Sozialhilfe in Graubünden am Scheideweg



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Transkript:

Fachhochschule Nordwestschweiz Hochschule für Soziale Arbeit Sozialhilfe in Graubünden am Scheideweg Anforderungen an eine wirkungsvolle Armutspolitik und Empfehlungen für das Reformprojekt Bündner NFA Autor: Patrik Degiacomi Masterthesis eingereicht im November 2008 an der Fachhochschule Nordwestschweiz Hochschule für Soziale Arbeit, Olten Institut Soziale Arbeit und Gesundheit zum Erwerb des MAS Sozialrecht Betreuungsperson: Peter Mösch Payot, MLaw, LL.M., manager nonprofit NDS FH, Dozent für Sozial- und Strafrecht/Projektleiter, HSA Luzern

Abstract Abstract Das Reformprojekt Bündner NFA der Bündner Regierung möchte die Aufgaben- und Finanzaufteilung zwischen dem Kanton Graubünden und den Gemeinden entflechten. Unter anderen Themen im Sozialbereich ist die Sozialhilfe in mehrfacher Hinsicht von diesem Projekt betroffen: Die Sozialberatung soll zu den Gemeinden verschoben und Vorgaben betreffend die Fachlichkeit der Sozialberatung und Verbindlichkeit der SKOS-Richtlinien sollen abgeschafft werden. Die vorliegende sozialwissenschaftliche Masterthesis geht auf diesem Hintergrund der Frage nach, welche Anforderungen an die heutige Sozialhilfe aus rechtlicher, organisatorischer und fachlicher Perspektive gestellt werden, damit deren sozialpolitische Zielsetzung erfüllt werden kann. Ein kleiner Blick ins benachbarte Ausland gibt einen Einblick in Lösungsansätze anderer Länder. Wirksame Armutsbekämpfung setzt gezielte Massnahmen in der Wirtschafts-, Bildungs- Migrations- und Gesundheitspolitik sowie ein kohärentes System von Sozialversicherungen voraus. Eine kommunale Sozialhilfe hat keinen nennenswerten Einfluss auf diese übergeordneten Faktoren, welche Armut generell zu verhindern helfen. Die Anforderungen an die Begründungspflicht von Entscheiden der Sozialbehörden sind aufgrund des grossen Ermessenspielraums sehr hoch. Die Beratung von Armutsbetroffenen setzt neben sozialarbeiterischem Wissen auch vertiefte rechtliche Kenntnisse voraus, damit zum Beispiel Ansprüche an Dritte korrekt abgeklärt werden können. In der Schweiz gibt es deshalb eindeutige Tendenzen zur Harmonisierung, Regionalisierung und Professionalisierung in der Sozialhilfe. Graubünden hatte in dieser Beziehung stets eine Vorreiterrolle in der Deutschschweiz. Gerade in einem Gebirgskanton mit vielen mittleren und kleinen Gemeinden wie in Graubünden könnte eine kommunale Sozialhilfe nicht die erforderlichen professionellen Strukturen bereitstellen. Eine Hochrechnung lässt vermuten, dass sich ein Abbau an Professionalität in der Sozialberatung sehr negativ auf die Gesamtkosten in der Sozialhilfe auswirken könnte. Für das Reformprojekt Bündner NFA wird empfohlen die Regionalen Sozialdienste in kantonaler Zuständigkeit zu belassen sowie im Bereich der materiellen Sozialhilfe einerseits die SKOS-Richtlinien auf Gesetzesstufe für verbindlich zu erklären und andererseits Vorgaben zu machen, welche eine Regionalisierung der Sozialbehörden fördern. 2

Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis 1 Vorwort... 5 2 Abkürzungsverzeichnis... 6 3 Einleitung... 10 3.1 Begründung der Themenwahl... 10 3.2 Ausgangslage... 11 3.3 Fragestellung und Zielsetzungen... 12 3.4 Aufbau der Masterthesis... 13 3.5 Methodenwahl... 14 4 Armut und Sozialhilfe... 16 4.1 Armut in der Schweiz und in Graubünden... 16 4.1.1 Definition von Armut... 16 4.1.2 Zahlen und Fakten... 20 4.2 Instrumente der Armutsbekämpfung... 26 4.2.1 Sozialpolitik... 26 4.2.2 Definition von Sozialhilfe... 28 4.2.3 Wesentliche Merkmale der Sozialhilfe... 29 4.2.4 Aufgaben der Sozialhilfe... 37 4.2.5 Erwünschte und unerwünschte Wirkungen... 41 4.3 Armut aus historischer Perspektive... 43 4.4 Anforderungen aus sozialpolitischer und historischer Sicht... 46 5 Normative Grundlagen der Sozialhilfe... 49 5.1 Internationales Recht... 49 5.2 Schweizerisches Bundesrecht... 52 5.2.1 Sozialhilferecht auf Bundesebene... 59 5.2.2 Entwicklungen im Sozialhilferecht auf Bundesebene... 63 5.3 Rechtsordnung des Kantons Graubünden... 64 5.3.1 Grundrechte in der Verfassung des Kantons Graubünden... 65 5.3.2 Kantonales Sozialhilferecht... 66 5.3.3 Geplante Änderungen im Rahmen der Bündner NFA... 70 5.4 Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (SKOS)... 72 5.4.1 Die SKOS als privater Fachverband... 72 5.4.2 Richtlinien zur Ausgestaltung und Bemessung der Sozialhilfe... 73 5.5 Anforderungen aus rechtlicher Sicht... 74 6 Organisation der Sozialhilfe... 77 6.1 In der Schweiz in der Übersicht... 77 6.2 In Graubünden im Detail... 83 6.3 Anforderungen an die Organisation der Sozialhilfe... 87 3

Inhaltsverzeichnis 7 Professionalität in der Sozialhilfe... 89 7.1 In der Schweiz in der Übersicht... 89 7.2 In Graubünden im Detail... 95 7.3 Anforderungen an die Professionalität in der Sozialhilfe... 96 8 Entwicklungen in den Nachbarländern... 98 8.1 Deutschland... 98 8.2 Österreich... 99 8.3 Frankreich... 100 8.4 Entwicklungen bei den Nachbarn... 101 9 Ergebnisse... 103 9.1 Anforderungen an die Sozialhilfe als Instrument zur Armutsbekämpfung... 103 9.1.1 Armut und sozialpolitische Zielsetzung der Sozialhilfe... 103 9.1.2 Rechtliche Anforderungen an die Sozialhilfe... 104 9.1.3 Anforderungen an die Organisation der Sozialhilfe... 105 9.1.4 Anforderungen an Professionalität in der Sozialhilfe... 105 9.1.5 Entwicklungen bei den Nachbarn... 106 9.2 Empfehlungen für das Reformprojekt Bündner NFA... 106 9.2.1 Wirksamkeit der Armutsbekämpfung... 107 9.2.2 Persönliche Sozialhilfe (G2)... 107 9.2.3 Materielle Sozialhilfe (G3)... 108 9.2.4 Zusammenfassung... 109 9.3 Kritische Würdigung der Ergebnisse... 110 10 Abbildungs- und Tabellenverzeichnis... 111 11 Literaturverzeichnis... 112 12 Anhang... 126 4

