Tischrede von Micheline Calmy-Rey Bundespräsidentin Vorsteherin des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten Landsgemeinde Glarus Sonntag, 6. Mai 2007
Sehr geehrter Herr Landammann Sehr geehrte Frau Regierungsrätin Sehr geehrte Herren Regierungsräte Sehr geehrte Damen und Herren Regierungsräte des Kantons Neuenburg Sehr geehrter Herr Korpskommandant Liebe Gäste Ich freue mich sehr, zum zweiten Mal als Ehrengast an der Glarner Landsgemeinde zu sein. Diesmal als Bundespräsidentin. Das ist ja ein wichtiges Detail. Denn damit verletze ich nicht das ungeschriebene Gesetz, dass kein Bundesrat zweimal kommen darf. Dieses Gesetz gilt aber nur für die Landsgemeinde und nicht für den Kanton Glarus, so hoffe ich doch! Mit der Glarner Landsgemeinde habe ich mich schon zu Beginn meines Präsidialjahres beschäftigt. Sie trat in meiner Neujahrsansprache prominent in Erscheinung. Als Ort des Fortschritts und des sozialen Ausgleichs. Beides nährt sich aus dem Dialog. Der Dialog stellt für mich ein wesenhaftes Element unserer eidgenössischen politischen Kultur dar. Ohne Dialog ist keine direkte Demokratie möglich. Und die Glarner Landsgemeinde ist die eigentliche Verkörperung des Geistes der direkten Demokratie. Dieser Geist hinterlässt auch seine Spuren in der Schweizer Aussenpolitik. Das direkt-demokratische Erbe ist für mich sowohl eine Verpflichtung und eine Legitimation. Ich bin überzeugt, dass sich die grossen Konflikte in der Welt nur im Dialog mit allen Parteien lösen lassen. Ich wage mich daher mit unserem demokratischen Rucksack auch im Nahen Osten oder im Kosovo einzumischen, wenn dies von allen Seiten gewünscht wird. Natürlich sind unsere vielfältigen Formen der direkten und indirekten Demokratie, oder der Föderalismus keine Produkte, die wir tel quel exportieren können. Aber sie können Anschauungsunterricht sein. Dieser Unterricht wird international gerne in Anspruch genommen, weil wir damit keine Lektionen erteilen und auch nicht im Hintergrund Machtpolitik betreiben wollen. 2/5
Lassen Sie mich drei Beispiele geben, wie unsere direkte Demokratie international wirkt: Im Süden des Sudan haben wir aufgrund der traditionellen Strukturen die Schaffung eines House of Nationalities angeregt. Das ist eine Art Landsgemeinde von Stammesführern, welche diesem von Bürgerkrieg verwüsteten Land wieder Halt geben können. In der UNO setzt sich die Schweiz im Sicherheitsrat für mehr Transparenz und Demokratie ein. Wir wollen, dass sich der Ring in New York vergrössert und dieser vermehrt der Weltöffentlichkeit Rechenschaft ablegen muss. In der EU hat sich das Bewusstsein für Bürgernähe und direkte Demokratie nach der Ablehnung der Verfassung in Frankreich und Holland verschärft. Der bilaterale Weg hat auch in der EU zu einem grösseren Verständnis und gar neidvollen Blicken auf unsere direkte Demokratie geführt. Das heisst natürlich nicht, dass Brüssel ein einfacherer Verhandlungs-partner geworden ist. Im Ausland aber auch im Inland wird der direkten Demokratie oft Langsamkeit vorgeworfen. Glarus liefert damals wie heute den besten Gegenbeweis: Mitten in der sozialen Finsternis der industriellen Revolution wurde hier 1848 das erste Fabrikgesetz verabschiedet. Erstmals war es verboten, dass schulpflichtige Kinder vor dem 12. Altersjahr in Spinnereien arbeiten. Heute bei uns eine Selbstverständlichkeit, damals aber eine humanitäre Revolution. Man stellte das Kind als menschliches Wesen über seinen kurzfristigen Wert als Produktionsfaktor. Wir feiern in diesem Jahr 60 Jahre AHV auf eidgenössischer Ebene: Die Glarner