Anlage zu Newsletter-Nr. 058-2014 Erläuternde Hinweise: Sachgrundbefristung und institutioneller Rechtsmissbrauch In der Praxis stellt sich vermehrt die Frage, wann in Fällen von Kettenbefristungen mit dem Sachgrund der Vertretung von einer unwirksamen Befristung aufgrund eines rechtsmissbräuchlichen Verhaltens des Arbeitgebers gesprochen werden kann. Hintergrund sind verschiedene Entscheidungen des BAG, die sich mit dieser Frage befassen, zuletzt im Urteil des BAG vom 19. Februar 2014 7 AZR 260/12. Zuvor hatte sich das BAG in einem Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH vom 17. November 2010 7 AZR 443/09 (A), auf das der EuGH mit Urteil vom 26. Januar 2012 C 586/10 entschieden hat, sowie mit Urteilen vom 18. Juli 2012 7 AZR 443/09 und 7 AZR 783/10 mit dieser Frage auseinandergesetzt. In dem Vorabentscheidungsersuchen vom 17. November 2010 hatte das BAG beim EuGH angefragt, ob und in welcher Weise die nationalen Gerichte bei der ihnen obliegenden Missbrauchskontrolle in Fällen der mit dem Sachgrund der Vertretung gerechtfertigten Befristung die Anzahl und die Dauer der bereits in der Vergangenheit mit demselben Arbeitnehmer geschlossenen befristeten Arbeitsverträge zu berücksichtigen haben. Hierauf hat der EuGH mit Urteil vom 26. Januar 2012 entschieden, dass sich die nationalen Gerichte bei der Befristungskontrolle nicht nur auf die Prüfung des geltend gemachten Sachgrunds der Vertretung beschränken dürfen. Vielmehr obliege es den Gerichten, stets alle Umstände des Einzelfalls zu prüfen und dabei namentlich die Zahl der mit derselben Person oder zur Verrichtung der gleichen Arbeit geschlossenen aufeinanderfolgenden befristeten Verträge zu berücksichtigen, um auszuschließen, dass Arbeitgeber missbräuchlich auf befristete Arbeitsverträge oder -verhältnisse zurückgreifen, mögen sie auch augenscheinlich zur Deckung des Vertretungsbedarfs geschlossen worden sein. Das BAG hat diese Aussagen des EuGH zur Grundlage seines Urteils vom 18. Juli 2012 7 AZR 443/09 gemacht und dabei festgelegt, dass diese zusätzliche Prüfung der Befristungskontrolle nach 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 TzBfG im deutschen Recht nach den Grundsätzen des institutionellen Rechtsmissbrauchs ( 242 BGB) vorzunehmen sei. 1. Rechtsmissbrauchskontrolle als zusätzliche Befristungshürde An dem von der Rechtsprechung entwickelten Grundsatz, dass in einem Befristungskontrollverfahren grundsätzlich nur die letzte vorbehaltlos vereinbarte Befristungsabrede als Sachgrundbefristung auf ihre Wirksamkeit geprüft wird, hat sich nichts geändert. Mit der nachfolgend skizzierten 1
Rechtsprechung zum institutionellen Rechtsmissbrauch kommt aber eine zusätzliche Hürde für den Arbeitgeber im Befristungsprozess hinzu. Bei mehrfachen Vertretungsbefristungen wird neben dem eigentlichen Sachgrund ggf. geprüft ob trotz des eigentlich nach wie vor gegebenen Sachgrundes wegen der Gesamtbefristungsdauer oder Häufigkeit ein institutioneller Rechtsmissbrauch vorliegt. 2. Befristungsgrenzen nach 14 Abs. 2 Satz 1 TzBfG a) Überprüfungsgrundsätze in Anlehnung an 14 Abs. 2 Satz 1 TzBfG Bei der Prüfung der Gesamtdauer der befristeten Verträge und der Anzahl der Vertragsverlängerungen greift das BAG in seinen beiden Urteilen vom 18. Juli 2012 auf die gesetzlichen Wertungen des 14 Abs. 2 Satz 1 TzBfG für die sachgrundlose Befristung zurück, die das BAG in seinem Urteil vom 19. Februar 2014 nochmals bestätigt hat. Demnach handelt es sich bei einer Höchstdauer von zwei Jahren bei maximal dreimaliger Verlängerungsmöglichkeit um einen nach Auffassung des Gesetzgebers unter allen Umständen unproblematischen Bereich der Befristung(en). Für die Überschreitung dieser Grenzen, gemeint sind die Gesamtdauer der Befristung von höchstens zwei Jahren und die maximale Anzahl von drei Vertragsverlängerungen nach 14 Abs. 2 Satz 1 TzBfG, gilt nach der Rechtsprechung des BAG