Standpunkt. Magazin zur Gesundheits- und Unternehmenspolitik der Helsana-Gruppe Nr. 3 / September 2016

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Transkript:

Standpunkt Magazin zur Gesundheits- und Unternehmenspolitik der Helsana-Gruppe Nr. 3 / September 2016 S. 3 Arzneimittelversorgung Es braucht Reformen für eine nachhaltige Finanzierung S. 6 Medikamentenpreisregulierung Interview mit Preisüberwacher Stefan Meierhans S. 8 Finanzierung ambulanter und stationärer Leistungen Bedeutende Reform jetzt anpacken S. 10 Finanzierung von Pflegeheimleistungen Regulierungslücke muss geschlossen werden S. 12 Medikamentenabgabe Helsana-Studie zeigt: Art der Abgabe macht keinen Kostenunterschied Arzneimittelversorgung langfristig sichern: BAG muss handeln In der Schweiz bezahlen wir im europaweiten Vergleich sehr hohe Arzneimittelpreise, pharmafreundliche Regulierung sei Dank. Soll die Medikamentenversorgung langfristig finanzierbar bleiben, muss das System der administrierten Medikamentenpreise dringend reformiert werden (Seite 3). Ins selbe Horn stösst der Preisüberwacher, Stefan Meierhans: «Die Pharmaindustrie diktiert die Spielregeln. Das BAG hängt am Gängelband der Industrie. Es muss nun die Zügel wieder selber in die Hand nehmen und den gesetzlichen Auftrag konsequent umsetzen.» (Seite 6). Sparpotenzial besteht auch in der Finanzierung ambulanter und stationärer Leistungen. Heute werden zwei Leistungen, die aus medizinischer Sicht gleichwertig sind, ganz unterschiedlich hoch honoriert. Nur mit der Einführung der einheitlichen Finanzierung gelingt eine effektive Verlagerung «ambulant vor stationär» (Seite 8).

In der Pflege beschloss das Parlament eine «national einheitliche Vergütung von Pflegeleistungen aus der OKP»: eine Farce! Die Beiträge mögen einheitlich sein, doch die drei verwendeten Messinstrumente BESA, RAI-RUG und PLAISIR sind verschieden. Nun ist der Bund am Zug (Seite 10). Inhalt 3 Gesucht: Weg aus der Sackgasse Medikamentenpreisregulierung 6 «BAG und Pharma spielen auf Zeit» Medikamentenpreisregulierung Viele politische Entscheidungsträger fordern die Trennung von Medikamentenverschreibung und -abgabe, weil sie sich davon Einsparungen versprechen. Eine Helsana-Analyse für den Kanton Zürich zeigt, dass bezogen auf die gesamten Gesundheitsausgaben keine Unterschiede zwischen den beiden Systemen bestehen. Deshalb sollte die Behandlungsqualität für den Entscheid Selbstdispensation oder Abgabe durch den Apotheker massgebend sein (Seite 12). 8 Bedeutende Reform jetzt anpacken Einheitliche Finanzierung ambulanter und stationärer Leistungen 10 National einheitliche Vergütung : eine Farce Finanzierung von Pflegeheimleistungen 12 Selbstdispensation erhöht die Kosten nicht Medikamentenabgabe Die Mühlen der Politik mahlen langsam. Wie viel Leidensdruck in Form von Kostensteigerungen braucht es, bis konsequenter im Sinn der Prämienzahler und Patienten reformiert wird? Gerade im Medikamentenbereich kann schnell und wirkungsvoll gehandelt werden. Nun ist das BAG am Zug. Wolfram Strüwe, Leiter Gesundheitspolitik Impressum Herausgeber: Helsana-Gruppe Kommunikation Postfach, 8081 Zürich Telefon +41 43 340 64 11 Telefax +41 43 340 02 10 standpunkt@helsana.ch helsana.ch/standpunkt Der «Standpunkt» wird mehr mals jährlich in Deutsch und Französisch herausgegeben. Empfänger sind Personen, die sich mit gesundheitspolitischen Fragen beschäftigen. Redaktion: Stefan Heini Redaktionsschluss: Mitte August 2016

Medikamentenpreisregulierung Gesucht: Weg aus der Sackgasse Das Bundesgericht blockiert die heutige Praxis der Medikamentenpreisanpassungen durch das BAG. Um die Medikamentenversorgung langfristig finanzieren zu können, muss das System der administrierten Medikamentenpreise reformiert werden. Guido Klaus Leiter Ökonomie und Politik Der medizinische Fortschritt und die Praxis zur Festlegung der Medikamentenpreise (siehe Box Seite 5) bleiben nicht folgenlos: Die Schweizer Bevölkerung bezahlt im europaweiten Vergleich sehr hohe Arzneimittelpreise. Die Kosten für Medikamente machen über 20 Prozent der Prämien der Grundversicherung aus, Tendenz steigend. Beinahe monatlich kommen neue und innovative, aber zum Teil extrem teure Arzneimittel auf den Markt. Die Preise sind in Sphären angelangt, die das