Predigt im Gottesdienst vom 25. Oktober 2015 Reformierte Kirche Birmensdorf Die Ersten werden wie die Letzten sein und die Letzten wie die Ersten Evangelium - Mt 20,1-16 Das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg Denn mit dem Himmelreich ist es wie mit einem Gutsherrn, der am frühen Morgen ausging, um Arbeiter für seinen Weinberg einzustellen. Nachdem er sich mit den Arbeitern auf einen Denar für den Tag geeinigt hatte, schickte er sie in seinen Weinberg. Und als er um die dritte Stunde ausging, sah er andere ohne Arbeit auf dem Marktplatz stehen, und er sagte zu ihnen: Geht auch ihr in den Weinberg, und was recht ist, will ich euch geben. Sie gingen hin. Wiederum ging er aus um die sechste und neunte Stunde und tat dasselbe. Als er um die elfte Stunde ausging, fand er andere dastehen, und er sagte zu ihnen: Was steht ihr den ganzen Tag hier, ohne zu arbeiten? Sie sagten zu ihm: Es hat uns niemand eingestellt. Er sagte zu ihnen: Geht auch ihr in den Weinberg! Es wurde Abend und der Herr des Weinbergs sagte zu seinem Verwalter: Ruf die Arbeiter und zahl ihnen den Lohn aus, angefangen bei den Letzten bis zu den Ersten. Und als die von der elften Stunde kamen, erhielten sie jeder einen Denar. Und als die Ersten kamen, meinten sie, dass sie mehr erhalten würden; und auch sie erhielten jeder einen Denar. Als sie ihn erhalten hatten, beschwerten sie sich beim Gutsherrn und sagten: Diese Letzten haben nur eine Stunde gearbeitet, und du hast sie uns gleichgestellt, die wir die Last des Tages und die Hitze ertragen haben. Er aber entgegnete einem von ihnen: Freund, ich tue dir nicht unrecht. Hast du dich nicht mit mir auf einen Denar geeinigt? Nimm, was dein ist, und geh! Ich will aber diesem Letzten gleich viel geben wie dir. Oder ist es mir etwa nicht erlaubt, mit dem, was mein ist, zu tun, was ich will? Machst du ein böses Gesicht, weil ich gütig bin? So werden die Letzten Erste sein und die Ersten Letzte. 1
Predigt Liebe Gemeinde, Gleicher Lohn für ganz unterschiedliche Arbeitszeiten - ist das gerecht? Stellen sie sich vor, sie gehen täglich frühmorgens zu ihrer Arbeit. Kurz vor Arbeitsschluss kommt ein Arbeitskollege von ihnen, arbeitet eine Stunde, packt dann zur selben Zeit wie sie die Sachen zusammen und macht Feierabend. Das geschieht nicht nur einmal, sondern an jedem Arbeitstag. Am Ende des Monats erhalten sie und ihr Arbeitskollege jedoch den genau gleichen Lohn. Jede und jeder von uns wäre darüber höchst empört. Wir würden dagegen Sturm laufen und uns beim Arbeitgeber beschweren wie es die Arbeiter im Weinberg taten, die sich dort seit dem frühen Morgen abrackerten. Wer mehr arbeitet, soll mehr Lohn erhalten. Das entspricht unserem natürlichen Gerechtigkeitssinn. Es ist darüber hinaus auch gerecht, wenn jemand, der viel Verantwortung trägt, für die gleiche Arbeitszeit mehr Lohn erhält. Die Wahnsinnsunterschiede bei den Gehältern, die es auch in unserem Land gibt, sind damit freilich nicht gemeint. Aber es muss nachvollziehbare Unterschiede geben. Anders funktioniert unsere menschliche Gerechtigkeit nicht. Eine Stunde Arbeit ist etwas anderes als zwölf Stunden Arbeit. Und die Piloten eines Flugzeugs tragen mehr Verantwortung als die Flugbegleiter. Das rechtfertigt Lohnunterschiede. Der Besitzer des Weinbergs macht nun aber keinen Unterschied. Ob jemand nun zwölf oder eine Stunde gearbeitet hat, ob jemand viel oder weniger Verantwortung trägt - er bezahlt allen den gleichen Lohn. Das ist nicht gerecht. Wirtschaftlich gesehen, ist es auch sehr dumm, was der Gutsbesitzer da macht. Denn wenn er Arbeit gleich bezahlt, egal ob jemand kurz oder lang arbeitet, handelt er 2
