Dr. Regine Winter Diskriminierungsschutz behinderter Menschen Der Einfluss der UN-BRK auf die arbeitsrechtliche Rechtsprechung 10. Hans-Böckler-Forum 1
Übersicht Dr. Regine Winter Art. 1 Abs. 1 UN-BRK Art. 27 UN-BRK Arbeit und Beschäftigung Abs. 1 Verpflichtung zu angemessenen Vorkehrungen Begriff Beispiele Rechtsprechung Beispiele der Einbindung in weitere Rechtsgrundlagen Näher zu einzelnen Fällen 2
UN-BRK Art. 1 Abs. 1 Zu den Menschen mit Behinderungen zählen Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können. 3
Art. 27 UN-BRK Arbeit und Beschäftigung Abs. 1 Recht auf Arbeit auf der Grundlage der Gleichberechtigung mit anderen Möglichkeit, den Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen, die frei gewählt oder frei angenommen wird Arbeit in einem offenen, integrativen/inklusiven/einbeziehenden und zugänglichen Arbeitsmarkt und Arbeitsumfeld Verpflichtung des Staates - Verwirklichung dieses Rechts auf Arbeit Art. 27 Abs. 1 Buchstabe a bis k beispielhafte Aufzählung ( unter anderem ) der vom Staat zu treffenden Maßnahmen 4
Art. 27 UN-BRK Arbeit und Beschäftigung Abs. 1 zb Art. 27 Abs. 1 Buchst. a Verbot der Diskriminierung aufgrund einer Behinderung in allen Angelegenheiten von Beschäftigung und Beruf, einschließlich Auswahlbedingungen Einstellungsbedingungen Beschäftigungsbedingungen Weiterbeschäftigung Beruflicher Aufstieg Sichere und gesunde Arbeitsbedingungen 5
Art. 27 UN-BRK Arbeit und Beschäftigung Abs. 1 zb Art. 27 Abs. 1 Buchst. b Förderung des Rechts von Menschen mit Behinderungen auf gerechte und günstige Arbeitsbedingungen, einschließlich Chancengleichheit gleichen Entgelts für gleichwertige Arbeit sowie sichere und gesunde Arbeitsbedingungen, einschließlich Schutz vor Belästigungen Abhilfe bei Missständen 6
Art. 27 UN-BRK Arbeit und Beschäftigung Abs. 1 zb Art. 27 Abs. 1 Buchst. c, d, g, h gleichberechtigt mit anderen Arbeitnehmer und Gewerkschaftsrechte ausüben können wirksamen Zugang zu Berufsausbildung und Weiterbildung Beschäftigung im öffentlichen Sektor Beschäftigung im privaten Sektor fördern 7
Art. 27 UN-BRK Arbeit und Beschäftigung Abs. 1 Art. 27 Abs. 1 Buchst. i sicherzustellen, dass am Arbeitsplatz angemessene Vorkehrungen für Menschen mit Behinderungen getroffen werden Art. 2 UAbs. 4 bedeutet angemessene Vorkehrungen 8
Art. 2 UAbs. 4 angemessene Vorkehrungen bedeutet angemessene Vorkehrungen notwendige und geeignete Änderungen und Anpassungen, die keine unverhältnismäßige oder unbillige Belastung darstellen und die, wenn sie in einem bestimmten Fall erforderlich sind, vorgenommen werden, um zu gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen alle Menschenrechte und Grundfreiheiten genießen oder ausüben können; 9
