4. Online-Methoden in der qualitativen Marktforschung 4.1 Perspektiven der qualitativen Online-Marktforschung In der quantitativen Marktforschung gehören internetbasierte Erhebungsinstrumente zum Standardrepertoire der Forscher. Ihr Einsatz wurde hinreichend wissenschaftlich diskutiert und ist in der betrieblichen Praxis akzeptiert, selbst wenn Grundlagenforschung im Bereich der Methodeneffekte auch hier noch in vielen Bereichen erforderlich ist. 115 Im Kontext der qualitativen Marktforschung beschäftigen sich nur wenige Studien und Beiträge mit den methodischen Implikationen der Online- Forschung und es mangelt an einem Gesamtüberblick über den Forschungsstand. Bevor die einzelnen Instrumente der qualitativen Online- Forschung betrachtet werden, sollen zunächst die relevanten Erkenntnisse der Online-Marktforschung für den qualitativen Bereich zusammengefasst werden. Betrachtet man die Einsatzpraxis der Online-Marktforschung, so kann man zwei Motive für den Einsatz der Online-Instrumente unterscheiden: 116 (1) Die Erforschung der menschlichen Aktivitäten im Internet als sozialen Raum, also das Internet als Gegenstand der Online-Forschung (z.b. Forschung über die Online-Medien, die Online-Nutzer, die Nutzungs- und Verhaltensweisen der User im Netz, gesellschaftliche Implikationen der Online-Nutzung und vieles mehr). Die Forschungen mit Fragestellungen rund um das Internet können, müssen aber nicht zwangsläufig online durchgeführt werden. (2) Die Nutzung der Online-Methoden und Instrumente zur Digitalisierung des Forschungsprozesses. Dabei können prinzipiell alle For- 115 Einen wunderbaren Überblick über den Forschungsstand und die Forschungslücken findet sich bei Taddicken (2008): Methodeneffekte bei Web-Befragungen. 116 Vgl. Welker, Martin (2007): Was ist Online-Forschung? S. 36f. und Theobald (2009): Der digitale Werkzeugkasten der qualitativen Online-Marktforschung, S. 41.
50 Qualitative Online-Marktforschung schungsfragen durch Online-Instrumente abgedeckt werden. Die Online-Unterstützung kann von der Rekrutierung der Teilnehmer über die Durchführung der Erhebung bis zur Auswertung reichen. Das Internet führt an vielen Stellen zu einer Erleichterung des Forschungsprozesses. 117 Bei beiden Einsatzbereichen bleiben die internetbasierten Erhebungsinstrumente der qualitativen Forschung im Wesentlichen die gleichen: Die Beobachtung, die Befragung und die Inhaltsanalyse. 4.2 Das Internet als Medium der qualitativen Marktforschung Da das Internet nur ein Vermittlungskanal, ein Trägermedium ist, in dem und über das verschiedene Anwendungen zum Einsatz kommen, wäre es viel zu undifferenziert nur allgemein über den Einsatz des Mediums Internet in der qualitativen Marktforschung zu sprechen. Vielmehr müssen die unterschiedlichen Dienste wie E-Mail, Chat, Foren, Instant Messenger und WWW bzw. Web 2.0 bezüglich ihrer Einsatzmöglichkeiten in der qualitativen Marktforschung systematisiert und individuell betrachtet werden. Folgende spezifischen Aspekte der Nutzung des Internet spielen dabei eine Rolle und sollen vorweg vorgestellt werden: (1) Zeit und Anzahl der Kommunikatoren Morris und Ogan empfehlen für die Systematisierung der Internetanwendungen die Verwendung der Parameter Zeit (mit den Polen: gleichzeitige bzw. zeitversetzte Kommunikation) und Anzahl von Kommunikatoren (mit den Polen: dialogische Kommunikation zwischen Sender/Empfänger und Massenkommunikation). 118 Nach dieser Systematisierung gibt es grundsätzlich 4 Formen der Internetkommunikation: 117 Vgl. Taddicken (2008): Methodeneffekte bei Web-Befragungen, S. 36. 118 Vgl. Morris; Ogan (1996): The Internet as Mass Medium, S. 39-50.