Gesundheitswesen respektive die Prämienzahler an die Schmerzgrenze treiben. Überhöhte Medikamentenpreise erfordern Reformen Die heutige Preisregulierung des Bundesamts für Gesundheit (BAG) führt zu einer Preisspirale nach oben: Neue Medikamente, die nachweislich besser sind, erhalten einen Innovationszuschlag. Dieser wirkt preistreibend, da er nicht nur in Ausnahmefällen zugestanden wird und nicht klar limitiert ist. Anders als in herkömmlichen Wettbewerbssituationen werden neu auf den Markt kommende Arzneimittel mit einem Zuschlag belohnt, während der Preis der älteren Konkurrenzprodukte unverändert bleibt. Ein weiterer Kostentreiber ist der medizinische Fortschritt insbesondere bei den Krebsbehandlungen: Bereits sehr teure Therapien dauern länger und werden zum Teil noch mit anderen teuren The- rapien kombiniert. Das stellt die langfristige Finanzierbarkeit infrage: Um den Zugang zu Innovationen auch längerfristig zu gewährleisten, muss das Preissystem für Medikamente reformiert werden. Auch patentabgelaufene Arzneimittel sind in der Schweiz massiv überteuert. Im Schnitt kostet ein Generikum in den Vergleichsländern nur 58 Prozent des Schweizer Preises 1. Zudem unterlässt es der Bundesrat, eine Vertriebsmargensenkung vorzunehmen, obwohl er die Anpassung des Vertriebsanteils im August 2015 per Anfang 2017 in Aussicht stellte 2. Bundesgerichtsurteile blockieren Preisanpassungen Baldige Preisanpassungen sind ausserdem blockiert. Das Bundesgericht 3 hat im Rahmen eines Beschwerdeverfahrens gegen das BAG entschieden, dass bei der Preisüberprüfung von Medikamenten eine umfassende Prüfung der Aufnahmebedingungen erforderlich sei. Das Gericht hält fest, dass die Beschränkung auf einen Preisvergleich mit dem Ausland nicht zulässig sei, vielmehr müsse bei der Beurteilung der Wirtschaftlichkeit auch der Kosten-Nutzen-Vergleich mit anderen Therapiealternativen miteinbezogen werden. Das Bundesgericht kritisiert ausserdem, dass eine ausschliesslich preisbezogene Überprüfung dazu führe, dass auf der Spezialitätenliste auch Medikamente aufgeführt seien, die allenfalls dem Grund- 1 http://blog.preisueberwacher.ch/file.axd?file=2013%2f8%2fnewsletter_04_13_d.pdf. 2 Factsheet 221.3 «Prüfung des Vertriebsanteils» auf www.bag.admin.ch/gesundheit2020/14638/14668/index. html?lang=de 3 Urteil 9C-417/2015 vom 14. Dezember 2015 Helsana Standpunkt 3 16 3

satz von Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit (WZW) nicht mehr genügen. Die Überlegung ist richtig, denn in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren ist kein Arzneimittel aufgrund negativer Beurteilungen von der Liste gestrichen worden. Im April 2015 hatte der Bundesrat bekannt gegeben, auf die Preisüberprüfung vom November 2015 zu verzichten. Begründet wurde der Entscheid mit einem Systemwechsel, der eine künftige Preisüberprüfung anhand therapeutischer Gruppen vorsieht und nicht mehr nach dem Aufnahmejahr in die Spezialitätenliste (SL). Nach dem neusten Bundesgerichtsurteil fällt auch die Preisüberprüfungsrunde von Herbst 2016 ins Wasser. Patientinnen und Patienten bezahlen in der Schweiz im Vergleich zum Ausland aktuell rund 15 Prozent höhere Preise. Es braucht Reformen für nachhaltig finanzierbare Arzneimittelversorgung Die geplanten Verordnungsänderungen zur Medikamentenpreisregulierung befinden sich zurzeit in der Vernehmlassung. Das BAG will an der Dreijahresüberprüfung festhalten. Bleibt es dabei, sind weitere Klagen von Pharmafirmen wegen «Ungleichbehandlung» absehbar. Wenn das BAG nun nicht endlich Verordnungen erlässt, die KVG-konform sind, werden weitere Beschwerden sämtliche Preisüberprüfungen auf Jahre hinaus blockieren. Das hätte immense Kostenfolgen. Die Stunde der Wahrheit schlägt am 1. Dezember 2017, wenn nach Plan des BAG die nächste Preisrunde stattfinden soll. Um die verzwickte Situation im Sinne der Patienten nachhaltig zu verbessern, sind eine Reihe von Massnahmen vonnöten: Jährliche Preisüberprüfung: Die Preisüberprüfung der Arzneimittel auf der SL muss jährlich durchgeführt werden. Die Gleichbehandlung aller Medikamente ist nur gewährleistet, wenn die Bedingungen für Neuaufnahmen und bereits gelistete Medikamente gleichermassen regelmässig angepasst werden. Transparenz: Im Sinne der Transparenz sollten die Grundlagen