Rechtsprechung zur Verpflichtung zu angemessenen Vorkehrungen Dr. Regine Winter Beispiele aus der Rechtsprechung BAG 14. März 2006-9 AZR 411/05 (vor Inkrafttr. UN-BRK - 81 Abs. 4 SGB IX) BAG 19. Dezember 2013-6 AZR 190/12 - Kündigung - HIV-Infektion BAG 22. Mai 2014-8 AZR 662/13 - Entschädigung - Einstellung - Multiple Sklerose BAG 26. Juni 2014-8 AZR 547/13 - Entschädigung - Einstellung - Gehbehinderung LAG Berlin-Brandenburg 5. Juni 2014-26 Sa 427/14 - Kündigung - Arbeitsunfall - Verlust des Zeigefingers der rechten Hand (LAG Baden-Württemberg 17. März 2014-1 Sa 23/13 - anhängig: - 8 AZR 402/14 - Entschädigung - unterlassene Durchführung des Präventionsverfahrens nach 84 Abs. 1 SGB IX vor Ausspruch einer Kündigung) 10
BAG 14. März 2006-9 AZR 411/05 Rn. 18 f. noch ohne UN-BRK - vor Inkrafttreten - 81 Abs. 4 SGB IX Nach 81 Abs. 4 Satz 1 Nr. 5 SGB IX haben schwerbehinderte Menschen Anspruch auf Ausstattung ihres Arbeitsplatzes mit den erforderlichen technischen Arbeitshilfen. Der Arbeitgeber ist jedoch dann nicht zur Beschäftigung des schwerbehinderten Menschen verpflichtet, wenn ihm die Beschäftigung unzumutbar oder eine solche nur mit unverhältnismäßig hohen Aufwendungen verbunden ist, 81 Abs. 4 Satz 3 SGB IX. Aber: nicht für alle Menschen mit Behinderung; auf 81 ff. SGB IX kann sich nur berufen, wer schwerbehindert im Sinne von 2 Abs. 2 SGB IX ist oder gleichgestellt wurde ( 2 Abs. 3 SGB IX). 11
Beispiele der Einbindung in weitere Rechtsgrundlagen Richtlinie 2000/78/EG: Bekämpfung der Diskriminierung wegen einer Behinderung AGG: Benachteiligungen aus Gründen einer Behinderung zu verhindern oder zu beseitigen Behinderung keine Beschränkung auf Schwerbehinderung oder Gleichstellung! 12
Beispiele der Einbindung in weitere Rechtsgrundlagen EuGH 11. April 2013 - C-335/11 ua. [Ring, Skouboe Werge] - Rn. 30, 32: Die Bestimmungen des UN-BRK bilden seit dessen Inkrafttreten einen integrierenden Bestandteil der Unionsrechtsordnung. Die Richtlinie 2000/78 ist nach Möglichkeit in Übereinstimmung mit diesem Übereinkommen auszulegen. BAG 19. Dezember 2013-6 AZR 190/12 Rn. 53: Dadurch sind sie zugleich Bestandteil des - ggf. unionsrechtskonform auszulegenden - deutschen Rechts. 13
Beispiele der Einbindung in weitere Rechtsgrundlagen Art. 5 der Richtlinie 2000/78/EG Angemessene Vorkehrungen für Menschen mit Behinderung Um die Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes auf Menschen mit Behinderung zu gewährleisten, sind angemessene Vorkehrungen zu treffen. Das bedeutet, dass der Arbeitgeber die geeigneten und im konkreten Fall erforderlichen Maßnahmen ergreift, um den Menschen mit Behinderung den Zugang zur Beschäftigung, die Ausübung eines Berufes, den beruflichen Aufstieg und die Teilnahme an Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen zu ermöglichen, es sei denn, diese Maßnahmen würden den Arbeitgeber unverhältnismäßig belasten. Diese Belastung ist nicht unverhältnismäßig, wenn sie durch geltende Maßnahmen im Rahmen der Behindertenpolitik des Mitgliedstaates ausreichend kompensiert wird. 14
Beispiele der Einbindung in weitere Rechtsgrundlagen AGG Art. 5 der Richtlinie 2000/78/EG hat im AGG keine wortwörtliche Umsetzung erfahren angemessene Vorkehrungen für Menschen mit Behinderung kommen im Wortlaut des AGG nicht vor Damit wurde die Richtlinie nicht entsprechend umgesetzt und der staatlichen Verpflichtung aus Art. 27 Abs. 1 Buchst. i UN-BRK nicht genügt 15