4. Online-Methoden in der qualitativen Marktforschung 51 (1) One-to-0ne asynchronous communication (z.b. E-Mail) (2) Many-to-Many asynchronous communication (z.b. Newsgroups) (3) Synchronous communication one-to-one, one-to-few, one-tomany (z.b. Chat, Videokonferenz) (4) Asynchronous communication als individuelles Abrufen von Internet-Angeboten z.b. das Surfen im World Wide Web. Diese Systematik ist wie Taddicken feststellt problembehaftet, da nicht ganz überschneidungsfrei darstellbar. 119 Allerdings hilft die Einordnung der einzelnen Instrumente bezüglich der Kommunikationssituation, um die grundlegende Eignung der Dienste für bestimmte Forschungsfragen abzubilden. So können z.b. mittels synchroner Erhebungsformen spontane Reaktionen erfasst werden. Sie eignen sich daher für Fragestellungen, bei denen eine tiefer gehende Reflexion unerwünscht ist sowie für Themen, bei denen Außeneinflüsse (z.b. paralleles Surfen im Internet oder Reflexion über das Thema mit Dritten, am Forschungsprozess unbeteiligten Personen) zwingend auszuschließen sind. Asynchrone Instrumente sind das Mittel der Wahl bei Themen, die eine längere Reflexion der Befragten erfordern. Sie sind zudem geeigneter für die Befragungen von viel beschäftigten Probanden. Daher soll diese Systematik nachfolgend bei den verschiedenen Anwendungen im Internet ausgewiesen werden. Es müssen allerdings noch zusätzliche Faktoren für die Bewertung der Instrumente herangezogen werden, die nachfolgend vorgestellt werden. (2) Kommunikationssituation: Medialer Informationsgehalt und Anonymität Unterschiedliche Anwendungen bieten eine unterschiedliche Informationsreichhaltigkeit und sind damit für unterschiedliche Aufgaben prädestiniert. 120 Daft/Lenke bewerten die Informationshaltigkeit eines Mediums nach den Faktoren Geschwindigkeit des Feedbacks, Ansprache verschiedener Sinnesorgane und damit Intensität im jeweiligen Kanal, persönliche Note der Kommunikation sowie die Alltäglichkeit der Nutzung des Ka- 119 Vgl. Taddicken (2008): Methodeneffekte bei Web-Befragungen, S. 82. 120 Vgl. Theorie der rationalen Medienwahl, z.b. Köhler (1999): Sozialwissenschaftliche Theorien und Befunde zur computervermittelten Kommunikation, S. 148 f.
52 Qualitative Online-Marktforschung nals (von den Autoren Natürlichkeit genannt). 121 Bei der Bewertung des Internet nach diesen Kriterien kann man festhalten: Im Vergleich zu anderen Medien bietet das Internet zunächst in seiner klassisch textbasierten Verwendungsform als Kommunikationsmedium nur einen deutlich eingeschränkten Kommunikationskanal. 122 So können wie bei schriftlichen Befragungen Gestik, Mimik und Intonation für die Interpretation des Gesagten nicht herangezogen werden. Durch die online vermittelte Kommunikation, die damit einhergehende Einschränkung in der Ausdrucksfähigkeit und die mangelnde physische Präsenz ist es wesentlich schwieriger, die Vertrautheit und Unmittelbarkeit der Kommunikatoren online herzustellen. 123 Durch die Erweiterung der Kommunikationskanäle auf Bild- und Tonsignale (z.b. in Video-Tagebücher) oder synchrone Situationen (Live-Chat mit Webcam) kann dieses Manko ausgeglichen werden, allerdings warten diese Technologien noch auf eine weitere Verbreitung. Reichhaltigere Medien minimieren Unsicherheiten und Mehrdeutigkeiten, die bei weniger reichhaltigen Medien durch die Interpretationsspielräume entstehen können. 124 Die Integration von Stimuli, Produktvorlagen o.ä. kann durch die Zuspielung von Bildern oder Videos erfolgen, allerdings bleiben das haptische Erleben von Produkten, Gerüchen oder Geschmack bei einer reinen Online-Erhebung ausgeschlossen. 125 Allerdings sind diese medialen Einschränkungen des Kommunikationskanals nicht nur negativ zu bewerten: So führt die Abwesenheit der Kontexthinweise zu einer Fokussierung auf die Informationsebene der Kommunikation, wie schon in den 80er Jahren im Rahmen der Arbeiten über die reduzierten sozialen Hinweise computervermittelter Kommunikation vermutet wurde. 126 Damit geht der Effekt einher, dass die Kommunikationspartner die soziale Perspektive der Kommunikation ausblenden und 121 Vgl. Daft, Richard L; Lengel, Robert H. (1984): Information Richness, S. 196 ff. 122 Vgl. Taddicken (2008): Methodeneffekte bei Web-Befragungen, S. 30 ff. 123 a.a.o, S. 31. 124 Vgl. Daft, Richard L; Lengel, Robert H. (1986): Organizational Information Requirements, Media Richness and Structural Design, S. 556f. 125 Vgl. Taddicken (2008): Methodeneffekte bei Web-Befragungen, S. 50. 126 Bei der Entwicklung der Theorie spielt die Carnegie-Mellon-Gruppe eine wichtige Rolle in den 80iger/90iger Jahren, vgl. hierzu z.b. Kiesler; Sproull (1986): Response Effects in the Electronic Survey oder Siegel; Dubrovsky; Kiesler; McGuire (1986): Group Processes in Computer-Mediated Communication.