der Preisfestlegung im Einzelfall zugänglich sein. Der jeweils zugrunde liegende Auslandpreisvergleich sowie der therapeutische Quervergleich (TQV) und allfällige Auflagen müssen nachvollziehbar veröffentlicht werden. Therapeutischer Quervergleich (TQV) zum Standard of Care: Der TQV hat zum «Standard of Care» zu erfolgen und zwar unabhängig davon, ob es sich dabei um ein patentgeschütztes, ein patentfreies Arzneimittel oder um eine andere Therapie handelt. Die neue Therapie muss einen Fortschritt bringen: So kann sie sich im Markt gegenüber bereits bestehenden Alternativen ohne Preiszuschlag durchsetzen. Dynamische Preisregeln mit Mengen/Preis- Relation: Die aktuelle behördliche Preisfixierung ist nicht in der Lage, die in anderen Märkten übliche Dynamik abzubilden. Ein Produkt, 4 Helsana Standpunkt 3 16

das millionenfach eingesetzt wird, würde normalerweise von Beginn an wesentlich günstiger angeboten als ein Medikament für seltene Krankheiten. Solche Effekte müssen auch in einem staatlichen Preisfestsetzungsregime abgebildet werden. Innovationszuschlag nur für echte Innovationen mit klaren Limitationen: Der Innovationszuschlag für neue Medikamente bewirkt eine Preisspirale nach oben und ist grundsätzlich zu hinterfragen. Festbetragssystem für patentabgelaufene Arzneimittel: Ein Festbetragssystem für patentabgelaufene Arzneimittel ermöglicht den Übergang in ein wettbewerbliches Preissystem, wo sich vergleichbare Arzneimittel konkurrenzieren. Anreize zur Verschreibung des günstigsten Medikaments: Die heutige Margenordnung ebenfalls durch das BAG festgelegt setzt einen Anreiz, tendenziell teurere Medikamente zu verschreiben. Diese Margen müssen gesenkt werden. Doch ideal wäre ein Systemwechsel: Kostenträger sollten mit dem jeweiligen Abgabekanal die Leistungen im Sinne der Stärkung der Compliance und deren Konditionen verhandeln können. Ursache für überhöhte Medikamentenpreise: das aktuelle Regelwerk Die Hauptursachen für die aktuell überhöhten Medikamentenpreise: Gemäss Krankenversicherungsgesetz müssten die Preise der Medikamente auf der Spezialitätenliste (SL) periodisch überprüft werden. Seit Jahren überprüft das BAG jährlich lediglich ein Drittel der Medikamente. Die Rechtfertigung: Das Verfahren sei zu aufwendig für eine regelmässige, jährliche Überprüfung. Das scheint sonderbar in Zeiten, in denen riesige Datenmengen per Mausklick aktualisiert werden können. Zur Preisüberprüfung hat das BAG bisher den Auslandpreisvergleich als wichtiges Kriterium herangezogen. Der Länderkorb der Vergleichsländer bestand bis Ende Mai 2015 aus Dänemark, Deutschland, den Niederlanden, Grossbritannien, Frankreich und Österreich und wurde erst per Juni 2015 um Belgien, Schweden und Finnland erweitert. Nach wie vor nicht miteinbezogen werden Italien oder Spanien, Länder mit relativ tiefen Medikamentenpreisen. Beim Auslandpreisvergleich werden die auf der SL gelisteten Medikamente noch immer zu einem Wechselkurs von zum Teil deutlich über 1.20 Franken pro Euro bewertet. Dies bei einem gegenwärtigen Wechselkurs von ca. 1.10 Franken pro Euro. Aktuell haben ausschliesslich die pharmazeutischen Firmen ein Antrags- und Beschwerderecht. Sie können ein Gesuch um Aufnahme eines neuen Arzneimittels in die SL stellen, haben aber auch ein Beschwerderecht gegen Verfügungen des BAG, sind sie mit einem Entscheid des BAG nicht einverstanden. Weder Versicherte noch Versicherer haben ein entsprechendes Rechtsmittel in der Hand, um gegen zu hoch angesetzte Medikamentenpreise vorgehen zu können. Helsana Standpunkt 3 16 5

Medikamentenpreisregulierung BAG und Pharma spielen auf Zeit Stefan Meierhans Stefan Meierhans ist Leiter der Preisüberwachung, deren Hauptaufgabe es ist, für angemessene Preise und eine transparente Preispolitik zu sorgen. Im Interview äusserst er sich zum Reformbedarf in der Medikamentenpreisregulierung. Herr Meierhans, im Vergleich zum Ausland bezahlen die Schweizer für Medikamente zu viel. Insbesondere Generika sind im europäischen Vergleich überteuert. Sie fordern schon lange ein Festbetragssystem. Welche Effekte versprechen Sie sich davon und wie sieht in Ihren Augen eine mögliche Umsetzung in der Schweiz aus? Die Generikahersteller würden ihre Preise senken und Patienten würden vermehrt Generika verlangen, die