Vorwort 1 Vorwort Mit der vorliegenden Masterthesis sind mehrere Zielsetzungen verbunden. Hauptsächlich dient sie dem Zweck, das Studium MAS Sozialrecht abzuschliessen. Auf der anderen Seite ist mit dieser Arbeit aber auch die Hoffnung verbunden, dass deren Ergebnisse die Diskussionen im Gesetzgebungsprozess betreffend das Reformprojekt Bündner NFA versachlichen mögen und einen Beitrag leisten können die Wirkung der Armutspolitik im Kanton Graubünden zu verbessern. Beide Ziele sind nicht einfach zu erreichen. Insbesondere ob die Arbeit aber tatsächlich einen Beitrag leisten kann im Rahmen eines ökonomisch orientierten Reformprojektes Gedanken zu einer wirkungsvollen Armutspolitik ins Zentrum zu stellen, wird sich noch weisen müssen. Es ist unbestritten, dass ich für diese Arbeit einen grossen Aufwand betrieben und recherchierend, denkend und schreibend unzählige Stunden in der Bündner Kantonsbibliothek verbracht habe. Ohne das Verständnis und die Unterstützung durch meinen Vorgesetzten, Herrn Pedro Lütscher, und das Team von Pro Infirmis Graubünden wäre es nicht möglich gewesen diesen Effort zu leisten. Viele weitere Personen haben einen wertvollen Beitrag zu dieser Masterthesis geleistet. Ihnen allen gilt mein Dank dafür, dass sie sich Zeit genommen haben um mir Auskünfte zu erteilen, mir Informationen zu liefern und mich zu beraten. Zu ihnen gehören insbesondere Herr Hans Joss, Leiter der Sozialen Dienste der Stadt Chur, Herr Andrea Mauro Ferroni, Leiter des Kantonalen Sozialamtes Graubünden, Herr Ueli Tecklenburg, Geschäftsführer der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe SKOS, Herr Pirmin Joos für das hervorragende Lektorieren und Frau Sandra Hofmann, Juristin im Regionalen Sozialdienst Chur, für die Beratung bezogen auf das Bündner Sozialhilferecht. Herr Peter Mösch Payot, MLaw, LL.M., manager nonprofit NDS FH, Dozent für Sozial- und Strafrecht/Projektleiter an der HSA Luzern begleitete mich bei dieser Arbeit. Ihm möchte ich für seine wichtigen Impulse in Bezug auf die Konzeption der Masterthesis und alle weiteren Hinweise und Ratschläge besonderen Dank aussprechen. Selbstverständlich danke ich auch meinem privaten Umfeld und dabei in erster Linie meiner Frau Hoa für das Verständnis, welches sie entgegen bringen mussten, weil ich den Sommer und Herbst 2008 gedanklich und räumlich sehr oft abwesend war. 5

Abkürzungsverzeichnis 2 Abkürzungsverzeichnis A Abb. Abs. ABzKUG AHV ALV Art. ARTIAS AvenirSocial BGE BGG BfS BJ BMAS BMSK BR Bündner NFA BV CAS CCAS CIAS CVP Österreich Abbildung Absatz BR 546.270 Ausführungsbestimmungen zum kantonalen Unterstützungsgesetz Alters- und Hinterlassenenversicherung Arbeitslosenversicherung Artikel Association romande et tessinoise des institutions d action sociale Berufsverband der professionellen Sozialen Arbeit in der Schweiz Bundesgerichtsentscheid SR 173.110 Bundesgesetz über das Bundesgericht (Bundesgerichtsgesetz) Bundesamt für Statistik Bundesamt für Justiz Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Deutschland) Bundesministerium für Soziales und Konsumentenschutz (Österreich) Bündner Rechtsbuch Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgabenteilung zwischen Kanton Graubünden und Bündner Gemeinden SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft Certificate of Advanced Studies Centre communal d action sociale (Frankreich) Centre intercommunal d'action sociale (Frankreich) Christlichdemokratische Volkspartei D Deutschland 6

Abkürzungsverzeichnis DDASS DORE ebd. EGMR EKF EL Direction départementale des affaires sanitaires et sociales (Frankreich) Do Research ebenda Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Eidgenössische Kommission für Frauenfragen Ergänzungsleistungen EMRK Europäische Menschenrechtskonvention vom 04.11.1950 ESC et alt. etc. EU f ff FHNW Gde / Gden HSA IFSW IIZ ILO insb. IV IVG i.v.m. KUG Europäische Sozialcharta et alteres et cetera Europäische Union folgende fortfolgende Fachhochschule Nordwestschweiz Gemeinde / Gemeinden Hochschule für Soziale Arbeit International Federation of Social Workers (www.ifsw.org) Interinstitutionelle Zusammenarbeit International Labour Organization insbesondere Invalidenversicherung SR 831.20 Bundesgesetz über die Invalidenversicherung in Verbindung mit BR 546.250 Gesetz über die Unterstützung Bedürftiger (Kantonales Unterstützungsgesetz) 7

Abkürzungsverzeichnis KRK KV LA lit. MAMAC MAS mat. mind. OECD OG o.j. o.o. pers. resp. RSD Rz. UNO-Übereinkommen über die Rechte des Kindes vom 20.11.1989 (UNO- Kinderrechtskonvention) BR 110.100 Verfassung des Kantons Graubünden BR 546.300 Gesetz über den Lastenausgleich für bestimmte Sozialleistungen litera Medizinisch-Arbeitsmarktliche Assessments mit Case Management Master of Advanced Studies materiell mindestens Organisation for Economic Co-operation and Development SR 173.110 Bundesrechtspflegegesetz (am 01.01.2007 abgelöst durch das BGG) ohne Jahr ohne Ort persönlich respektive Regionaler Sozialdienst Randziffer S. Seite SAKE SHG SKOS SKöF SODK SR Schweizerische Arbeitskräfteerhebung BR 546.100 Gesetz über die öffentliche Sozialhilfe im Kanton Graubünden (Sozialhilfegesetz) Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe Schweizerische Konferenz für öffentliche Fürsorge (heute: SKOS) Konferenz der Kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren Systematische Rechtssammlung des Bundesrechts SVSP Schweizerische Vereinigung für Sozialpolitik 8

Abkürzungsverzeichnis Tab. UNICEF UNO USA usw. v.a. z.b. ZGB zit. ZUG Tabelle United Nations Children s Fund United Nations Organization United States of America und so weiter vor allem zum Beispiel SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch zitiert SR 851.1 Bundesgesetz über die Zuständigkeit für die Unterstützung Bedürftiger 9

