Thrombophilie und Thrombose was testen? BERTHOLD HOPPE, CHARITÉ UNIVERSITÄTSMEDIZIN BERLIN Venöse Thromboembolien (VTE), zu denen die tiefe Beinvenenthrombose (TVT) und die Lungenarterienembolie (LAE) gezählt werden, stellen eine häufige Erkrankungsgruppe dar, die mit zunehmendem Alter häufiger vorkommt. Die jährliche Inzidenz nimmt von wenigen Fällen pro 100.000 in der Kindheit bis annähernd in den Prozentbereich im Greisenalter zu [10]. Komplikationen wie das postthrombotische Symptom oder die Rechtsherzinsuffizienz sind allgemein als Folgen einer VTE bekannt. Dagegen wird die Mortalität dieser Erkrankungsgruppe, die kurzfristig, d.h. über den Zeitraum von einigen Monaten, bei 5 bis 15% und langfristig über den Zeitraum von Jahren bei ungefähr 30% liegt, oft nur wenig wahrgenommen [10]. Zum Teil steht die Mortalität sicherlich im Zusammenhang mit der Altersstruktur der entsprechenden Patientenkollektive. Allerdings kann die Sterblichkeit einerseits auf embolische Ereignisse in diesem Fall insbesondere die Frühmortalität und andererseits auf Malignome zurückgeführt werden. Letztere treten überzufällig häufig in zeitlicher Relation mit VTE auf.
Pathogenese Die pathogenetischen Modelle einer komplexen oder multifaktoriellen Erkrankung wie der VTE erlauben es lediglich, die zusammenspielenden Faktoren innerhalb bestimmter funktioneller Bereiche oder anderer Kategorien darzustellen. Anhand dieser Modelle ist es jedoch nicht möglich, eindeutige und sicher definierbare Wege der Krankheitsentwicklung darzustellen. Wie bei allen komplexen Erkrankungen können aus dem Nachweis einzelner pathogenetisch wirksamer Faktoren lediglich gewisse Wahrscheinlichkeiten für die Krankheitsentstehung abgeleitet werden; dies ist derzeit noch ein relevantes Problem bei der klinischen Anwendung der Thrombophilie-Diagnostik. Über das von RUDOLF VIRCHOW zuerst beschriebene Modell, bestehend aus den drei Komponenten Strömungsstörung, Gefäßwandstörung und Hyperkoagulabilität, ist eine sehr umfassende Darstellung der einzelnen VTE- Risikofaktoren möglich (Abb. 1). Neben den mittlerweile gut charakterisierten Risikofaktoren, wie z.b. dem so genannten Inhibitor-Mangel oder dem Faktor V Leiden, sind über dieses Modell sogar neue Kandidaten abbildbar, beispielsweise die Expression(sstörung) von Thrombomodulin oder endothelialem Protein-C-Rezeptor (EPCR) [2]. Letztere könnten durch relativ verminderte Expression in besonders gefährdeten Endothellokalisationen eine pathogenetische Facette für die VTE-Entwicklung darstellen.
Abbildung 1: VIRCHOWsche Trias als pathogenetisches Modell venöser Thomboembolien Insbesondere die Kategorie Hyperkoagulabilität erschließt sich labordiagnostischen Ansätzen. Zum Verständnis der einzelnen bekannten thrombophilen Risikofaktoren sei kurz das Gerinnungskaskade-Modell skizziert. Dieses Modell wird zwar seit der Einführung des zellbasierten Gerinnungsmodells durch die Arbeitsgruppe um MONROE [6] bisweilen als veraltet bezeichnet, es ist aber zur Veranschaulichung vieler Konstellationen deutlich besser geeignet (Abb. 2 und 3). Grundsätzlich stellt jede vermehrte Aktivität eines Gerinnungsfaktors bzw. jede Verlängerung der Halbwertszeit eines aktivierten Faktors einen potenziellen thrombophilen Risikofaktor dar (Abb. 2). Diese Annahme konnte u.a. für persistierende Faktor-VIII- oder Faktor-IX- Erhöhungen ebenso bestätigt werden wie für die Prothrombin-Variante 20210G>A, bei der das entsprechende Gen stärker als beim Wildtyp exprimiert wird. Gleiches gilt für den Faktor V Leiden, bei dem der Hauptinaktivierungsmechanismus des aktivierten Faktor V gestört wird [4].