ihnen von der Grundversicherung ohne zusätzliche Zuzahlung vergütet würden. Dies würde zu Einsparungen von einigen Hundert Millionen Franken zugunsten der Grundversicherung führen. Der Festbetrag müsste auf Basis eines günstigen Generikums festgelegt und alle drei Monate angepasst werden. Als Obergrenze käme der Auslandpreisvergleich zur Anwendung. Bei der Umsetzung ist darauf zu achten, dass chronisch Kranke, die gut auf ein Medikament eingestellt sind, ihr Medikament nicht wechseln müssen. Hier braucht es eine Ausnahmeregelung; dafür werde ich mich einsetzen. Internationale Studien zeigen, dass Nachahmerprodukte gleich wirksam sind wie Originale. Es gibt also aus Sicht der Qualität keine Bedenken gegenüber Generika, insbesondere da alle Medikamente von der Heilmittelbehörde Swissmedic zugelassen werden müssen und diese auch die Vergleichbarkeit eines neuen Generikums zum Original prüft. Das BAG musste aufgrund eines Bundesgerichtsurteils Ende 2015 die Preissenkungen aussetzen. Auch dieses Jahr werden die Medikamentenpreise nicht überprüft. Was läuft Ihrer Ansicht nach falsch? Die Spielregeln werden von der Pharmaindustrie diktiert. Das BAG hängt am Gängelband der Industrie. Es muss nun die Zügel wieder selber in die Hand nehmen und den gesetzlichen Auftrag konsequent umsetzen. Das Urteil des Bundesgerichts ist keine Überraschung. Dass das BAG aber weiterhin an der Dreijahresüberprüfung der Medikamentenpreise festhalten will, ist inakzeptabel. Damit wird ein massgeblicher Teil der Medikamente erst Ende 2019 überprüft. Für diese gilt weiterhin ein Wechselkurs von zum Teil weit über 1.20 Franken pro Euro. BAG und Pharmaindustrie spielen offensichtlich auf Zeit. Bei den Medikamentenpreisen muss nun reiner Tisch gemacht werden. Es braucht mindestens eine Gesamtüberprüfung im 2017. Ist die Dreijahresüberprüfung angesichts der jüngsten Urteile des Bundesgerichts noch haltbar und KVGkonform? Die Dreijahresüberprüfung ist rechtlich nicht haltbar und wird nur dazu führen, dass die Firmen mit einer Flut von Beschwerden wiederum auf Jahre hinaus sämtliche Preissenkungen gerichtlich torpedieren können. Weitere Ungleichbehandlungen respektive Klagen sind vorprogrammiert. Das BAG kommt in Argumentationsnotstand, wenn es einer Firma erklären will, dass der Preis ihres Produkts nun zufällig bereits Ende 2017 gesenkt wird, während andere Produkte weiterhin von einem höheren Wechselkurs profitieren. Deshalb sollen jährlich alle Medikamente überprüft werden. 6 Helsana Standpunkt 3 16

Das Bundesgerichtsurteil verlangt die konsequente Berücksichtigung des therapeutischen Quervergleichs (TQV). Wie muss dieser Vergleich vom BAG in der Praxis umgesetzt werden? Gemäss KVG gilt das Wirtschaftlichkeitsprinzip. Ein guter Kaufmann kauft dort ein, wo er ein vergleichbares Produkt am günstigsten kriegt. Wenn innerhalb kurzer Distanz eine Tankstelle einen günstigeren Benzinpreis anbietet, dann fahren alle dahin. Im freien Markt sind die Konsumenten sehr preissensitiv. Für die Festlegung der Medikamentenpreise bedeutet das für das BAG, dass es den Preis eines Medikaments am Preis einer vergleichbaren Therapiealternative bemessen muss. Entscheidend beim Vergleich von Medikamenten ist das Therapiegebiet beziehungsweise die zu behandelnde Krankheit. Im Hinblick auf sehr differenzierte Behandlungen im Zuge der personalisierten Medizin und der Genetik ist darauf zu achten, sinnvolle Vergleiche nicht zum Vornherein auszuschliessen. Letztlich sind Wirkung und Nutzen entscheidend. Ob das Medikament aber nun beim Genotyp A oder B eingesetzt werden kann, ist nicht entscheidend. Es gibt ja auch verschiedene Äpfel in verschiedenen Farben und Geschmacksrichtungen. Für den Preis ist das aber nicht entscheidend. Der Gala-Apfel kann nicht einfach zehnmal mehr kosten als der Jonathan, denn dann würde ihn niemand kaufen. Wichtig ist, dass man beim TQV nicht Äpfel mit Birnen vergleicht. Ausserdem kommt der Auslandpreisvergleich (APV) ebenso zur Anwendung und es gilt jeweils der günstigere der beiden. Der gute Kaufmann würde ja auch im günstigen Ausland einkaufen, wenn im Inland keine valablen Alternativen zur Verfügung stünden. Sehen Sie weitere flankierende Massnahmen im Medikamentenbereich? Flankierend kann ich einmal mehr einen ganzen