabilen Verhältnissen
Entwicklung eines besseren Verständnisses für die Bedürfnisse von Care Leavern Formate für den Transfer in die Praxis Care Leaver Netzwerk Dialog mit der Fachpraxis: Workshops und Fachtage zur Übergangsbegleitung Beteiligungsworkshops mit Care Leavern
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Jugendhilfe und dann? Care Leaver haben Rechte! Forderungen an Politik und Fachpraxis 1. Die Rechte der Care Leaver müssen durchgesetzt werden! 2. Care Leaver für Care Leaver! Selbstorganisation stärken Förderung der Vernetzung und Selbstorganisation der Care Leaver! Unterstützung der Interessen von Care Leaver durch Lobbyarbeit! 3. Zuständig bleiben! Dienstleistungsinfrastruktur für Care Leaver schaffen 4. Bildungschancen sichern! 5. Die Jugendhilfe muss die veränderte Jugendphase anerkennen!
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit 29