Fehlende Grundkompetenzen? Die Schweiz braucht eine wirksame Armutspolitik. Marianne Hochuli Leiterin Grundlagen Caritas Schweiz

Ähnliche Dokumente
Armut in der Schweiz. Kappeler Kirchentagung Benjamin Diggelmann, Projektmitarbeiter Fachstelle Sozialpolitik, Caritas Schweiz

Neue Perspektiven öffnen

Nationales Programm zur Prävention und Bekämpfung von Armut

Armut im Kanton Bern Quelle: 2. Sozialbericht 2010 der Gesundheits- und Fürsorgedirektion Bern, S. 6-9

Familie sein ein Armutsrisiko in der Schweiz. Luzern, Bettina Fredrich, Caritas Schweiz

Keine Aussteuerung für über 55-Jährige Alternativen zur Sozialhilfe

Nationale Konferenz gegen Armut

Befähigen statt Sanktionieren neue Wege zur beruflichen Integration. Raphael Golta, Vorsteher Sozialdepartement Stadt Zürich Bern, 15.

Die Schweiz braucht eine wirksame Armutspolitik

Betriebe als Chancengeber in der Nachholbildung

Arbeit statt Sozialhilfe

Mediendienst. 17. November Aus Anlass der Nationalen Armutskonferenz vom 22. November 2016

Qualifizierung Erwachsener: Grundkompetenzen und Berufsabschluss

Berufsbildung für Erwachsene

Grundsatz. Auftrag. Anspruchsgruppen

Das Weiterbildungsgesetz - eine Chance für den Kanton Zürich

Sozialhilfequote steigt wieder auf 1,1 Prozent

Armut und Verschuldung in der Schweiz

a k r o t e a c h w i r b i l d e n akrotea.ch GmbH, November

Fachtagung «Mit Innovation gegen Armut. Projekte aus Kantonen, Städten und Gemeinden» Basel, 25. Januar 2016 Silvan Surber

Nationales Programm zur Prävention und Bekämpfung der Armut

Hochwertige und chancengerechte Bildung für alle. Katja Römer Pressesprecherin Deutsche UNESCO-Kommission

Betriebe als Chancengeber in der Nachholbildung

LUSTAT News 27. November 2018 Medienmitteilung. Sozialhilfe im Kanton Luzern Sozialhilfequote steigt auf 2,5 Prozent

Personen über 55 Jahren in der Sozialhilfe: Fakten und Trends 1

LUSTAT News 17. Dezember 2015 Medienmitteilung. Sozialhilfe im Kanton Obwalden Weniger neue Sozialhilfefälle

Knappe Mittel im Alter

Armut in Deutschland

LUSTAT News 27. November 2018 Medienmitteilung. Sozialhilfe im Kanton Obwalden Sozialhilfequote steigt auf 1,2 Prozent

Herausforderungen in der Integration junger erwachsenen Migrantinnen und Migranten

Eidgenössische Volksinitiative. «Familien stärken! Steuerfreie Kinder- und Ausbildungszulagen» FAQ. Deine Stimme zählt!

«Arbeit dank Bildung» «Un emploi grâce à une formation»

Erster Armuts- und Reichtumsbericht Baden-Württemberg

Kinderarmut überwinden: Es gibt genügend Analysen gefordert ist jetzt die Politik

Pressespiegel

Agenda 2030: Handlungsbedarf für die Weiterbildung in der Schweiz?

Volkswirtschaftliche Kosten der Leseschwäche in der Schweiz

LUSTAT News 15. November 2016 Medienmitteilung. Sozialhilfe im Kanton Luzern Sozialhilfequote verharrt bei 2,2 Prozent

zur Erarbeitung dieser Armutsstrategie. Er zeigt auf, wie Armut von den Nach diesem allgemeinen Teil werden drei exemplarische Lebensbereiche

«Gesamtschau, Entwicklung und Trends der Arbeitsintegration im Bereich Migration»

Regionale Armutsberichterstattung. Beispiel Landkreis Kelheim

BIELER TAGUNG Mittwoch, 8. März 2017, Kongresshaus Biel

Sachdokumentation: Signatur: DS 765

Erwerbstätigkeit im 21. Jahrhundert. Frauen im Focus. Brauchen sie eine andere Arbeitswelt?

KANTONALES INTEGRATIONSPROGRAMM 2: Zielsetzungen im Bereich Bildung und Arbeit für Erwachsene ab 25 Jahren

Die Rolle der Städte im neuen Asyl- Management Cesla Amarelle

Sozialhilfequote seit 5 Jahren stabil bei 1,7 Prozent

Integrationsagenda Schweiz

Sozialhilfequote bleibt stabil bei 1,7 Prozent

Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung

Armutsgefährdungsquoten von Migranten (Teil 1)

Auswirkungen der Sozialpolitik auf die Gemeinden

Case Management Berufsbildung Kanton Zug. Kennzahlenbericht (Stand ) Weitere Information

Pilotprojekt (SEM/Büro KEK):