Einleitung 3 Einleitung Mit der vorliegenden Masterthesis schliesst der Autor den Studiengang Master of Advanced Studies MAS Sozialrecht an der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW in Olten ab. Die Arbeit zeigt die Fähigkeiten auf, mit den in den drei besuchten Certificates of Advanced Studies CAS vermittelten Lerninhalten zum schweizerischen Sozialrecht eine konkrete Fragestellung wissenschaftsorientiert und methodisch korrekt bearbeiten zu können. Das erste Kapitel der Masterthesis dient dem Leser einerseits die Motivation des Autors und andererseits die Hintergründe des Themas sowie die Dimensionierung der Fragestellung kennen zu lernen. Anschliessend wird erläutert, wie die Arbeit aufgebaut ist und welche Methoden angewandt werden. 3.1 Begründung der Themenwahl Im Rahmen der beruflichen Tätigkeit arbeitet der Autor zu 80 Prozent als Beratungsstellenleiter bei Pro Infirmis in Ilanz. Neben der Verantwortung für die Beratungsstelle ist die Hauptaufgabe die Sozialberatung von Menschen mit einer Behinderung. Daneben ist der Autor bei Pro Infirmis Graubünden für den Bereich kantonale Sozialpolitik verantwortlich. In dieser Funktion vertritt er Pro Infirmis im Geschäftsausschuss der Behindertenkonferenz Graubünden und ist auch dort für das Ressort Sozialpolitik zuständig. Nebenberuflich ist der Autor Präsident von AvenirSocial Graubünden, der Bündner Sektion des Berufsverbandes der professionellen Sozialen Arbeit. Das Reformprojekt der Bündner Regierung zur Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgabenteilung zwischen Kanton und Gemeinden (Bündner NFA) betrifft gemäss Bericht, welchen die Bündner Regierung am 1. Mai 2008 in die Vernehmlassung geschickt hat, in verschiedenen Punkten Professionelle in Sozialer Arbeit und deren Klienten. Besonders ist dies der Fall bezogen auf die Ausgestaltung und Bemessung sowie die Organisation und Finanzierung der Sozialhilfe. Die vorliegende schriftliche Abschlussarbeit des Studienganges Master of Advanced Studies MAS Sozialrecht an der Fachhochschule Nordwestschweiz möchte aus diesem Grund noch während des Gesetzgebungsprozesses den Fokus auf die Sozialhilfe im Kanton Graubünden legen. Bevor die Bündner Regierung die Botschaft an den Grossen Rat (Parlament) des Kan- 10

Einleitung tons Graubünden veröffentlicht, werden die Ergebnisse der Arbeit vorliegen und können so im besten Fall die Botschaft oder dann vor allem die Debatten in den vorberatenden Kommissionen und im Plenum des Bündner Grossen Rates beeinflussen. 3.2 Ausgangslage Der Kanton Graubünden ist ein verzweigter, dezentral besiedelter Gebirgskanton mit einer Vielzahl von kleinen und mittleren Gemeinden. Nur gerade ein Prozent der Gemeinden im Kanton Graubünden hatte im Jahr 2001 gemäss Angaben des Bündner Departements für Finanzen und Gemeinden in den Vernehmlassungsunterlagen zur Bündner NFA mehr als 7'000 Einwohnerinnen und Einwohner, nämlich Chur und Davos. Ganze 79 Prozent der bündnerischen Bevölkerung lebten in den 99 Prozent der kleinen und mittleren Gemeinden. Die heutige Organisation und Finanzierung der Sozialhilfe nimmt auf diese besonderen bündnerischen Verhältnisse Rücksicht. Der Kanton führt in regionalen Zentren Regionale Sozialdienste (RSD), in welchen die Bevölkerung flächendeckend Zugang zu professioneller Sozialberatung hat. Kann eine wirtschaftliche Notlage nicht verhindert werden, klären die RSD die Verhältnisse der Klientel ab und stellen Gesuche an die Sozialbehörden der Gemeinden, welche Verfügungen erlassen und Auszahlungen vornehmen. Gemäss kantonaler Ausführungsgesetzgebung orientieren sie sich an den Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe SKOS betreffend die Ausgestaltung und Bemessung der Sozialhilfe. Ein Lastenausgleich sorgt dafür, dass die Gemeinden durch Beiträge des Kantons und aus einem Pool aller Gemeinden nicht übermässig belastet werden und auch dafür, dass eine gewisse Anonymität von Sozialhilfebeziehenden in einer Gemeinde besteht. Im Rahmen einer umfassenden Reform möchte die Regierung des Kantons Graubünden die Aufgabenteilung und Finanzströme zwischen dem Kanton und den Gemeinden neu gestalten und vereinfachen. Dieses Projekt nennt sich Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgabenteilung zwischen Kanton und Gemeinden (Bündner NFA). In diesem Zusammenhang sollen die Sozialdienste vom Kanton zu den Gemeinden verschoben werden und ein vereinfachter Lastenausgleich Soziales geschaffen werden. Die Vorgaben des Kantons betreffend die Ausgestaltung und Bemessung der Sozialhilfe und auch zur Professionalität in der Sozialberatung sollen aufgehoben werden, respektive im Ermessensspielraum der Gemeinden liegen. Die Kosten sollen neu vollumfänglich von den Gemeinden getragen werden. 11

Einleitung Das bisherige Sozialhilfemodell des Kantons Graubünden hat in weiten Teilen der Schweiz Vorbildfunktion. Statistiken und Umfragen geben Hinweise darauf, dass Graubünden ein effizientes und effektives System in der Sozialhilfe hat. Gemäss einer Medienmitteilung vom 24. Juni 2008 von AvenirSocial, dem Berufsverband der Sozialen Arbeit, werden nun negative Auswirkungen einerseits auf die Qualität und andererseits auch auf die Höhe der Ausgaben für die Sozialhilfe erwartet. Die Vernehmlassung wurde am 01. Mai 2008 eröffnet und dauerte bis Ende Juli 2008. Die Bündner Regierung plant die parlamentarische Beratung in der Aprilsession 2009 und die Umsetzung per 01.01.2011. 3.3 Fragestellung und Zielsetzungen Im Zusammenhang mit der Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgabenteilung zwischen Kanton und Gemeinden (Bündner NFA) legt diese Masterthesis den Fokus auf die Sozialhilfe im Kanton Graubünden. Es würde den Rahmen sprengen, alle von der Bündner NFA betroffenen Bereiche vertieft zu analysieren. Deshalb beschränkt sich die Arbeit auf die Funktion und Wirksamkeit der Sozialhilfe als sozialpolitisches Instrument zur Armutsbekämpfung. Die Frage der Finanzierung wird in dieser Arbeit teilweise angesprochen, aber nicht vertieft betrachtet. Im Kern geht es darum herauszufinden, welche Funktion die Sozialhilfe in Bezug auf die Armutsbekämpfung hat und wie die Sozialhilfe wirksam und professionell erbracht werden kann. In dieser Arbeit stehen rechtliche Aspekte im Vordergrund. Die Hauptfrage, die beantwortet werden soll, lautet demzufolge: Welches sind die heutigen Anforderungen an die Sozialhilfe im Kanton Graubünden aus rechtlicher, organisatorischer und professioneller Perspektive, damit sie ihre sozialpolitische Zielsetzung wirksam erfüllen kann? Um diese Frage beantworten zu können, ist es notwendig sich mit einer Reihe von Aspekten der Thematik zu beschäftigen und eine Reihe von Teilfragen zu beantworten: 1. Welches Ausmass an Armut gibt es in der Schweiz und in Graubünden? 2. Welches ist die sozialpolitische Zielsetzung an die Sozialhilfe im Rahmen der Armutsbekämpfung? 12