Abbildung 2: Gerinnungskaskade Abbildung 3: Gerinnungskaskade mit Inhibitoren
In Anbetracht der Tatsache, dass das Hämostase-System einem aktiven Inhibitionsmechanismus unterliegt (Abb. 3), überrascht es nicht, dass Mangelzustände an den so genannten Inhibitoren Protein C, Protein S oder Antithrombin schwerwiegende thrombophile Diathesen darstellen [4]. Ein pathogenetisches Modell, das auf labordiagnostische Kriterien verzichtet und lediglich das Vorhandensein bzw. Fehlen von expositionellen Risikofaktoren (z.b. Trauma, Schwangerschaft, Operation) abbildet, gibt in seiner Einfachheit eine wesentliche Auskunft zur klinisch relevanten Frage des Rezidivrisikos (Abb. 4). Abbildung 4: Expositionelle Risikofaktoren als Kriterium zur Differenzierung von idiopathischen und sekundären VTE Während bei Vorliegen relevanter expositioneller Risikofaktoren das Rezidivrisiko nach einer ersten, befristet behandelten (sekundären) VTE äußerst gering ist, liegt das längerfristige Rezidivrisiko von idiopathischen VTE, bei denen definitionsgemäß expositionelle Risikofaktoren fehlen, in einer Größenordnung zwischen 30 und 40% [1].
Klinisch-diagnostische Einschätzung des Rezidivrisikos nach VTE Die klinisch entscheidende Frage nach einem ersten Ereignis einer VTE ist die nach dem Rezidivrisiko. Im Zusammenspiel mit weiteren Faktoren, die das Nebenwirkungsspektrum einer antikoagulativen Therapie beeinflussen können, wird aus dem Rizidivrisiko die Risiko-/Nutzen-Abwägung in Hinblick auf eine langfristige Antikoagulation abgeleitet. Auch wenn verschiedene Untersuchungen die Bedeutung eines Inhibitormangels, der Phospholipidantikörper oder auch einer Homozygotie des Faktor V Leiden für das Rezidivrisiko nahelegen [5, 9], wird die Evidenz für diese Beziehung von einigen Autoren als schwach bezeichnet und ihre Eignung für die klinische Situation in Frage gestellt [8]. Einigkeit besteht weitgehend dahin, dass das hohe Rezidivrisiko idiopathischer Ereignisse in der Entscheidung zur Dauer der Antikoagulation Berücksichtigung finden muss: Sowohl in den ACCP-Guidelines [7] als auch in den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Angiologie (AWMF: 065/002) wird bei umfangreichen idiopathischen VTE und gleichzeitigem Fehlen von Risikofaktoren für Blutungskomplikationen eine langfristige Antikoagulation empfohlen. Diese Empfehlungen tragen einer Besonderheit keine wesentliche Beachtung: Während bei einem 50-jährigen Patienten mit einer idiopathischen Beckenvenenthrombose ohne weitere komplizierende Faktoren die Indikation für die langfristige Antikoagulation relativ leicht auszusprechen ist, fällt die analoge Entscheidung bei einer 18-jährigen Frau deutlich schwerer. Dies umso mehr, wenn man sich nicht das Rezidivrisiko von 30 bis 40%, sondern die Wahrscheinlichkeit für ein rezidivfreies Überleben von 60 bis 70% vor Augen hält. Insofern scheint die Berücksichtigung von thrombophilen Risikofaktoren wie der Aktivitäten von Protein C, Protein S und Antithrombin, von Faktor V Leiden und der Prothrombin Variante
20210G>A sowie von Phospholipidantikörpern durchaus sinnvoll. Ein Parameter, der in diesem Zusammenhang potenziell von größerem Interesse sein kann, sind die D-Dimere. Die Ergebnisse der PROLONG-Studien legen nahe, dass nach Ende der Antikoagulation nach einer idiopathischen VTE ein Anstieg der D-Dimere eine Subgruppe von Patienten charakterisieren helfen kann, die ein besonders hohes Rezidivrisiko haben und die von einer Fortsetzung der Antikoagulation profitieren würden [3]. Über die zu empfehlende Dauer und die Frequenz der D-Dimer- Kontrollen kann zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht eindeutig Stellung genommen werden. Den publizierten Daten zu dieser Thematik ist nur indirekt zu entnehmen, dass mit Hilfe dieser Strategie ein allerdings auch nur relativ kleiner Teil der 30 bis 40% rezidivierenden Patienten identifiziert wird. Fazit Insofern stellt die anamnestische Charakterisierung der Patienten hinsichtlich ihrer VTE-Risikofaktoren sowie einer möglichen hämophilen Diathese in Verbindung mit einer labordiagnostischen Thrombophilie-Diagnostik ein Vorgehen dar, das am ehesten eine individualisierte Therapieentscheidung erlaubt (Abb. 5). Mit Heparinen, Heparin-Derivaten, Vitamin-K-Antagonisten und zukünftig vermutlich einer Vielzahl weiterer oraler Antikoagulanzien existieren unterschiedlich wirksame Therapieoptionen.
Abbildung 5: Mögliches diagnostisches Vorgehen zur Abklärung des Rezidivrisikos nach idiopathischer VTE
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