Berufsabschluss für Erwachsene

Mehr Dossiers mit langer Bezugsdauer abgeschlossen

Familien im Rhein-Sieg-Kreis Sozialbericht der Wohlfahrtsverbände im Rhein-Sieg-Kreis. Wohlfahrtsverbände im Rhein-Sieg-Kreis

Förderung der Grundkompetenzen in der Sozialhilfe

Erster Armuts- und Reichtumsbericht Baden-Württemberg

Studie zur Bekämpfung der Armut im Kanton Basel-Stadt

BULLETIN DER BUNDESREGIERUNG

Inputreferat zum Thema Bildung

Anlagenbericht der Landesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (LAG FW) Bericht Thema: Alleinerziehende in Niedersachsen

Nationales Programm gegen Armut: Bilanz der Programmpartner

Medienmitteilung. Leicht erhöhte Sozialhilfequote im Kanton Glarus. Die Schweizerische Sozialhilfestatistik im Kanton Glarus 2014

Qualifiziert, aber kaum beachtet

Welcher Reformbedarf besteht bei den Sozialversicherungen?

Berufsbildung für Erwachsene

Ökonomische Lage und Armutsgefährdung von Familien

Agenda der Bundesregierung für das SGB II Dr. Klaus Bermig, BMAS

Unter Spardruck: Kantonale Prämienverbilligungen

Nichtbezug von Sozialhilfe Eine Administrativdaten basierte Analyse für den Kanton Bern

Vorbemerkungen. Was heisst Armut? (I) Dekade der Armutsbekämpfung

"Wer zahlt was?" 49. Alterskonferenz der Stadt Opfikon. Heidi Lang Chekol, Leiterin Bereich Zusatzleistungen Gerd Bolliger, Leiter Sozialabteilung

LUSTAT News 15. November 2016 Medienmitteilung. Sozialhilfe im Kanton Uri Sozialhilfequote sinkt auf 1,1 Prozent

Report Zahlen und Informationen zur Entwicklung der Sozialhilfe in der Stadt Bern vom 1. Januar bis 31. Dezember 2014

Ergänzungsleistungen für ältere Arbeitnehmende (ELA)

Bildungswert der Praxis Standortbestimmung Berufsbildungspolitik

Beschäftigung am Existenzminimum. Armut und prekäre Beschäftigung im Land Bremen

Zukunft des Europäischen Sozialfonds in Berlin

Arm an Einkommen arm an Beteiligungschancen?

Arme Kinder im Sozialstaat?! (Ev.- Akademie Meißen Juni 2012) Warum bewegt sich nur so wenig?! Vortrag: Prof. Dr.

Kinderarmut ganzheitlich denken

KONTINUIERLICHE FÖRDERUNG VON BILDUNGSCHANCEN

Fachtagung Rheine. 23. Juni 2016

Verteilung von Arm und Reich in der BRD. im Hinblick auf Kinder und Jugendliche

Studie Reduktion der Abhängigkeit Jugendlicher und junger Erwachsener von der Sozialhilfe

Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung

Beobachtungen der Caritas zur Armutspolitik 2016 Den Sozialabbau korrigieren Armut in der Schweiz überwinden

Juni Stellungnahme Kindergrundsicherung Jedes Kind muss dem Staat gleich viel wert sein! Daten und Fakten

Integration als Verbundaufgabe: Rolle von Bund, Kantonen und Gemeinden

Vortragsreihe Berufsbildung für Erwachsene Berufsabschluss für Erwachsene aus der Sozialhilfe: Beispiele aus zwei Kantonen. Basel, 12.

Chancengleichheit. Frühe Förderung als Armutsprävention. Fachtagung - Gesund ins Leben starten Prävention durch frühe Förderung

_Factsheet Sozialalmanach Wohnen

IIZ auf nationaler Ebene: Visionen und Arbeiten 2017 und 2018

STRATEGIEN ZUR ARMUTSBEKÄMPFUNG IN DER SCHWEIZ AUS POLITISCHER SICHT. Marina Carobbio Guscetti, SP-Nationalrätin

Transkript:

Fehlende Grundkompetenzen? Die Schweiz braucht eine wirksame Armutspolitik Marianne Hochuli Leiterin Grundlagen Caritas Schweiz

Fakten & Verpflichtungen Trotz hervorragender Wirtschaftslage: 615 000 Menschen sind von Armut betroffen. Weitere 600 000 leben in prekären Verhältnissen. Seit zwei Jahren steigt die Armutsquote, besonders jene der Kinder. Diese Entwicklung widerspricht: Bundesverfassung, Artikel 12 Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung 2 Die Schweiz braucht eine wirksame Armutspolitik

Wer ist von Armut betroffen? Alleinerziehende Familien mit drei und mehr oder kleinen Kindern Menschen mit geringer Ausbildung Unter den Erwachsenen ohne nachobligatorische Bildung ist jede Achte von Armut betroffen. bei Personen mit Tertiärabschluss nur jede zwanzigste. 3