Einleitung 3. Welche Anforderungen stellen die rechtlichen Grundlagen an die Durchführungsorgane der Sozialhilfe in der Schweiz und speziell im Kanton Graubünden? 4. Welche Anforderungen stellen sich an die Organisation der Sozialhilfe in der Schweiz und speziell im Kanton Graubünden? 5. Welche Anforderungen stellen sich an die Professionalität der Leistungserbringung in der Sozialhilfe in der Schweiz und speziell im Kanton Graubünden? 6. Welche Entwicklungen und Tendenzen gibt es in der Sozialhilfe in ausgesuchten Nachbarländern? Aus diesen erarbeiteten Erkenntnissen werden anschliessend im Sinne von Schlussfolgerungen Empfehlungen für das Reformprojekt Bündner NFA abgeleitet. In der vorliegenden Masterthesis nicht beantwortet werden weitere Fragen, welche die Soziale Arbeit im Rahmen der Bündner NFA betreffen. Diese sind insbesondere die Alimentenhilfe, die Mutterschaftsbeiträge, die familienergänzende Kinderbetreuung und auch die Mütter- und Väterberatung. Mit der Beantwortung dieser Fragestellungen wird in erster Linie das Ziel verfolgt, eine Auslegeordnung zur Sozialhilfe in der Schweiz und im Kanton Graubünden im Besonderen vorzunehmen. Im Idealfall können die Ergebnisse dazu beitragen die Wirksamkeit der Sozialhilfe in der Armutsbekämpfung im Kanton Graubünden zu erhöhen. 3.4 Aufbau der Masterthesis Die aus der Hauptfragestellung abgeleiteten Teilfragen bilden im Wesentlichen das Grundgerüst der Masterthesis. Die Einleitung (Kapitel Nummer drei) führt ins Thema ein und gibt Aufschlüsse über die Motivation des Autors und die Ziele der Arbeit. Im zweiten Kapitel (Nummer vier) wird der Frage nachgegangen, welches Ausmass Armut in der Schweiz und in Graubünden hat und welche Lösungen der Staat für diese Probleme gefunden hat. Die Sozialhilfe wird dabei in einen grösseren Kontext gestellt, definiert und von anderen sozialpolitischen Instrumenten der Armutsbekämpfung abgegrenzt. Das dritte Kapitel (Nummer fünf) zeigt auf, mit welchen rechtlichen und weiteren Normen die Sozialhilfe international, in der Schweiz und in Graubünden verankert ist. Dabei wird der Fo- 13

Einleitung kus besonders auf formell- und materiellrechtliche Fragen des Anspruchs auf Hilfe in Notlagen gelegt. Weil die Richtlinien zur Ausgestaltung und Bemessung der Sozialhilfe der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe SKOS eine hohe normative Praxisrelevanz haben, werden sie ebenfalls im Kontext der normativen Grundlagen dargestellt. Im vierten Kapitel (Nummer sechs) wird die Vielfalt an organisatorischen Formen aufgezeigt, in welcher die Sozialhilfe in der Schweiz umgesetzt wird. Daraus werden Anforderungen abgeleitet, welche an die Organisation der Sozialhilfe gestellt werden. Das fünfte Kapitel (Nummer sieben) gibt einen Überblick über die Anforderungen an die Fachlichkeit in der Sozialhilfe und den faktischen Professionalisierungsgrad, in welchem die Sozialhilfe auf den verschiedenen Stufen in der Praxis vollzogen wird. Es werden Folgerungen abgeleitet für die Professionalisierung in der Sozialhilfe. Das sechste Kapitel (Nummer acht) wagt schliesslich einen Blick über die Grenze und zeigt exemplarisch und in Kürze auf, wie die Sozialhilfe in anderen europäischen Ländern organisiert ist und vor welchen Herausforderungen sie dort steht. In den Kapiteln mit der Nummer vier bis acht werden aus den jeweiligen Inhalten Anforderungen abgeleitet, welche an die Sozialhilfe in der Schweiz und besonders in Graubünden gestellt sind. Diese sind insbesondere sozialpolitischer, rechtlicher, organisatorischer und professioneller Art. Sie beinhalten aber auch Erfahrungen aus anderen europäischen Ländern. Aus diesen Anforderungen an die Sozialhilfe aus je unterschiedlicher Perspektive werden in Kapitel Nummer neun Schlussfolgerungen gezogen und Empfehlungen für Reformprojekt Bündner NFA abgegeben. 3.5 Methodenwahl Die vorliegende Masterthesis ist eine sozialwissenschaftliche Literaturarbeit. Die Fragestellung wird bearbeitet, indem sozial- und rechtswissenschaftliche Literatur sowie Gesetzestexte, Botschaften und Parlamentsprotokolle zu den relevanten Aspekten dargestellt und einander gegenübergestellt werden. Weil sich der Gegenstandsbereich mitten in einem laufenden Gesetzgebungsprozess befindet und zu einem grossen Teil auf Rechtsfragen fokussiert, gibt es insbesondere in der Zitation von Rechtsquellen wie Verfassungskommentaren Anleihen an rechtswissenschaftliche Arbeitsweisen. Zu Teilaspekten, wie den Kosten für die Organisation der materiellen Sozialhilfe, gibt es keine aussagekräftige Literatur, weshalb aus Statistiken und anderen Erhebungen mittels Daten-Analysen Zahlen errechnet und dargestellt werden. Im 14

Einleitung Rahmen eines Expertengespräches mit Andrea Mauro Ferroni, Leiter des Kantonalen Sozialamtes des Kantons Graubünden, konnten einerseits diese errechneten Daten auf ihre Plausibilität überprüft und andererseits Einschätzungen oder Wertungen vorgenommen werden. 15

Armut und Sozialhilfe 4 Armut und Sozialhilfe Das folgende Kapitel legt den Fokus auf Armut als gesellschaftliches Phänomen und auf die Sozialhilfe als sozialpolitisches Instrument zur Armutsbekämpfung. 4.1 Armut in der Schweiz und in Graubünden Damit Armut wissenschaftlich untersucht und vergleichende Studien auch mit anderen Staaten vorgenommen werden können, muss Armut definiert und es müssen Armutsgrenzen gezogen werden. Dies ist die Grundlage, um Armut auf der Basis von wissenschaftlicher Forschung gezielt bekämpfen zu können und sich aus der ideologischen Vereinnahmung der Diskussionen um die Armutsbekämpfung lösen zu können. Dieses Unterkapitel gibt einen Einblick in den Stand der Diskussion um Definitionen von Armut und Armutsgrenzen, beziffert Armut in der Schweiz und in Graubünden und gibt zum Schluss einen kurzen Einblick in die historische Entwicklung des Umganges mit Armut. 4.1.1 Definition von Armut Absolute und relative Armut, traditionelle und neue Armut, subjektive und objektive Armut, bekämpfte Armut, verdeckte Armut, anhaltende Armut, Working Poor, extreme Armut, Armut im Sinne von Prekarität Diese Begriffe aus der Literatur zeigen die Vielschichtigkeit des Begriffes der Armut. Die beiden ersten Begriffe daraus sind wohl die gebräuchlichste Unterscheidung und wichtig, um beispielsweise Armut in Entwicklungsländern von Armut in Industrienationen unterscheiden und sie verstehen zu können. Auch die Weltbank (World Bank 2008: online) und Vernunft Schweiz (2008: online), die neutrale Informationsplattform für Schweizer Politik, machen in erster Linie diese Unterscheidung. Absolute Armut Nach Kehrli und Knöpfel (2006: 23) orientiert sich das Konzept der absoluten Armut am rein physischen Überleben. Dieses ist weitgehend am körperlichen Bedarf orientiert und damit relativ zeitunabhängig. Um zu definieren, wer arm ist und wer nicht, können verschiedene Methoden gewählt und Parameter definiert werden. Die Weltbank (World Bank 2008, online) unterscheidet die beiden Methoden food-energy intake und cost of basic needs. Food-energy intake orientiert sich 16