Folgendes: - Werden die zuvor bezeichneten Grenzen nicht um ein Mehrfaches überschritten, besteht regelmäßig kein gesteigerter Anlass zur Missbrauchskontrolle. - Werden die zuvor bezeichneten Grenzen erheblich überschritten, lässt dies den Schluss auf eine missbräuchliche Gestaltung zu. - Werden die zuvor bezeichneten Grenzen alternativ, d.h. entweder in Bezug auf die Gesamtdauer von höchstens zwei Jahren oder die maximale Anzahl von drei Vertragsverlängerungen, oder sogar kumulativ, d.h. sowohl in Bezug auf die Gesamtdauer von höchstens zwei Jahren und die maximale Anzahl von drei Vertragsverlängerungen, mehrfach überschritten, ist eine umfassende Missbrauchskontrolle geboten, in deren Rahmen es Sache des Arbeitnehmers ist, noch weitere für einen Missbrauch sprechende Umstände vorzutragen. - Werden die zuvor bezeichneten Grenzen alternativ oder sogar kumulativ im zuvor bezeichneten Sinn in besonders gravierendem Ausmaß überschritten, kann eine missbräuchliche Ausnutzung der an sich eröffneten Möglichkeit zur Sachgrundbefristung indiziert sein. In einem solchen Fall hat allerdings der Arbeitgeber regelmäßig die 2
Möglichkeit, die Annahme des indizierten Gestaltungsmissbrauchs durch den Vortrag besonderer Umstände zu entkräften. Ohne dass sich der Rechtsprechung entnehmen lässt, wann genau von einer mehrfachen, einer erheblichen oder einer besonders gravierenden Überschreitung der Grenzen des 14 Abs. 2 Satz 1 TzBfG gesprochen werden kann, lassen sich aus ihr in quantitativer Hinsicht zumindest folgende Orientierungshilfen ableiten: - Bei einer Dauer von insgesamt sieben Jahren und neun Monaten bei vier befristeten Arbeitsverhältnissen sowie keinen weiteren vom Arbeitnehmer vorzutragenden Umständen hat das BAG keine Anhaltspunkte für einen Missbrauch gesehen (Urteil vom 18. Juli 2012). - Bei einer Gesamtdauer von mehr als elf Jahren und einer Anzahl von 13 Befristungen sowie einer gleichbleibenden Beschäftigung zur Deckung eines ständigen Vertretungsbedarfs ist das BAG davon ausgegangen, dass die rechtsmissbräuchliche Ausnutzung der an sich eröffneten Möglichkeit der Vertretungsbefristung indiziert sei, vom Arbeitgeber aber noch widerlegt werden könne (Urteil vom 18. Juli 2012). Das BAG hatte den Fall zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen. Dort wurde der Rechtsstreit durch das Angebot des beklagten Landes auf eine Dauerbeschäftigung der Klägerin vergleichsweise beendet. Konkretere Ausführungen zum institutionellen Rechtsmissbrauch sind dadurch ausgeblieben. - Bei einer Gesamtdauer der befristeten Vertragsgestaltung von über 13 Jahren hat das BAG die in 14 Abs. 2 Satz 1 TzBfG für die sachgrundlose Befristung bezeichneten Grenzen hinsichtlich der Höchstdauer von zwei Jahren um ein Mehrfaches als überschritten und die Missbrauchskontrolle als veranlasst angesehen. Zu der Anzahl der insgesamt geschlossenen befristeten Verträge hat das BAG keine Ausführungen gemacht und den Rechtsstreit insgesamt an das LAG zurückverwiesen (Urteil vom 19. Februar 2014). Die neuerliche Entscheidung des LAG steht noch aus. b) Umstände des Einzelfalls Daneben sind für die Beurteilung eines institutionellen Rechtsmissbrauchs nach der Rechtsprechung des BAG folgende einzelfallabhängige und nicht abschließende Umstände heranzuziehen: - Beschäftigung stets auf demselben Arbeitsplatz mit denselben Aufgaben oder auf wechselnden Arbeitsplätzen mit unterschiedlichen Aufgaben. 3