Zusammenhang von Armut und Bildung unbestritten Mehr Bildung = weniger Armut. Diese Erkenntnis ist nicht neu, sie wurde auch vom nationalen Bundesprogramm gegen Armut in zahlreichen Studien und innovativen Projekten bestätigt. Auch vom Bildungsbericht 2018 hervorgehoben. Die zentralen Herausforderungen liegen heute in einer Verbesserung der Chancengerechtigkeit in der Praxis 4

Ungleichheit verstärkt sich während des Bildungsverlaufs Armutsprävention wird vernachlässigt: Zugang zur Frühen Förderung nicht gewährleistet Die Volksschule reduziert ungleiche Startchancen mangelhaft Nicht alle erreichen einen Berufsabschluss Möglichkeiten zur Nachholbildung werden nicht ausgeschöpft Für eine Nachholbildung sind Voraussetzungen nicht gegeben: Grundkompetenzen sind nicht ausreichend 5

Wissen über fehlende Grundkompetenzen Datenlage ist ungenügend 800 000 Erwachsene haben Mühe, einfachen Text zu verstehen 430 000 Erwachsene Schwierigkeiten, einfache Rechenaufgaben zu lösen 1.5 Mio Menschen im erwerbsfähigen Alter: keine oder ungenügend IKT-Grundkompetenzen 6

Leben mit ungenügenden Grundkompetenzen Alltägliche Handlungen ein riesiges Problem Mit Scham behaftet Teilnahme am sozialen und beruflichen Leben ist stark eingeschränkt 7

Arm sein bedeutet Einkommen unter dem sozialen Existenzminimum Eine prekäre Lebenslage: ungeeignete Wohnung, keine genügende berufliche Ausbildung, keinen festen oder nur einen prekären Arbeitsplatz, wenige soziale Beziehungen es mangelt an konkreten Handlungsperspektiven und Lebenschancen 8

Fehlende Grundkompetenzen: wo passierts? In der Volksschule: fehlende Begleitung? Abbruch der Lehre oder Abschlussprüfung nicht bestanden: fehlende Begleitung? Im Laufe der Berufskarriere verloren: achten Arbeitgeber zu wenig auf die Weiterbildung? Nicht das Bildungssystem in der Schweiz durchlaufen: zu wenig Angebote und Förderung? 9

Weiterbildung: wer hat, dem wird gegeben Bis anhin bleibt Weiterbildung hauptsächlich gut qualifizierten Personen vorbehalten. 9% der Schweizer Bevölkerung (also fast jede 10. Person) würden sich gerne (weiter)bilden, können dies aber nicht. Überdurchschnittlich betroffen sind Personen ohne nachobligatorische Ausbildung (14%). Der Gap zwischen Hoch- und Niedrigqualifizierten bezüglich Teilnahme an Weiterbildungen ist in der Schweiz sehr hoch. 10

Mit fehlender Grundkompetenzen in der Sozialhilfe 190 000 über 18-jährige beziehen derzeit Sozialhilfe. Die Hälfte von ihnen besitzt keinen Berufsabschluss. Fast ein Drittel der Sozialhilfebeziehenden besitzt ungenügende Grundkompetenzen. Paradigmenwechsel gefordert: Arbeit dank Bildung statt Integration vor Rente 11

Menschen mit fehlenden Grundkompetenzen im Asylbereich Junge Flüchtlinge und Vorläufig Aufgenommene ab 16 Jahren können das hiesige Schulsystem nicht mehr durchlaufen Integrationsagenda muss Dogmen fallen lassen Erwachsenengerechte Schulangebote zur Verfügung stellen Auf die individuelle Situation besser eingehen 12

Bessere Rahmenbedingungen und sozialpolitische Massnahmen Existenzsicherung: Familienzulagen, Familien- EL, Individuelle Prämienverbilligung Bessere Vereinbarung von Beruf und Familie: Tagesbetreuungsstrukturen und Frühe Förderung Verbesserte Wohnsituationen 13

Fehlende Verbindlichkeit in der Armutspolitik Kantonale Ebene Nur 11 Kantone verfassen Armutsberichte Keine nummerischen Zielvorgaben zur Armutsbekämpfung Kein ganzheitlicher Blick und keine kohärente Armutspolitik Bundesebene Nationales Armutsprogramm 2014-2018: Wertvolle Grundlagen und Vernetzungsarbeit. Entscheid April 2018: Trotz ausgewiesenem Handlungsbedarf verzichtet der Bund auf ein nationales Armutsmonitoring und reduziert sein finanzielles Engagement auf ein Minimum. 14 Die Schweiz braucht eine wirksame Armutspolitik

Agenda 2030 verlangt nach einer Armutsstrategie: Armut halbieren Erstes Ziel der Agenda 2030 für eine nachhaltige Entwicklung: die Armut in der Schweiz um die Hälfte zu senken. Wichtige Voraussetzung dafür: dass alle Menschen in der Schweiz die Chance erhalten, sich auch als Erwachsene wichtige Grundkompetenzen anzueignen oder diese wiederzuerlangen. Grundkompetenzen sind ein wichtiges Element, brauchen aber auch die entsprechenden Rahmenbedingungen. 15