Katalog von längst fälligen Massnahmen ins Feld führen, welche die Preisüberwachung schon lange fordert: Die vom Bundesrat unlängst angekündigte Vertriebsmargensenkung liegt brach. Auch hier spielt man offensichtlich auf Zeit. Der Preisüberwacher kalkulierte bereits vor Jahren eine angemessene Marge von 4 6 Prozent. Der Bun- desrat senkte diese 2010 dann von 15 auf 12 Prozent. Inzwischen haben aber die zugrunde liegenden Parameter allesamt erhebliche Änderungen erfahren, sei es durch Effizienzvorteile oder durch realisierte Einsparungen: Die Zinsen sind massiv gesunken und gleichzeitig wurden die Zahlungsfristen dank direkter elektronischer Rechnungsstellung verkürzt; zudem können die Lager dank regelmässiger Lieferungen der Grossisten klein gehalten werden. Diese Kostenvorteile werden nicht an die Konsumentinnen und Konsumenten weitergegeben. Dringend ist auch das Antrags- und Rekursrecht für Versicherer. Heute können nur die betroffenen Pharmafirmen gegenüber aus ihrer Sicht zu tiefe Preise klagen. Niemand sonst hat ein Rechtsmittel in der Hand, um gegen allenfalls zu hoch festgesetzte Medikamentenpreise vorzugehen. Das ist rechtsstaatlich bedenklich. Schliesslich sollten sowohl der Innovationszuschlag wie auch das Territorialitätsprinzip abgeschafft werden. Wer günstige Medikamente im Ausland bezieht, sollte diese vergütet erhalten. Interview: Guido Klaus Preisüberwacher Stefan Meierhans wurde 1968 in Altstätten im St. Galler Rheintal geboren. Er studierte Recht an den Universitäten von Basel, Oslo und Uppsala und schloss 1998 mit einem Doktortitel der Universität Basel ab. Im Anschluss arbeitete er im Bundesamt für Justiz und von 1998 bis 2003 im Generalsekretariat des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements im Stab der Bundesräte Koller und Metzler-Arnold. Vor seiner Anstellung als Preisüberwacher war er in der Privatwirtschaft tätig. Helsana Standpunkt 3 16 7

Einheitliche Finanzierung ambulanter und stationärer Leistungen Bedeutende Reform jetzt anpacken Nur mit der Einführung der einheitlichen Finanzierung gelingt eine effektive Verlagerung «ambulant vor stationär». Dieser Schritt ist im Interesse der Versicherten und überzeugt gesamtwirtschaftlich und sozialpolitisch. Anita Holler Gesundheitspolitik, curafutura Wenn zwei Leistungen, die aus medizinischer Sicht gleichwertig sind, ganz unterschiedlich hoch honoriert werden namentlich die stationär erbrachte viel attraktiver ist als die ambulant durchgeführte dann ist der Fehlanreiz offensichtlich. Es liegt auf der Hand, dass die Verlagerung vom stationären in den ambulanten Bereich dadurch behindert wird. OECD-Daten zeigen, dass die Schweiz im internationalen Vergleich auf den hinteren Rängen liegt, was den Anteil spitalambulanter Eingriffe von allen chirurgischen Eingriffen in Spitälern betrifft. Dagegen ist vielen noch zu wenig bewusst, dass das Verlagerungspotenzial «von stationär zu ambulant» nur dann ausgeschöpft werden kann, wenn alle medizinischen Leistungen einheitlich finanziert werden. Im geltenden System käme die verlagerungsbedingte finanzielle Entlastung nämlich vollständig den Kantonen zugute. Die Krankenversicherer sprich Prämienzahlenden würden aufgrund der Reduktion der stationären Eingriffe zwar zuerst entlastet, durch deren ambulante Erbringung dann aber in grösserem Umfang wieder belastet. Fehlanreize durch unterschiedliche Finanzierung «Die Krankenversicherer haben es in der Hand, den Druck in Richtung ambulant vor stationär zu erhöhen, indem sie Kostengutsprachen für stationäre Aufenthalte restriktiver aussprechen und die Zweckmässigkeit der Leistungen strenger prüfen». Dieses häufig vorgebrachte Argument ist nicht stichhaltig. Man kann nicht von den Krankenver- sicherern verlangen, dass sie ihren Verwaltungsund Prüfaufwand ausbauen, um dann noch mehr Leistungskosten tragen zu müssen. Das würde und genau das ist das Absurde gegen die Interessen ihrer Versicherten laufen. Diese müssten dann nämlich entsprechend mehr Prämien bezahlen. Solange eine ambulant durchgeführte Operation mehr kostet als 45 Prozent der Kosten einer medizinisch gleichwertigen stationären Durchführung, haben die Krankenversicherer keinen Anreiz, die unter Vollkostensicht günstigere ambulante Leistung einzufordern. Einheitliche