Armut und Sozialhilfe an den Konsumausgaben, welche notwendig sind um das physische Überleben zu sichern. Es ist damit abhängig von den Lebenshaltungskosten. Cost of basic needs quantifiziert demgegenüber eine Auswahl an typischerweise von Armutsbetroffenen konsumierten Nahrungsmitteln und zusätzlich von ihnen benötigten Gebrauchsgegenständen. Absolute Armutsgrenzen werden gemäss Bundesamt für Statistik (2007b: 1) in der Regel von der Politik definiert, um festzustellen, wer Anspruch auf staatliche Unterstützungsleistungen geltend machen kann. Die Weltbank definierte gemäss Kehrli und Knöpfel (2006: 29) ein absolutes Existenzminimum, welches sich an der absoluten Armutsgrenze bei 2 US-Dollar pro Person und Tag orientiert, und wollte damit die Armut messbar machen. In der Schweiz kann offensichtlich niemand davon leben. Deshalb hängt auch die absolute Armutsgrenze vom nationalen Kontext ab. Das Bundesamt für Statistik (2007b: 1) zählt auch die Armutsgrenze, welche nach den Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe SKOS 1 ermittelt wird, zu den absoluten Armutsgrenzen, weil sie im Wesentlichen auf einem Warenkorb basiert, welcher nach der cost of basic needs Methode zusammengestellt wird. Relative Armut Nach Kehrli und Knöpfel ist das Konzept der relativen Armut grundsätzlich unabhängig vom rein physischen Überleben; es orientiert sich daran, wer im Vergleich mit den Mitmenschen in einem Land ein eingeschränktes Leben führen muss. Es ist damit ort-, zeit- und kontextabhängig (2006: 23). Nach Vernunft Schweiz (Armut) stützt sich diese Methode in der Regel auf einen gewissen Prozentsatz des zur Verfügung stehenden durchschnittlichen Einkommens der Bevölkerung ab. Die Weltbank (World Bank 2008, online) ergänzt, dass es sich ebenso auf die durchschnittlichen Konsumausgaben beziehen könnte. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung OECD und auch die Europäische Union EU ermitteln Armutsgrenzen mit Bezug auf relative Armutsbegriffe. Dabei wird ein Mittelwert (Median) des Einkommens der Gesamtbevölkerung ermittelt und in der Regel 50 oder 60 Prozent davon zur Armutsgrenze erklärt. Gemäss Kehrli und Knöpfel (2006: 30) wird das so kalkulierte Einkommen einer Einzelperson [ ] dann anhand einer Äquivalenzskala auf die verschiedenen Haushaltsgrössen aufgerechnet. 1 Siehe S. 73ff. 17

Armut und Sozialhilfe Interessanterweise erwähnen Kehrli und Knöpfel (2006: 27) im Unterschied zum Bundesamt für Statistik 2, dass sich die SKOS-Richtlinien einer relativen Methode zur Festlegung der Armutsgrenze bedienen, weil sie sich am Einkommen der untersten zehn Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung orientieren. Nach Auffassung des Autors muss hier zwischen Armutsdefinitionen und Methoden zur Festlegung der Armutsgrenze unterschieden werden, auch wenn wohl ein enger inhaltlicher Zusammenhang besteht. Die SKOS-Richtlinien enthalten Elemente beider Methoden (Warenkorb und Bezug auf Einkommensverteilung) und sind deshalb wohl als Mischform anzusehen. Nach Ansicht des Bundesamtes für Statistik (2007b: 2) hat das Konzept der relativen Armut den Vorteil, dass es eher internationale Vergleiche in der Armutsforschung zulässt. Allerdings weist es auch darauf hin, dass weder das Konzept der relativen noch jenes der absoluten Armut ohne Normen umsetzbar ist, weil bei beiden die Bestimmung der wichtigsten Parameter nicht wertfrei begründet werden kann. Existenzminimum In der Praxis hat in der Schweiz der Begriff des Existenzminimums bei der Festlegung der Armutsgrenze eine grosse Bedeutung, obwohl es keine einheitliche Norm gibt, um ein solches festzulegen. Im Betreibungs-, Sozialversicherungs- und Sozialhilferecht gibt es nach SKOS (Schweizerische Konferenz 2007c: 7) je unterschiedliche Methoden um das Existenzminimum festzulegen. Im Sozialhilferecht wird zwischen absolutem und sozialem Existenzminimum unterschieden. Das absolute Existenzminimum umfasst nach SKOS (Schweizerische Konferenz 2005: A.1-1) im Wesentlichen das zum physischen Überleben Notwendige, während das soziale Existenzminimum darüber hinaus auch die Mittel hinzuzählt, die benötigt werden um die Teilhabe am Sozial- und Arbeitsleben zu sichern. Zusätzlich zählt Schleicher (2007: 264) an derselben Stelle auch die Mittel zum sozialen Existenzminimum, die benötigt werden, um die Teilnahme und Teilhabe am kulturellen Leben zu sichern. 3 Definition von Armut Die Vereinten Nationen UNO definierten Armut 1995 in der Deklaration von Kopenhagen (A dollar a day 2008, online) als: a condition characterised by severe deprivation of basic hu- 2 Siehe S. 17. 3 Mehr zum sozialen Existenzminimum auf S. 37, 57, 68 und 73. 18

Armut und Sozialhilfe man needs, including food, safe drinking water, sanitation facilities, health, shelter, education and information. Christian Marazzi bringt die Definition von Armut im Wörterbuch der Sozialpolitik mit unerträgliche Ausgrenzung auf den wohl kürzest möglichen Nenner (Carigiet et alt. 2003: 35). Neben dem Mangel an materiellen Ressourcen zählt er auch Mängel an staatsbürgerlichen Rechten, an Teilnahme am Gemeinschaftsleben und an sozialen Alltagsaktivitäten auf. Unerträglich werde solche Armut, wenn sie auch die biologischen, psychischen und geistigmoralischen Existenzbedingungen bedrohe. Kehrli und Knöpfel (2006: 26) stützen sich auf den Entschluss des Rates der Europäischen Union von 1984 ab und definieren Armut folgendermassen: Personen, Familien und Gruppen sind arm, wenn sie über so geringe (materielle, kulturelle und soziale) Mittel verfügen, dass sie von der Lebensweise ausgeschlossen sind, die in ihrer Gesellschaft als Minimum annehmbar ist. Wird Armut auch vorwiegend mit dem Einkommensindikator gemessen, so sollen die anderen Dimensionen nicht vergessen werden. Diesen anderen Dimensionen möchte in der Schweiz das soziale Existenzminimum gemäss Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe SKOS weitgehend Rechnung tragen. Armutsgrenze in der Schweiz Das Bundesamt für Statistik veröffentlicht jährlich eine Armutsstatistik. Dabei orientiert sie sich bei der Festsetzung der Armutsgrenze an den Richtlinien der SKOS (2008a: 1). Die Armutsgrenze besteht aus den folgenden Komponenten: die Wohnkosten (namentlich die Miete), die im marktüblichen Rahmen liegen müssen der Grundbedarf für die wichtigsten Ausgabenposten: Nahrung und Getränke, Kleider, Schuhe, Gesundheitskosten, Energieverbrauch, Produkte für Reinigung und Unterhalt, Fahrkosten, Kommunikationsmittel, Körperpflege, Bildung und Freizeit, usw. die Prämien für die obligatorische Krankenversicherung (Grundprämie, die Franchise ist nicht inbegriffen) 100 Franken pro Haushaltsmitglied ab 16 Jahren, um gewissen weiteren notwendigen Ausgaben Rechnung zu tragen, wie bspw. Haftpflicht und andere Versicherungen. 2006 betrug die so definierte Armutsgrenze 2200 Franken für Alleinstehende, 3800 Franken für eine allein erziehende Frau mit zwei Kindern und 4650 Franken für ein Ehepaar mit zwei Kindern. Werden die 100 Franken pro Haushaltsmitglied abgezogen, so erhält man die Grenze harter finanzieller Entbehrung. 19