4. Online-Methoden in der qualitativen Marktforschung 53 eine Ego-Zentrierung der Kommunikatoren festzustellen ist. 127 Letztendlich führt dieser Aspekt zu einer Egalisierung der Kommunikationspartner. Soziale Hemmungen und normative Beschränkungen werden in den computervermittelten Kommunikationssituationen reduziert bzw. sogar aufgelöst. 128 Es kommt durch die anonyme Situation zu einer erhöhten Auskunftsbereitschaft, gerade auch über persönliche und private Informationen, 129 und zu spontaneren und ehrlicheren Antworten. 130 So führt z.b. nach den Experimenten von Joinson die Aufzeichnung von Gesprächen mit Webcam zu einer deutlich geringeren Selbst-Auskunftsbereitschaft. 131 Der Forscher ist durch diese Effekte in der Lage, mit Hilfe der computervermittelten Kommunikation offenere Antworten zu erhalten, allerdings ist fraglich, wie Taddicken richtigerweise kritisch anmerkt, inwieweit diese Antworten wirklich auf den realen sozialen Alltag übertragen werden können. 132 So kommt sie im Rahmen ihrer empirischen Untersuchung zu dem Ergebnis, dass bei computervermittelter Kommunikation eine höhere Selbsttäuschung eintritt und verstärkt das ideale Selbst antwortet. 133 Durch die reduzierte soziale Präsenz bei computergestützten Medien entsteht eine subjektive Anonymität bei den Kommunikationspartnern. 134 Es fehlt an Wissen, an Vertrautheit der Personen durch ihre fehlende körperliche Anwesenheit. Die Kommunikatoren sind nur in Form ihrer medialen Repräsentanz im Internet erlebbar (z.b. in ihren Texten in E-Mails, in ihren Beiträgen in Chaträumen) - damit entstehen Unsicherheiten bezüglich 127 Vgl. Kiesler; Sproull (1986): Response Effects in the Electronic Survey, S. 405. 128 Diese Effekte konnte Taddicken in eigenen empirischen Untersuchungen nachweisen. Vgl. Taddicken (2008): Methodeneffekte bei Web-Befragungen, S. 300 f. 129 Vgl. u.a. Joinson (2001): Self-disclosure in computer-mediated communication. 130 Vgl. Taddicken (2008): Methodeneffekte bei Web-Befragungen, S. 276 131 a.a.o. S. 183 f. 132 Vgl. Taddicken (2008): Methodeneffekte bei Web-Befragungen, S. 144. 133 Vgl. Taddicken (2008): Methodeneffekte bei Web-Befragungen, S. 127f. 134 Vgl. Taddicken (2008): Methodeneffekte bei Web-Befragungen, S. 95f.
54 Qualitative Online-Marktforschung der Person hinter dem Medium. Dies führt zu der Gefahr von Täuschungsversuchen über die Persönlichkeit der Kommunikationsteilnehmer. 135 Aber: Durch die Anonymität erfolgt auch eine objektivere, statusunabhängigere Einschätzung von Aussagen und eine Gleichwertigkeit der Kommunikationspartner. Ein weiterer Effekt tritt durch die Anonymität ein: Die Aussagen bleiben aufgrund mangelnder sozialer Sanktionen folgenlos. 136 Anonymität der Daten gehört zwar zu den Grundsätzen der Marktforschung davon unbenommen ist jedoch das Gefühl der subjektiven Anonymität des Befragten in der Befragungssituation. Dieses ist bei onlinegestützten Erhebungen am größten und ist eines der wesentlichen Vorteile dieser Erhebungsformen. 137 So wurden z.b. bei internetgestützten Erhebungen deutlich weniger Antwortverweigerungen bei sensiblen und heiklen Fragen oder bei Antworten mit Konsequenzen (z.b. in Arbeitnehmer-Befragungen) nachgewiesen. 138 Auch kann angenommen werden, dass die Probanden individuell ehrlicher antworten. 139 Allerdings ist keine Kontrolle über die Befragungssituation bei den textbasierten Befragungen zu erreichen. Weder kann die Identität der antwortenden Personen festgestellt, noch die Situation selbst störungsfrei gestaltet werden. 140 Störfaktoren sind nicht eliminierbar. Folgendes Schaubild verdeutlicht die Zusammenhänge bei Online- Befragungen: 135 Vgl. Jäckel, Michael; Lenz, Thomas; Zillien, Nicole (2002): Vor Outlook sind wir alle gleich. 136 Vgl. Taddicken (2008): Methodeneffekte bei Web-Befragungen, S. 100. 137 a.a.o. 138 Vgl. Taddicken (2008): Methodeneffekte bei Web-Befragungen, S. 101. 139 a.a.o. S. 111. 140 Vgl. Taddicken (2008): Methodeneffekte bei Web-Befragungen, S. 51.