Beispiele der Einbindung in weitere Rechtsgrundlagen Umgang der Rechtsprechung mit der fehlenden wortwörtlichen Umsetzung von Art. 5 der Richtlinie 2000/78/EG: Art. 5 der RL 2000/78/EG ist bei der Auslegung des Begriffs der angemessenen Anforderung in 8 Abs. 1 AGG (- zulässige unterschiedliche Behandlung wegen beruflicher Anforderungen -) einzubeziehen (soweit es um Menschen mit Behinderung geht) (- 8 AZR 662/13 Rn. 42; - 8 AZR 547/13 - Rn. 53) ist zudem im Wege einer unionsrechtskonformen Auslegung von 241 Abs. 2 BGB (- das Schuldverhältnis kann nach seinem Inhalt jeden Teil zur Rücksicht auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen des anderen Teils verpflichten -) zu berücksichtigen (- 6 AZR 190/12 - Rn. 53; - 8 AZR 662/13 Rn. 42; - 8 AZR 547/13 - Rn. 53) 16
BAG 19. Dezember 2013-6 AZR 190/12 - Rechtsprechung zur Verpflichtung zu angemessenen Vorkehrungen Dr. Regine Winter Eine Kündigung eines behinderten Arbeitnehmers wegen fehlender Einsatzmöglichkeiten ist nur wirksam, wenn der Arbeitgeber nicht imstande ist, das infolge der Behinderung vorliegende Beschäftigungshindernis durch angemessene Vorkehrungen zu beseitigen. Beurteilungsgrundlage für die Rechtfertigungsprüfung ist dabei nicht der ursprüngliche (ausgeschriebene) Arbeitsplatz, sondern der mit verhältnismäßigem Aufwand geänderte Arbeitsplatz. Kann der Arbeitsplatz mit zumutbaren Anstrengungen angepasst werden, ist der Arbeitnehmer für die geschuldete Tätigkeit geeignet. Nur dann, wenn der Arbeitnehmer zwar auf dem zumutbar angepassten Arbeitsplatz eingesetzt werden kann, aber trotzdem wegen der Behinderung schlechter gestellt wird, zb weil er nicht im Schichtbetrieb eingesetzt wird und deshalb eine Schichtzulage nicht erhält, kann noch eine Rechtfertigung dieser gleichwohl erfolgenden Benachteiligung nach 8 Abs. 1 AGG in Betracht kommen. Erst in einem solchen Fall muss der Arbeitgeber darlegen, dass und warum gerade im Hinblick auf den angepassten Arbeitsplatz ein berufsbezogener weiterer Grund eine Benachteiligung des Behinderten rechtfertigt. 17
BAG vom 22. Mai 2014 8 AZR 662/13 Rn. 42 Rechtsprechung zur Verpflichtung zu angemessenen Vorkehrungen Dr. Regine Winter Ein Arbeitgeber, der eine Nichteinstellung darauf stützt, dass der Arbeitnehmer wegen seiner Behinderung nicht eingesetzt werden könne, kann sich nur dann auf 8 Abs. 1 AGG (- zulässige unterschiedliche Behandlung wegen beruflicher Anforderungen -) berufen, wenn auch angemessene Vorkehrungen isv. Art. 5 der Richtlinie 2000/78/EG ivm. Art. 27 Abs. 1 Satz 2 Buchst. i, Art. 2 Unterabs. 4 UN-BRK ergriffen werden. Im Zusammenhang mit der Richtlinie 2000/78/EG ist der Begriff angemessene Vorkehrungen dahin gehend zu verstehen, dass er die Beseitigung der verschiedenen Barrieren umfasst, die die volle und wirksame Teilhabe der Menschen mit Behinderung am Berufsleben, gleichberechtigt mit den anderen Arbeitnehmern, behindern. Unterlässt der Arbeitgeber notwendige Vorkehrungen, die keine unverhältnismäßige oder unbillige Belastung darstellen, ist das in die gerichtliche Beurteilung mit einzubeziehen (vgl. EuGH 11. April 2013 - C-335/11 ua. [Ring, Skouboe Werge] - Rn. 49 ff., 66, 68; 11. Juli 2006 - C-13/05 [Chacón Navas] - Rn. 50; BAG 19. Dezember 2013-6 AZR 190/12 - Rn. 50 ff.). 18