Finanzierung verbessert die Effizienz Eine ambulante Behandlung geht vollumfänglich zulasten der Krankenversicherer. Wird die medizinisch gleichwertige Behandlung stationär durchgeführt, muss hingegen der Kanton mehr als die Hälfte der Kosten übernehmen. Die Behebung dieses Fehlkonstrukts ist naheliegend: Alle medizinischen Behandlungen müssen einheitlich finanziert werden. Mit Einführung der einheitlichen Finanzierung gelingt begleitet von Verbesserungen im Tarifwesen eine effektive Verlagerung «ambulant vor stationär». Es gibt aber noch weitere Gründe, warum die einheitliche Finanzierung eine unterstützenswerte Reformidee mit Bedeutung für das Gesundheitssystem ist. Auch die Versorgungsqualität profitiert Mit einer qualitativ guten Integrierten Versorgung können stationäre Behandlungen verhindert werden. Das zeigt eine neue Studie des Instituts für Hausarztmedizin der Universität Zürich und der Helsana: Diabetiker und Herzpatienten in Hausarztmodellen müssen seltener ins Spital als Standardversicherte mit den gleichen Krankheiten. Die Unterschiede liegen bei 8 bis 13 Prozent. Das ein- 8 Helsana Standpunkt 3 16

Mit der einheitlichen Finanzierung könnte die Attraktivität Integrierter Versicherungsmodelle durch zusätzliche Prämienrabatte erhöht und dadurch die Versorgungsqualität verbessert und Kosten gespart werden. gesparte Geld entlastet im heutigen Finanzierungssystem aber primär die Kantone, anstatt dass es als zusätzlicher Prämienrabatt jenen zugutekommt, die sich für ein Integriertes Versorgungsmodell entscheiden. Anders gesagt: Mit der einheitlichen Finanzierung könnte die Attraktivität Integrierter Versicherungsmodelle durch zusätzliche Prämienrabatte erhöht und dadurch die Versorgungsqualität verbessert und Kosten gespart werden. Gesamtwirtschaftlich und sozialpolitisch überzeugend Aufgrund des medizinisch-technischen Fortschritts werden Operationen zunehmend vom stationären in den kostengünstigeren ambulanten Bereich verlagert. Aus gesamtwirtschaftlicher Sicht ist dieser Trend begrüssenswert, aus sozialpolitischer Perspektive besteht indessen Handlungsbedarf. Wenn die stationären Kosten, an denen sich die Kantone heute mit 55 Prozent beteiligen, anteilsmässig sinken, dann findet ein schleichender Rückgang des steuerfinanzierten Anteils und damit ein Rückzug der Kantone aus der Finanzierung der sozialen Krankenversicherung statt. Würden alle medizinischen Leistungen einheitlich mit Prämien und Steuern finanziert etwa mit einem Schlüssel 75 Prozent zu 25 Prozent dann würde sich die finanzielle Beteiligung des Kantons analog den gesamten OKP-Leistungskosten im jeweiligen Kanton entwickeln. Was aus gesamtwirtschaftlicher Sicht wünschenswert ist, wäre dann auch sozialpolitisch überzeugend. Parlamentarische Initiative Humbel verdient Unterstützung Wie stehen die Chancen, dass sich die Idee der einheitlichen Finanzierung realisieren lässt? Politisch liegt die Forderung mit der Parlamentarischen Initiative (Pa.Iv. Humbel 09.528) «Finanzierung der Gesundheitsleistungen aus einer Hand. Einführung des Monismus» auf dem Tisch. Die technische und gesetzgeberische Umsetzung ist relativ einfach: Anstatt 55 Prozent der stationären Behandlungskosten würden die Kantone neu einen zu definierenden und im Krankenversicherungsgesetz festzuschreibenden Mindestanteil an den gesamten OKP-Leistungskosten ihres Kantons finanzieren. Die Kantone würden ihren Beitrag an die Gemeinsame Einrichtung KVG überweisen, welche das Geld risikogewichtet den Krankenversicherern zuteilen würde. Die Einführung der einheitlichen Finanzierung erfordert keine grossen Umwälzungen. Dafür umso mehr die Offenheit und Bereitschaft aller Akteure über parteipolitische und ideologische Grenzen hinweg einen wichtigen Beitrag zur erwünschten Entwicklung des Gesundheitssystems zu leisten. Helsana Standpunkt 3 16 9