Landsgemeinde gab der Regierung bereits1899 den Auftrag, eine Alters- und Invalidenversicherung einzuführen, 1916 wurde das Gesetz verabschiedet. Vor einem Jahr beschlossen die Glarnerinnen und Glarner im Ring die radikalste Gemeindefusion der Schweiz. Gemäss wichtigen Kommentatoren hat sich damit die Landsgemeinde sogar selber überrascht. Sie gestatten mir an dieser Stelle ein wenig Wehmut: Wenn doch dieser innovative Pioniergeist nur auch beim Frauen-Stimmrecht gewirkt hätte! Da mussten halt die Walliser Frauen und Männer von Unterbäch den 3/5
Stein ins Rollen bringen. Eines halte ich aber der Landsgemeinde zu Gute. Als das Frauenstimmrecht auf eidgenössischer Ebene angenommen wurde, hat die Landsgemeinde der zögernden Regierung Beine gemacht, dass sie es vollumfänglich und schnell im Glarnerland einführte. In vielem sind die Glarnerinnen und Glarner Weltmeister (z.b. beim Skifahren oder natürlich in der Schabziger-Produktion). In einem Bereich hat der Stand Glarus aber ein klares Defizit: Bundesräte oder gar Bundesrätinnen aus dem Glarnerland sind in der Geschichte der Eidgenossenschaft Mangelware. Woran mag das liegen? Hängt es vielleicht damit zusammen, dass Glarner Politiker so gute Exportprodukte sind? Die Bundesräte Tschudi und Feldmann machten Karriere in Basel und Bern. Und auch der einzige Vollblut-Glarner Bundesrat, Joachim Heer verdiente sich als Schweizer Gesandter in Berlin die Sporen ab, bevor er in den Bundesrat gewählt wurde. Heute enden diplomatische Karrieren in Berlin leider nicht immer so glücklich! Oder ist der Grund ein ganz anderer? Sind womöglich Ihre Stände- und Nationalräte, sowie die eigene Kantonsregierung so einflussreich und stark, dass Glarus gar keinen Bundesrat braucht? Wie dem auch sei. Die Glarner Abwesenheit im Bundesrat hat den Vorteil, dass es immer Bundesräte aus anderen Kantonen sind, welche die einzigartige Glarner Landsgemeinde als Ehrengäste mitverfolgen dürfen. Und ein Aspekt kommt noch hinzu. Ich wage es kaum zu sagen und ich weiss, es ist vielleicht etwas unhöflich: aber so ganz unglücklich bin ich nicht, dass Bundesräte wie Feldmann mit dem kämpferischen Glarner Naturell derzeit nicht in Bern sitzen. In der Neutralitätsfrage hätte ich mit ihm sicher so lebendige Diskussionen gehabt wie mein Amtsvorgänger Max Petitpierre. Und Sie können mir glauben, die Beratungen im Bundesrat sind heute schon animiert genug. Schliesslich fasziniert mich am Kanton Glarus auch seine Offenheit und seine Integrationskraft. Das fängt schon beim Kantonswappen an. Während andere Kantone furchteinflössende Tiere, wie Bären oder Adler auf ihrem Banner 4/5
tragen, repräsentiert ein Ausländer den Kanton Glarus in der Bundeshauskuppel. Heute könnte der irische Wandermönch, St. Fridolin, immerhin von der Personenfreizügigkeit mit der EU profitieren. Tibetische Flüchtlinge, die anfangs der siebziger Jahre in den Kanton Glarus gekommen sind, nehmen heute gleichberechtigt an der Landsgemeinde teil. Gleichzeitig können Sie ihre Religion, ihre Traditionen und Bräuche pflegen und brauchen ihre Wurzeln nicht zu verleugnen. Die Schweiz und der Kanton Glarus stehen vor grossen Herausforderungen sei es wegen dem globalen Strukturwandel, dem Klimawandel oder der demographischen Entwicklung. Ich bin aber überzeugt, dass wir mit den Werten und Traditionen des Dialogs, der Offenheit, der Innovation und der Integration, diese Herausforderungen erfolgreich meistern können. Hier in Glarus werden diese Werte und Traditionen hochgehalten und kommen an der Landsgemeinde in einer vollendeten Form zum Ausdruck. 5/5