LAG Berlin-Brandenburg 5. Juni 2014-26 Sa 427/14 Rechtsprechung zur Verpflichtung zu angemessenen Vorkehrungen Dr. Regine Winter Die Kündigung eines behinderten Arbeitnehmers wegen fehlender Einsatzmöglichkeiten ist nur wirksam, wenn der Arbeitgeber nicht imstande ist, das infolge der Behinderung vorliegende Beschäftigungshindernis durch angemessene Vorkehrungen zu beseitigen. Dies hat der Arbeitgeber darzulegen. Beurteilungsgrundlage für die Rechtfertigungsprüfung ist dabei nicht der ursprüngliche Arbeitsplatz, sondern ein mit verhältnismäßigem Aufwand geänderter Arbeitsplatz. 19
BAG 26. Juni 2014 8 AZR 547/13 Rn. 53 Rechtsprechung zur Verpflichtung zu angemessenen Vorkehrungen Dr. Regine Winter In der Bewerbungssituation nachzufragen, welche Einschränkungen sich aus einer in den Bewerbungsunterlagen angegebenen Behinderung ergeben, ist unter der Voraussetzung unbedenklich, dass damit die Verpflichtung zu angemessenen Vorkehrungen (Art. 5 der Richtlinie 2000/78/EG ivm. Art. 27 Abs. 1 Satz 2 Buchst. i, Art. 2 Unterabs. 4 UN-BRK) zum Tragen kommt. Eine solche, besonderen Umständen geschuldete Nachfrage im Bewerbungsgespräch bezogen auf eine vom Bewerber selbst angeführte Schwerbehinderung ist nicht zu verwechseln mit der Frage nach der (Schwer)behinderung (dazu BAG 16. Februar 2012-6 AZR 553/10 - Rn. 11 ff., BAGE 141, 1) oder der Anerkennung als Schwerbehinderte(r) (dazu BAG 7. Juli 2011-2 AZR 396/10 - Rn. 17). 20
BAG 26. Juni 2014 8 AZR 547/13 Rn. 54 Rechtsprechung zur Verpflichtung zu angemessenen Vorkehrungen Dr. Regine Winter Dabei können im Rahmen des AGG auch Verpflichtungen aus 81 Abs. 4 Satz 1 Nr. 4 und Nr. 5 SGB IX und zur Gleichstellung und Barrierefreiheit nach dem Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen (Behindertengleichstellungsgesetz - BGG) von Bedeutung sein. Bei der Beurteilung einer solchen Nachfrage im Zusammenhang mit einer Behinderung ist sicherzustellen, dass die Verwirklichung des mit der Richtlinie 2000/78/EG verfolgten Ziels nicht beeinträchtigt wird (insoweit übertragbar ua. EuGH 19. April 2012 - C-415/10 - [Meister] Rn. 40). Die Frage muss deshalb einen objektiven - und wünschenswerterweise zu Beginn der Nachfrage darzulegenden - Anlass haben. Beispielsweise kann es um die Klärung gehen, ob ergänzende Maßnahmen der Herstellung von Barrierefreiheit dienen können, um die tatsächliche Arbeitsaufnahme zu ermöglichen, etwa der Einbau von weiteren Handläufen im Treppenhaus oder die Bereitstellung eines ebenerdigen Arbeitsraums außerhalb der Abteilung. Dabei ist es von der Würdigung der Umstände im Einzelfall abhängig, ob eine Frage im Hinblick auf einen Bedarf an Hilfsmitteln oder baulichen Maßnahmen ein Indiz für eine Benachteiligung wegen der Behinderung darstellt. 21
Zum Schluss Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! Dr. Regine Winter 22