Armut und Sozialhilfe Das Bundesamt für Statistik erwähnt am gleichen Ort, dass die Armutsgrenze in der Schweiz damit leicht höher angesetzt ist als in anderen Ländern. 2006 beträgt die Schweizer Grenze ungefähr 55,3% des Medianeinkommens (nach Abzug der Steuern und der Sozialbeiträge), während die OECD (Organisation for Economic Co-operation and Development) ihre Armutsgrenze als 50% des Medianeinkommens definiert. 4.1.2 Zahlen und Fakten Wir haben weiter oben gesehen, dass es in der Schweiz verschiedene Definitionen von Existenzminima gibt 4, und auch wie die Armutsgrenze gemäss Bundesamt für Statistik berechnet wird 5. Genaue Zahlen zur Armutssituation in der Schweiz gibt es nach Caduff (2007: 15) und auch gemäss Angaben von Caritas (2006, online) jedoch nicht. Caritas schätzt, dass rund eine von sieben Personen die Existenz nicht aus eigener Kraft sichern kann. Kehrli und Knöpfel (2006: 52) kommen zum Schluss, dass rund eine Million Menschen in der Schweiz von Armut im weiteren Sinne betroffen sind. Sie bilden Kategorien von Armutsbetroffenen und analysieren verfügbare Zahlen wie diejenigen der Schweizerischen Armutsstatistik, der Schweizerischen Arbeitskräfteerhebung SAKE, des United Nations Children's Fund UNICEF und auch der Statistik der Ergänzungsleistungen zur AHV/IV und addieren sie. Sie kommen dabei (ebd.: 51) zu folgenden Armutsquoten: Jedes 6. Kind (bis 18 Jahre) ist arm. Jede 8. Person im erwerbsfähigen Alter (19 64 Jahre) ist arm. Jede 6. rentenbeziehende Person (ab 65 Jahre) ist arm. Armutsstatistik Die Armutsstatistik des Bundesamtes für Statistik erhebt die Zahlen der armutsbetroffenen Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter. Unter anderem erfasst diese Statistik die so genannten Working Poor, also die Haushalte, deren Mitglieder zusammen mindestens 36 Stunden pro Woche arbeiten. Die aktuellsten Zahlen der Armutsstatistik 2008 stammen aus dem Jahr 2006 (Bundesamt für Statistik 2008a: 2). Dabei zeigt sich das Bild, dass 380'000 Personen ein Einkommen unter der definierten Armutsgrenze haben, was einer Armutsquote von neun Prozent entspricht. Die Anzahl Personen der Working Poor liegt bei etwa 146'000 Personen oder einer Quote von viereinhalb Prozent. Die folgende Tabelle zeigt, dass die verschiedenen untersuchten Gruppen in etwa parallele Entwicklungen aufweisen und dass abgesehen von den Ar- 4 Siehe S. 18. 5 Siehe S. 19. 20

Armut und Sozialhilfe beitslosenzahlen die Armuts- und Working Poor-Quoten in den letzten Jahren insgesamt angestiegen sind. Abb. 1: Armutsquote und Working-Poor-Quote 2006. 6 Sozialhilfestatistik Seit dem Erhebungsjahr 2004 gibt das Bundesamt für Statistik jährlich eine Schweizerische Sozialhilfestatistik heraus. Die letzten Zahlen stammen aus dem Erhebungsjahr 2006 und weisen 245'156 Sozialhilfe beziehende Personen und eine gesamtschweizerische Sozialhilfequote von 3.3 Prozent aus (Bundesamt für Statistik 2008b: 25). Im Kanton Graubünden haben 2'648 Personen Sozialhilfe bezogen, was einer Sozialhilfequote von 1.4 Prozent entspricht. Nur 5 Kantone haben eine tiefere Sozialhilfequote als Graubünden: Obwalden, Appenzell IR und das Wallis mit je 1.3 Prozent, Uri mit 1.1 Prozent und Nidwalden mit 0.9 Prozent. Die folgende Tabelle zeigt die verschiedenen Sozialhilfequoten in der Schweiz. Dabei kommt zum Ausdruck, dass in städtischen Gebieten generell höhere Quoten als in ländlichen Kantonen zu verzeichnen sind. Die Sozialhilfequote ist vom Jahr 2005 zum Jahr 2006 schweizweit leicht angestiegen, im Kanton Graubünden hat sie jedoch ein wenig abgenommen. 6 Quelle: Bundesamt für Statistik: 2008a: 2. 21

Armut und Sozialhilfe Abb. 2: Sozialhilfefälle, Sozialhilfeempfänger/Innen, Ausländeranteil und Sozialhilfequote nach Kantonen 2006. 7 Die Sozialhilfestatistik (Bundesamt für Statistik 2008b: 26) bestätigt, dass Kinder und Jugendliche erhöht von Armut betroffen sind. Deren Sozialhilfequote liegt mit 4.9 Prozent deutlich höher als beim Rest der Bevölkerung. Menschen im Rentenalter haben die Möglichkeit Ergänzungsleistungen zu beziehen, weshalb deren Sozialhilfequote (ebd.: 14) deutlich tiefer ist. 7 Quelle: Bundesamt für Statistik 2008b: 25. 22

Armut und Sozialhilfe Abb. 3: Sozialhilfeempfänger/Innen nach Altersklassen 2006. 8 Regamey (2008: 47ff) gibt zu bedenken, dass die Sozialhilfestatistik zwar wichtige Daten liefert, um den Kreis der Beziehenden von Sozialhilfe zu analysieren, dass sie derzeit aber kaum in der Lage ist die Gründe für Ausschluss und Armutsbetroffenheit zu liefern. Insbesondere verweist sie auf die ungenügende Berücksichtigung der Working Poor und allgemein von Menschen, die auf einen Sozialhilfebezug verzichten. Statistik der Ergänzungsleistungen EL Das Bundesamt für Sozialversicherungen erhebt Zahlen der Beziehenden von Ergänzungsleistungen EL zu Renten der Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung. Sie sind nach Auffassung des Autors insbesondere bei Personen im Rentenalter aussagekräftig 9, da die Sozialhilfe in diesem Bereich eine untergeordnete Rolle spielt. Die Statistik für das Jahr 2007 (Bundesamt für Sozialversicherungen 2008: 8) zeigt, dass 12 Prozent der Altersrentnerinnen und Altersrentner EL beziehen. Abb. 4: Statistik der Ergänzungsleistungen für das Jahr 2006. 10 François Höpflinger kommt nach Kehrli und Knöpfel (2006: 51) zum Schluss, dass vor Auszahlung der EL 17 Prozent der betagten Personen oder 196'600 in Zahlen von Armut betroffen sind. Für einen grossen Teil dieser Personen vermögen die EL also diese Armut zu überwinden. Im Kanton Graubünden beziehen 2'770 Personen EL zur Altersrente, was einer Quote von 11.1 Prozent entspricht. In Graubünden liegt die Bezugsrate bei den EL tiefer als im schweizerischen Schnitt. 8 Quelle: Bundesamt für Statistik 2008b: 26. 9 Mit der Einschränkung, dass sie Menschen nicht erfasst, welche freiwillig auf einen Bezug von EL verzichten, oder solche, welche wegen eines faktisch nicht realisierbaren Vermögens keinen Anspruch geltend machen können. Ausserdem werden diejenigen Personen nicht erfasst, welche knapp keinen EL-Anspruch haben und deswegen auf Vergünstigungen wie Steuererlass oder Vergütung der Krankheitskosten verzichten müssen und in der Realität teils ein geringeres zur Verfügung stehendes Einkommen als EL-Beziehende haben. 10 Quelle: Bundesamt für Sozialversicherungen 2008: 8. 23