Finanzierung von Pflegeheimleistungen National einheitliche Vergütung: eine Farce Das Parlament hatte eine national einheitliche Vergütung von Pflegeleistungen aus der OKP beschlossen. Neu legt der Bund die Beiträge fest. Nun zeigt sich: Einzelne Kantone wollen eine Regulierungslücke nutzen, um der OKP Kosten zuzuschieben. Das Projekt scheiterte jedoch am Desinteresse der Kantone zum grossen Bedauern der Krankenversicherer. Ein Bundesgerichtsurteil wird von Kantonen und Leistungserbringern zudem so ausgelegt, dass die Kantone einen grossen Spielraum bei den Instrumenten der Bedarfsermittlung haben mangels Regelung durch den Bund. Annette Jamieson Ökonomie und Politik Seit 2014 gelten in der ganzen Schweiz die neuen, national einheitlichen Beiträge der obligatorischen Krankenpflegeversicherung (OKP) an die Pflegekosten. Die Beiträge im Pflegeheim (siehe Grafik Seite 11) sind gemäss Art. 7a KLV (Krankenpflege- Leistungsverordnung) in 12 Zeitklassen zu je 20 Minuten geregelt: Stufe 1 (bis 20 Minuten) wird mit 9 Franken vergütet, Stufe 2 (21 40 Minuten) mit 18 Franken usw. Die Beiträge sind einheitlich, doch die Instrumente sind verschieden Doch die neue Bestimmung hat einen Fehler: Geregelt ist nämlich nur, welche Beiträge die OKP für wie viele Minuten Pflegebedarf vergütet. Der Pflegebedarf selbst hingegen wird mithilfe eines Bedarfsermittlungsinstruments erhoben. Dieses Instrument regelt die Vergütung, denn mit ihm werden die Pflegeleistungen einer Pflegestufe zugeordnet (siehe Grafik). Der springende Punkt: In der Schweiz werden drei Instrumente verwendet (BESA, RAI-RUG und PLAISIR), die auf unterschiedlichen Methoden, Mechanismen und hinterlegten Normzeiten basieren. Folglich können sich trotz national einheitlicher Beiträge die Vergütungen für denselben Bewohner eines Pflegeheims je nach Bedarfsermittlungsinstrument unterscheiden. Des Bundesamts für Gesundheit (BAG) wollte mit einem Erhebungsprojekt erreichen, dass die Instrumente rechnerisch angeglichen (kalibriert) werden. Regulierungslücke wird ausgenutzt und erhöht die Kosten Die mangelnde Regulierung bleibt nicht folgenlos; gewisse Akteure nutzen die Regulierungslücke aber gekonnt aus: Q-sys, die Anbieterin des Instrumentes RAI-NH (Resident Assessment Instrument Nursing Home), hat ihr Instrument mittels einer empirischen Zeitstudie überprüft, mit speziellem Fokus auf die Pflegeleistungen für demente Menschen. Das Resultat: Demente Bewohnerinnen der Pflegeheime benötigen mehr Pflegeminuten als in der bisherigen Tarifstruktur eingerechnet. Q-sys hat deshalb das Instrument so angepasst, dass die Pflegeleistungen für diese Bewohnerinnen aufgewertet werden. Dies mag aus sachlicher Sicht gerechtfertigt sein. Doch insgesamt weist die RAI-Tarifstruktur in der neuen Version bedeutend mehr Pflegeminuten aus als in der alten Version. Normalerweise führte ein solches Resultat im Krankenversicherungsgesetz (KVG) zu einer Normierung, d.h. die neue Tarifstruktur würde kostenneutral an die alte Struktur angepasst. Die dementen Bewohner erhielten in der neuen Struktur eine im Vergleich zu anderen Bewohnergruppen höhere Vergütung. Insgesamt würden die Kosten aber gleich bleiben. Die neue Pflegefinanzierung respektive die erwähnte Regulierungslücke ermöglichen es jedoch entgegen jeglicher KVG-Logik, dass die Pflegeheime mit der neuen RAI-Version insgesamt höhere Beiträge für Pflegeleistungen erhalten. 10 Helsana Standpunkt 3 16

Mit der neuen Pflegefinanzierung ist die Zuständigkeit für die Vergütung aus der OKP von den Tarifpartnern an den Bund übergegangen. Wegen der Regulierungslücke bestimmen aber faktisch Systemanbieter und Kantone, wie viel die Versicherer an die Pflegeheime vergüten müssen. Regulierungslücke schliessen der Bund muss endlich handeln Es ist inakzeptabel, dass anstelle des Bundes die Instrumentenanbieter und die Kantone bestimmen, was die OKP im Heim vergütet. Diese Regulierungslücke muss deshalb geschlossen werden. Mindestanforderungen an die Instrumente zu stellen wie vom Bund geplant, reicht aber nicht aus: Sie lösen das Problem der Vergleichbarkeit der Instrumente und somit der uneinheitlichen Pflegefinanzierung nicht. Der Bund muss endlich handeln und seine vollumfängliche Verantwortung für die Bedarfsermittlungsinstrumente und die national einheitliche Vergütung akzeptieren. Solange die Instrumente nicht kalibriert oder ein einheitliches Instrument erlassen wird, bleibt die neue national einheitliche Pflegefinanzierung eine Farce. Finanzierung von Pflegeleistungen Krankenpflege gemäss KVG (Krankenversicherungsgesetz) Unterkunft, Verpflegung, Hauswirtschaft, Betreuung Spitex und freiberufliche Pflegefachpersonen Patientinnen und Patienten: max. CHF 15.95 pro Tag Grundversicherung: Beitrag je nach Art der Pflegeleistung (3 Stufen) Kanton/Gemeinden: Restfinanzierung Patientinnen und Patienten Pflegeheim Patientinnen und Patienten: max. CHF 21.60 pro Tag Grundversicherung: Beitrag je nach Pflegebedarf (12 Stufen) Kanton/Gemeinden: Restfinanzierung Patientinnen und Patienten Bedarfsermittlungsinstrument bestimmt Vergütung im Pflegeheim A B BESA RAI-NH PLAISIR C Beitragsstufen 1 CHF 9. 