- Einbeziehung eines ständigen Vertretungsbedarfs im Rahmen einer umfassenden Missbrauchskontrolle in die Gesamtwürdigung. - Bei einem bereits langjährig beschäftigten Arbeitnehmer wird trotz der tatsächlich vorhandenen Möglichkeit einer dauerhaften Einstellung immer wieder auf befristete Verträge zurückgegriffen, was bei zunehmender Anzahl und Dauer der jeweils befristeten Beschäftigung eines Arbeitnehmers eine missbräuchliche Ausnutzung der dem Arbeitgeber an sich rechtlich eröffneten Befristungsmöglichkeit darstellen kann. - Wird trotz eines tatsächlich zu erwartenden langen Vertretungsbedarfs in rascher Folge mit demselben Arbeitnehmer eine Vielzahl kurzfristiger Arbeitsverhältnisse vereinbart, liegt die Gefahr des Gestaltungsmissbrauchs näher, als wenn die vereinbarte Befristungsdauer zeitlich nicht hinter dem prognostizierten Vertretungsbedarf zurückbleibt. - Bei der Gesamtwürdigung können daneben zahlreiche weitere Gesichtspunkte wie z. B. die branchenspezifischen Besonderheiten etwa bei Saisonbetrieben eine Rolle spielen. - Auch grundrechtlich gewährleistete Freiheiten (wie die Meinungsfreiheit in Art. 5 Abs. 1 GG und die Freiheit von Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre in Art. 5 Abs. 3 GG) können bei der Gesamtwürdigung beachtlich sein. c) Erheblichkeit von Unterbrechungszeiten Im Rahmen der vom Tatsachengericht durchzuführenden Gesamtwürdigung sind grundsätzlich auch frühere vor einer ununterbrochenen Befristungskette abgeschlossene Arbeitsverhältnisse zu berücksichtigen, wobei es darauf ankommt, ob es sich im Ergebnis jeweils um erhebliche oder unerhebliche Unterbrechungszeiten handelt. Zur zeitlichen Abgrenzung zwischen erheblichen und unerheblichen Unterbrechungszeiten für die Missbrauchskontrolle einer Sachgrundbefristung hat sich das BAG anders als bei der sachgrundlosen Befristung bislang nicht geäußert. Es wird weiter zu beobachten sein, wie sich die Rechtsprechung des BAG hierzu entwickelt. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auf ein Urteil des BAG vom 10. Juli 2013 7 AZR 761/11, mit dem es einen Rechtsstreit an das LAG Köln zur weiteren Sachverhaltsaufklärung und Entscheidung zurückverwiesen hat, weil das LAG u.a. Vorbeschäftigungszeiten im Rahmen einer unterbrochenen Befristungskette (davon einmal als längste Unterbrechungszeit 19 Monate) nicht berücksichtigt hat. Die Entscheidung des LAG steht noch aus. 4
3. Fazit Bei Sachgrundbefristungen zur Vertretung sind sowohl die Anzahl der Befristungen als auch deren Gesamtdauer im Rahmen der Missbrauchskontrolle zu berücksichtigen. Allgemeingültige nähere quantitative Angaben, wo die zeitlichen und/oder zahlenmäßigen Grenzen für einen Missbrauch genau liegen, sind der Rechtsprechung bislang nicht zu entnehmen, ebenso wenig wie eine abschließende Aufzählung der im Einzelfall zu berücksichtigenden Umstände. Immerhin ergeben sich aus der bisherigen Rechtsprechung aber bereits grobe Orientierungshilfen, die bei der Entscheidung über die Fortsetzung bestehender Sachgrundbefristungen beachtet werden sollten. Denn klar ist heute, dass selbst dann, wenn ein Sachgrund weiterhin gegeben ist, mit zunehmender Anzahl von Vertretungsbefristungen und zunehmender Gesamtdauer der befristeten Beschäftigungen das arbeitsgerichtliche Risiko steigt. Bei einer Befristungsdauer von bis zu sieben Jahren dürfte eine Missbrauchskontrolle regelmäßig zugunsten des Arbeitgebers ausgehen, soweit nicht seitens des Beschäftigten besondere Umstände vorgetragen werden. Eine darüber hinausgehende Gesamtbefristungsdauer mit insbesondere unterjährigen Befristungen kann demgegenüber auf der Grundlage der bisherigen Rechtsprechung im Falle einer arbeitsgerichtlichen Auseinandersetzung problematisch werden. Da das BAG im Zusammenhang mit der institutionellen Rechtsmissbrauchskontrolle bei der Prüfung der Gesamtdauer der befristeten Verträge und der Anzahl der Vertragsverlängerungen auf die gesetzlichen Wertungen des 14 Abs. 2 Satz 1 TzBfG für die sachgrundlose Befristung als Anknüpfungspunkt zurückgegriffen hat, spricht u.e. vorbehaltlich einer abweichenden Rechtsprechung viel dafür, dass auch bei der Sachgrundbefristung in entsprechender Anwendung des Urteils des BAG vom 6. April 2011 7 AZR 716/09 bei einer mindestens dreijährigen Unterbrechung des Arbeitsverhältnisses frühere Befristungen unbeachtlich geworden sind. 5