Armut und Sozialhilfe Abb. 5: Statistik der Ergänzungsleistungen des Kantons Graubünden für das Jahr 2006. 11 Armut in Graubünden Neben den erwähnten Statistiken liefert vor allem der Familienbericht des Kantons Graubünden von 2006 Berechnungen betreffend Armut in Graubünden. Das Kantonale Sozialamt (Kanton 2006a: 31) ist dabei von den Ansätzen der SKOS-Richtlinien ausgegangen. 12 Neben dem Grundbedarf wurden die Mietansätze der Stadt Chur um zehn Prozent reduziert und eingerechnet. Anschliessend wurden die Daten mit dem frei verfügbarem Einkommen verglichen, welche in einem aufwändigen Verfahren aus den Daten der Steuerstatistik des Jahres 2002 hergeleitet wurden. Es wurden zwei Berechnungen angestellt, eine unter Berücksichtung von 100 Prozent des Vermögens und eine unter Berücksichtigung von 15 Prozent des Vermögens. Ferroni (2008a: 126) unterscheidet diese beiden Gruppen als armutsgefährdet, respektive armutsbetroffen. Das Kantonale Sozialamt kommt bei ersterer Berechnung auf 8'318 armutsbetroffene Haushalte. Rechnet man diese auf die Anzahl Personen um, so ergeben sich mindestens 12'431 armutsbetroffene Personen 13. Dies entspricht einer Armutsquote von rund sieben Prozent. Bei der Berechnung mit der Berücksichtigung von 15 Prozent des Vermögens errechnete das Kantonale Sozialamt eine Anzahl von 12'096 armutsgefährdeten Haushalten. Daraus ergeben sich mindestens 17'853 betroffene Personen 14 oder eine Armutsgefährdungsquote von rund zehn Prozent. Das Kantonale Sozialamt betont, dass diese Daten nicht direkt mit anderen schweizerischen Berechnungen verglichen werden können, weil sich die Berechnungsart von anderen unterscheiden. 11 Quelle: Bundesamt für Sozialversicherungen 2008: 9. 12 Siehe dazu ab S. 73. 13 Dabei ist zu berücksichtigen, dass bei den Paaren und auch Alleinerziehenden mit mehr als drei Kindern im Familienbericht nicht weiter ersichtlich ist, wie viele Kinder genau im Haushalt leben. Es wurde deshalb jeweils mit vier Kindern gerechnet. Die effektiven Zahlen liegen also für diese Gruppen noch ein bisschen höher als errechnet. 14 Es gelten für diese Zahl dieselben Einschränkungen wie in Fussnote Nr. 13 erwähnt. 24

Armut und Sozialhilfe Abb. 6: Anzahl bedürftige Haushalte (absolut) in GR mit 100 Prozent, beziehungsweise 15 Prozent Einbezug des Vermögens. 15 AvenirSocial Graubünden geht in einer Schätzung aus dem Jahr 2007 gemäss einem Bericht in der Südostschweiz vom 15.06.2008 (ebd.: 7) in Graubünden unabhängig von den Berechnungen im Familienbericht von rund 13'000 Personen aus, was einer Armutsquote von rund sieben Prozent entspricht. AvenirSocial Graubünden stützte sich bei der Schätzung in erster Linie auf die Zahlen der Statistiken der Ergänzungsleistungen und der Sozialhilfe sowie auf die Berechnungen der Caritas. 15 Quelle: Kanton 2006a: 27. 25

Armut und Sozialhilfe Armutsauslösende Faktoren und Risikogruppen Caduff (2007: 16ff) beschäftigt sich mit armutsauslösenden Faktoren und benennt die folgenden Risikogruppen: Einelternfamilien, Alleinerziehende Menschen mit ungenügender Bildung Junge Erwachsene ohne Einkommen Menschen mit Migrationshintergrund Langzeitarbeitslose und Ausgesteuerte Working Poor Ältere Menschen Das Bundesamt für Statistik zählt in der Medienmitteilung zur Auswertung der Daten der Schweizerischen Sozialhilfestatistik des Erhebungsjahres 2006 (Bundesamt für Statistik 2008d: 1f) ähnliche Risikogruppen auf: Kinder und junge Erwachsene Alleinerziehende Personen Personen mit tiefem Bildungsabschluss Erwerbslose Personen Ausländerinnen und Ausländer 4.2 Instrumente der Armutsbekämpfung Armut wird von der Gesellschaft in aller Regel problematisiert und auf die eine oder andere Art bekämpft. Während dies in der Geschichte oft als Bekämpfung und Abweisung der von Armut betroffenen Personen erfolgte, so setzte sich bei uns im Wesentlichen die Erkenntnisse durch, dass Armut strukturell bekämpft werden soll und, dass armutsbetroffenen Personen Hilfestellungen angeboten werden müssen, um ihnen die Möglichkeit zu geben sich aus der Armut zu befreien. Das folgende Unterkapitel zeigt auf, welche Mittel in der Schweiz zu diesem Zweck vorgesehen sind. 4.2.1 Sozialpolitik Nach Möckli (1988: 33) verfolgt die Sozialpolitik eines Staates drei Ziele: sozialen Frieden im Staat, soziale Sicherheit des Individuums und soziale Gerechtigkeit in der Gesellschaft. Sozialer Friede ist gemäss Kehrli und Knöpfel (2006: 144) einerseits zu einem grossen Teil abhängig von der wirtschaftlichen Entwicklung, gründet andererseits aber auch auf einer 26

Armut und Sozialhilfe funktionierenden,sozialpartnerschaft zwischen Arbeitnehmern (repräsentiert durch die Gewerkschaften) und Arbeitgebern, zwischen Arbeit und Kapital. Soziale Sicherheit zielt gemäss Carigiet et alt. (2003: 285) auf eine globale Vision: Schutz der gesamten Bevölkerung vor den als am wichtigsten geltenden Risiken oder Eventualitäten. Sie unterscheiden an derselben Stelle zwischen einer klassischen und einer funktionalen Definition. Nach der klassischen Definition deckt die soziale Sicherheit neun Risiken ab: medizinische Versorgung, Verdienstausfall bei Krankheit, Mutterschaft, Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten, Alter, Tod, Invalidität, Arbeitslosigkeit, Familienlasten. Nach der funktionalen Definition hat die soziale Sicherheit den Auftrag, den Zugang zur medizinischen Versorgung, zu grundsätzlichen Ressourcen, zum Erwerbsersatz, zur Eingliederung sowie zur sozialen und beruflichen Wiedereingliederung zu garantieren. Carigiet et alt. weisen später (ebd.: 286) darauf hin, dass die soziale Sicherheit Teil einer politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Realität ist und mit gesellschaftlichen Entwicklungen selbst ebenfalls Veränderungen einhergehen. Garantierte Mindestrechte bleiben davon ausgenommen und haben damit eine wichtige Funktion um den sozialen Frieden zu gewährleisten. Soziale Gerechtigkeit beinhaltet gemäss Carigiet et alt. (ebd.: 124) einerseits eine formale (rechtliche) Gleichheit als Verfahrensprinzip, welches dieselben Partizipationschancen für alle Mitglieder einer Gesellschaft postuliert und weitgehend unbestritten ist. Bei der Verwirklichung der Partizipationschancen werden im moderneren Konstrukt der Beteiligungsgerechtigkeit auch die soziale Situation des Einzelnen mitberücksichtigt und annähernd gleiche Teile am gesellschaftlichen Wohlstand für deren Mitglieder angestrebt. Der schweizerische Sozialstaat versucht diese sozialpolitischen Zielsetzungen mit verschiedenen Mitteln zu verwirklichen. Wolffers hat (1993: 34) drei Grundsäulen unterschieden, die von Fluder und Stremlow (1999: 29f) leicht ergänzt wurden: 1. Gesetzliche Mindestgarantien und Schutzbestimmungen zur Sicherung der Grundversorgung in der Sozialgesetzgebung 2. Das System der Sozialversicherungen 3. Die öffentliche und private Sozialhilfe Kehrli und Knöpfel (2006: 145f) nennen dieselben Mittel, um die sozialpolitischen Zielsetzungen zu erreichen: die Sozialversicherungen, Sozialtransfers, die Sozialhilfe, staatliche 27