2 CHF 18. 3 CHF 27. 4 CHF 36. 5 CHF 45. 6 CHF 54. 7 CHF 63. 8 CHF 72. 9 CHF 81. 10 CHF 90. 11 CHF 99. 12 CHF 108. Die Pflegefachperson beurteilt den Hilfe- und Pflegebedarf der Bewohnerin A und erfasst dies im Bedarfsermittlungsinstrument. Dieses ordnet die vorgesehenen Pflegeleistungen einer Beitragsstufe C zu. Die Beiträge sind in der Krankenpflegeleistungsverordnung geregelt (Art. 7a KLV). Der gleiche Pflegebedarf kann je nach verwendetem Instrument B zu verschiedenen Beiträgen führen. Helsana Standpunkt 3 16 11

Medikamentenabgabe Selbstdispensation erhöht die Kosten nicht Eine neue Helsana-Studie untersuchte für den Kanton Zürich die Auswirkungen der ärztlichen Medikamentenabgabe auf die Ausgaben zulasten der Grundversicherung. Ergebnis: Eine Abgabe über Arzt oder Apotheker macht keinen Kostenunterschied. Dr. Oliver Reich Leiter Gesundheitswissenschaften Die ärztliche Medikamentenabgabe (Selbstdispensation, SD) ist in der Schweiz kantonal geregelt. Während sie in den Westschweizer Kantonen, dem Tessin, Basel-Stadt und Aargau nur in Ausnahmefällen zugelassen ist, ist sie in vielen Deutschschweizer Kantonen weit verbreitet. Kritisch betrachtet wird in diesem Zusammenhang, dass Verschreibung und Abgabe durch ein und dieselbe Person vorgenommen werden. Da selbstdispensierende Ärzte für jedes abgegebene Präparat einen Vertriebsanteil (abhängig vom Medikamentenpreis) verdienen, besteht die Befürchtung, dass sie mehr und/oder teurere Medikamente abgeben, als wenn sie bloss das Rezept ausstellen. Für den Kanton Zürich analysierte Helsana die Auswirkungen der SD auf die Medikamentenwahl und die Ausgaben zulasten der obligatorischen Krankenpflegeversicherung (OKP). Die Auswirkungen der SD wurden anhand unterschiedlicher Zielgrössen untersucht, darunter die Medikamentenausgaben, die Wahl von preisgünstigen Präparaten, die Anzahl unterschiedlicher Wirkstoffe, die Anzahl Konsultationen beim Arzt und die Gesamtausgaben. Die wichtigsten Ergebnisse der Studie 1 : SD-Patienten haben tiefere Medikamentenausgaben: inklusive der leistungsorientierten Abgeltung (LOA) 2 14 Prozent weniger, exklusive LOA 7 Prozent. Die Kosten für ärztliche Leistungen sind bei SD- Patienten rund 6,5 Prozent höher als bei vergleichbaren anderen Patienten. SD-Patienten weisen auch signifikant mehr Konsultationen bei niedergelassenen Ärzten auf. SD-Patienten haben eine höhere Wahrscheinlichkeit, dass preisgünstige Präparate (z. B. Generika) gewählt werden. Der Einfluss der SD auf die Gesamtausgaben für OKP-Leistungen ist statistisch nicht signifikant. Helsana-Studie zeigt: Art der Medikamentenabgabe ist kein Kostenfaktor Viele politische Entscheidungsträger fordern die Trennung von Medikamentenverschreibung und -abgabe, weil sie sich davon Einsparungen versprechen. Die Analyse für den Kanton Zürich zeigt, dass bezogen auf die gesamten Gesundheitsausgaben keine Unterschiede zwischen den beiden Systemen bestehen. Es muss deshalb bezweifelt werden, dass eine Änderung des Abgaberegimes eine kostendämpfende Wirkung entfaltet. Deshalb sollte die Behandlungsqualität für den Entscheid Selbstdispensation oder Abgabe durch den Apotheker massgebend sein. Hier braucht es weitere Studien für eine bessere Datenlage. 1 Trottmann, M., M. Früh; H. Telser, O. Reich. 2016. Physician drug dispensing in Switzerland: Association on health care expenditures and utilization, BMC Health Services Research, forthcoming. http://www.biomedcentral.com/1472-6963/16/238 2 Der Preis eines in der Apotheke gekauften Medikaments setzt sich aus einem Grundpreis sowie einer Pauschale (der LOA) zusammen. Die leistungsorientierte Abgeltung (LOA) gilt für die rezeptpflichtigen Medikamente, die von der obligatorischen Grundversicherung übernommen werden, und deckt die Leistungen der Fachkompetenz und Beratung der Apotheker ab. HEL-00449-de-0816-0033-36281