Fehlende Grundkompetenzen? Die Schweiz braucht eine wirksame Armutspolitik Marianne Hochuli Leiterin Grundlagen Caritas Schweiz
Fakten & Verpflichtungen Trotz hervorragender Wirtschaftslage: 615 000 Menschen sind von Armut betroffen. Weitere 600 000 leben in prekären Verhältnissen. Seit zwei Jahren steigt die Armutsquote, besonders jene der Kinder. Diese Entwicklung widerspricht: Bundesverfassung, Artikel 12 Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung 2 Die Schweiz braucht eine wirksame Armutspolitik
Wer ist von Armut betroffen? Alleinerziehende Familien mit drei und mehr oder kleinen Kindern Menschen mit geringer Ausbildung Unter den Erwachsenen ohne nachobligatorische Bildung ist jede Achte von Armut betroffen. bei Personen mit Tertiärabschluss nur jede zwanzigste. 3
Zusammenhang von Armut und Bildung unbestritten Mehr Bildung = weniger Armut. Diese Erkenntnis ist nicht neu, sie wurde auch vom nationalen Bundesprogramm gegen Armut in zahlreichen Studien und innovativen Projekten bestätigt. Auch vom Bildungsbericht 2018 hervorgehoben. Die zentralen Herausforderungen liegen heute in einer Verbesserung der Chancengerechtigkeit in der Praxis 4
Ungleichheit verstärkt sich während des Bildungsverlaufs Armutsprävention wird vernachlässigt: Zugang zur Frühen Förderung nicht gewährleistet Die Volksschule reduziert ungleiche Startchancen mangelhaft Nicht alle erreichen einen Berufsabschluss Möglichkeiten zur Nachholbildung werden nicht ausgeschöpft Für eine Nachholbildung sind Voraussetzungen nicht gegeben: Grundkompetenzen sind nicht ausreichend 5
Wissen über fehlende Grundkompetenzen Datenlage ist ungenügend 800 000 Erwachsene haben Mühe, einfachen Text zu verstehen 430 000 Erwachsene Schwierigkeiten, einfache Rechenaufgaben zu lösen 1.5 Mio Menschen im erwerbsfähigen Alter: keine oder ungenügend IKT-Grundkompetenzen 6
Leben mit ungenügenden Grundkompetenzen Alltägliche Handlungen ein riesiges Problem Mit Scham behaftet Teilnahme am sozialen und beruflichen Leben ist stark eingeschränkt 7
Arm sein bedeutet Einkommen unter dem sozialen Existenzminimum Eine prekäre Lebenslage: ungeeignete Wohnung, keine genügende berufliche Ausbildung, keinen festen oder nur einen prekären Arbeitsplatz, wenige soziale Beziehungen es mangelt an konkreten Handlungsperspektiven und Lebenschancen 8
Fehlende Grundkompetenzen: wo passierts? In der Volksschule: fehlende Begleitung? Abbruch der Lehre oder Abschlussprüfung nicht bestanden: fehlende Begleitung? Im Laufe der Berufskarriere verloren: achten Arbeitgeber zu wenig auf die Weiterbildung? Nicht das Bildungssystem in der Schweiz durchlaufen: zu wenig Angebote und Förderung? 9
Weiterbildung: wer hat, dem wird gegeben Bis anhin bleibt Weiterbildung hauptsächlich gut qualifizierten Personen vorbehalten. 9% der Schweizer Bevölkerung (also fast jede 10. Person) würden sich gerne (weiter)bilden, können dies aber nicht. Überdurchschnittlich betroffen sind Personen ohne nachobligatorische Ausbildung (14%). Der Gap zwischen Hoch- und Niedrigqualifizierten bezüglich Teilnahme an Weiterbildungen ist in der Schweiz sehr hoch. 10
Mit fehlender Grundkompetenzen in der Sozialhilfe 190 000 über 18-jährige beziehen derzeit Sozialhilfe. Die Hälfte von ihnen besitzt keinen Berufsabschluss. Fast ein Drittel der Sozialhilfebeziehenden besitzt ungenügende Grundkompetenzen. Paradigmenwechsel gefordert: Arbeit dank Bildung statt Integration vor Rente 11
Menschen mit fehlenden Grundkompetenzen im Asylbereich Junge Flüchtlinge und Vorläufig Aufgenommene ab 16 Jahren können das hiesige Schulsystem nicht mehr durchlaufen Integrationsagenda muss Dogmen fallen lassen Erwachsenengerechte Schulangebote zur Verfügung stellen Auf die individuelle Situation besser eingehen 12
Bessere Rahmenbedingungen und sozialpolitische Massnahmen Existenzsicherung: Familienzulagen, Familien- EL, Individuelle Prämienverbilligung Bessere Vereinbarung von Beruf und Familie: Tagesbetreuungsstrukturen und Frühe Förderung Verbesserte Wohnsituationen 13
Fehlende Verbindlichkeit in der Armutspolitik Kantonale Ebene Nur 11 Kantone verfassen Armutsberichte Keine nummerischen Zielvorgaben zur Armutsbekämpfung Kein ganzheitlicher Blick und keine kohärente Armutspolitik Bundesebene Nationales Armutsprogramm 2014-2018: Wertvolle Grundlagen und Vernetzungsarbeit. Entscheid April 2018: Trotz ausgewiesenem Handlungsbedarf verzichtet der Bund auf ein nationales Armutsmonitoring und reduziert sein finanzielles Engagement auf ein Minimum. 14 Die Schweiz braucht eine wirksame Armutspolitik
Agenda 2030 verlangt nach einer Armutsstrategie: Armut halbieren Erstes Ziel der Agenda 2030 für eine nachhaltige Entwicklung: die Armut in der Schweiz um die Hälfte zu senken. Wichtige Voraussetzung dafür: dass alle Menschen in der Schweiz die Chance erhalten, sich auch als Erwachsene wichtige Grundkompetenzen anzueignen oder diese wiederzuerlangen. Grundkompetenzen sind ein wichtiges Element, brauchen aber auch die entsprechenden Rahmenbedingungen. 15