Armut und Sozialhilfe Grundvorsorge in der Bildung oder der Gesundheit und in Arbeitsrecht, Mietrecht, Konsumentenschutz oder Wohnbauförderung. 4.2.2 Definition von Sozialhilfe Die vorliegende Masterthesis befasst sich mit der Sozialhilfe. Auch der Begriff der Sozialhilfe kann verschiedene Inhalte zulassen. Es muss deshalb noch näher eingegrenzt werden. Carigiet et alt. (2003: 293f) übernehmen die bereits von Fluder und Stremlow (1999: 10) vorgenommene und auch von Caduff (2007: 49f) verwendete Unterscheidung der Sozialhilfe im engeren und der Sozialhilfe im weiteren Sinne und führen sie etwas weiter aus: Die Sozialhilfe im engeren Sinne (i.e.s.) sichert die Existenz bedürftiger Personen, fördert ihre wirtschaftliche und persönliche Selbständigkeit und gewährleistet die soziale und berufliche Integration. Sie ist für Menschen in Not das letzte Auffangnetz im System der sozialen Sicherheit, wenn weder die Sozialversicherungen noch die Sozialhilfe im weiteren Sinne greifen. Sozialhilfe i.e.s. ist subsidiäre und vorübergehende Hilfe in individuellen Notlagen. [ ] Die Sozialhilfe im weiteren Sinne (i.w.s.) umfasst alle bedarfsabhängigen Sozialleistungen, die neben der Sozialhilfe [Anmerkung des Autors: i.e.s. ] von den Kantonen und Gemeinden erbracht werden. Die Sozialhilfe i.w.s. wird subsidiär zu den Sozialleistungen der allgemeinen Grundversorgung (Aufrechterhaltung eines Bildungssystems, eines Rechtssystems usw.) und den Leistungen der Sozialversicherungen erbracht. Selber ist die Sozialhilfe i.w.s. der Sozialhilfe i.e.s. vorgelagert. Die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe SKOS (2005: A.I-I) definiert die Ziele der Sozialhilfe in den Richtlinien zur Ausgestaltung und Bemessung der Sozialhilfe analog zu obenstehender Definition der Sozialhilfe i.e.s. von Carigiet et alt.: Sozialhilfe sichert die Existenz bedürftiger Personen, fördert ihre wirtschaftliche und persönliche Selbständigkeit, und gewährleistet die soziale und berufliche Integration. Neben dieser Unterscheidung kann auch noch zwischen öffentlicher und privater Sozialhilfe differenziert werden. Fluder und Stremlow (1999: 30) bezeichnen die öffentliche Sozialhilfe als die Sozialhilfe i.e.s., welche von der öffentlichen Hand, also den Kantonen und Gemeinden, erbracht wird, im Gegensatz zur Sozialhilfe i.e.s., welche von privaten Hilfswerken und/oder Kirchen erbracht wird. Schleicher (2007: 256) bemerkt, dass es ausserdem eine individuelle und eine institutionelle oder eine direkte und indirekte Sozialhilfe gibt. Die individuelle oder direkte ist die öffentliche Sozialhilfe i.e.s., welche direkt auf die Sicherung der Existenz von bedürftigen Menschen 28

Armut und Sozialhilfe ausgerichtet ist, während die institutionelle oder indirekte Sozialhilfe als Finanzierung und/oder Bereitstellung von Dienstleistungen zu verstehen ist, welche die Integration dieser Menschen verbessern sollen. Fluder und Stremlow (1999: 32) stellen der individuellen die generelle Sozialhilfe gegenüber, zu welcher Prävention in Form von Sozialinformation, Sozialplanung (z.b. um soziale Probleme und Bedürfnisse frühzeitig zu erkennen) und Sozialforschung (z.b. Ursachenforschung, Erfassung der betreffenden Sachbestände). Hänzi (2008: 91) unterteilt mit einem Verweis auf Coullery (1993: 71) die generelle Sozialhilfe wiederum in die beiden Bereiche vorbeugende Sozialhilfe (Sozialforschung, Sozialplanung und Sozialinformation) und fördernde Sozialhilfe (Koordination und Subventionen). 16 Gemäss Wolffers (1993: 40) lag die Funktion der Sozialhilfe ursprünglich in der Absicherung von individuellen Einzelfällen. Durch den Aufbau des Netzes an sozialer Sicherheit durch Sozialversicherungen im 20. Jahrhundert nahm die Bedeutung der Sozialhilfe ab, sie gewinnt jedoch zunehmend wieder an Bedeutung: weg von der Absicherung individueller Notlagen von Einzelfällen hin zu einer sozialen Grundsicherung. Schleicher (2007: 258) beschreibt die neue Funktion der Sozialhilfe: Wo immer gegen soziale Risiken und ihre materiellen Folgen nicht oder nicht hinreichend vorgesorgt und abgesichert wurde, hat Sozialhilfe als letztes Netz für die Einlösung des auf Verfassungsstufe erhobenen Anspruchs auf Sozialstaatlichkeit zu sorgen zunächst einmal ganz unabhängig davon, was die Ursache der Notlage im Einzelfall denn nun gewesen ist. Auch Carigiet et alt. (2003: 294) bestätigen, dass die Sozialhilfe sich von der ursprünglichen Rolle wegbewegt hat und nun auch dauerhafte strukturell geprägte Notlagen absichern muss. Die vorliegende Masterthesis konzentriert sich auf die öffentliche individuelle Sozialhilfe i.e.s. als sozialpolitisches Instrument zur Erreichung von sozialer Sicherheit in der Schweiz. Wenn im Folgenden ohne weitere Präzisierung von der Sozialhilfe gesprochen wird, ist diese Definition und Eingrenzung gemeint. 4.2.3 Wesentliche Merkmale der Sozialhilfe Wie oben beschrieben, zählen Wolffers (1993: 34), Fluder und Stremlow (1999: 29f) und später auch Kehrli und Knöpfel (2006: 145f) die Sozialhilfe und die Sozialversicherungen zu den Mitteln des schweizerischen Sozialstaates zur Erreichung von sozialpolitischen Zielsetzungen. Um die Sozialhilfe besser verstehen zu können, lohnt es sich wesentliche Merkmale der Sozi- 16 Eine Kurzübersicht über die Inhalte der verschiedenen Formen der Sozialhilfe findet sich auf S. 37. 29