unwirtschaftlich und läuft sogar in Gefahr, früher oder später pleite zu gehen. In der Tat ist jener Besitzer des Weinbergs nicht nur ungerecht, sondern dazu noch ein schlechter Buchhalter. Liebe Gemeinde, es mag sie aufgrund des bisher Gesagten im ersten Moment überraschen, aber in unserer christlichen Glaubenstradition steht dieser Besitzer des Weinbergs für Gott. Wie? Ist Gott etwa ungerecht? Kürzlich habe ich im Internet eine Dialogpredigt von zwei Schweizer Theologieprofessorinnen über unser heutiges Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg gelesen. Die theologische Kurzsichtigkeit mit der die beiden Professorinnen das Gleichnis deuten, hat mich dann doch etwas überrascht. Die beiden Frauen sind sich darüber einig, dass es wahnsinnig ist, Gott mit diesem ungerechten, despotischen Gutsbesitzer zu vergleichen. Gott sei vielmehr auf der Seite der murrenden Arbeiter, die vom Gutsbesitzer hintergangen werden. Wenn wir das Gleichnis nur aus der horizontalen, d.h. der weltlichen Perspektive lesen, wie auch ich das am Anfang dieser Predigt getan habe, dann haben die beiden Theologinnen natürlich vollkommen recht. Aber Jesus erzählt uns gerade kein Gleichnis über eine weltliche Begebenheit, die wir mit weltlichen Massstäben zu beurteilen haben. Darum beginnt er die Erzählung ja auch mit den Worten: "Mit dem Himmelreich ist es wie mit einem Gutsherrn..." Das Himmelreich, die vertikale Dimension, die Wirklichkeit Gottes ist gemeint, und da geht es anders zu und her als in dieser Welt. Wir müssen es also mit anderen Augen sehen und anders begreifen. Aber wie? Womit ist das Himmelreich zu vergleichen? Eben mit jenem Gutsbesitzer, der allen den gleichen Lohn auszahlt, ob sie nun eine Stunde oder zwölf Stunden arbeiten. 3
Im Himmelreich, in der göttlichen Dimension ist mit "Lohn" nun aber etwas anderes gemeint als in dieser Welt. Es geht hier nicht um Geld oder Entgelt für eine getane Arbeit. Es geht vielmehr um den Wert und die Bedeutung, die wir als Menschen vor Gott haben. Wenn Gott allen ohne Unterschied den gleichen "Lohn" zahlt, heisst das: Alle Menschen sind geborgen im Blick der Liebe Gottes. So unterschiedlich wir in dieser Welt sind - in einer Beziehung sind wir alle gleich: Uns alle schaut Gott mit dem Blick der Liebe an. Vor Gott haben wir alle eine Menschenwürde, die ganz unabhängig ist von unserem Schicksal in dieser Welt und von dem, was wir hier zu leisten vermögen. Verdienen können wir uns diese Würde also auch nicht. Gott schenkt sie uns umsonst, gratis. Gott ist also keineswegs ungerecht. In seinem Blick fallen vielmehr Gerechtigkeit und Güte zusammen. Mit diesem Blick schaut er uns an und fragt uns: Blickt dein Auge neidisch, weil ich gütig bin? Mit diesem Blick geht er auf alle Menschen zu, stellt sie auf eine Stufe, die Großen wie die Kleinen, die Mächtigen wie die Ohnmächtigen, Frauen wie Männer, Junge wie Alte, Arme wie Reiche. Im Blick der Liebe Gottes, der allen Würde schenkt, sind alle gleich. Die Ersten sind wie die Letzten und die Letzten wie die Ersten. Das gilt nicht nur vor Gott, sondern auch vor Menschen. Auch für unsere menschliche Gerechtigkeit gilt im Hinblick auf die Menschenwürde, dass die Letzten soviel zählen wie die Ersten und umgekehrt. Wie stünde es sonst um diejenigen, die sich nicht durch ihre Leistung rechtfertigen können? Ich denke an Kinder, an Behinderte, Kranke und Betagte. Ist für sie kein Platz in unserer Gesellschaft vorgesehen? Es wäre doch nicht Gerechtigkeit, sondern ein Alptraum, wenn wir nur noch die anerkennen würden, die fit und leistungsstark sind. Für jede und jeden von uns kann morgen alles anders sein. Unsere Stärke kann in Schwäche umschlagen. Wo nur Leistung zählt, wird das Leben sinnlos, wenn man nichts mehr leisten kann. Wir leben nicht nur von dem, was wir hervorbringen, sondern von dem, was uns geschenkt wird. Darin sind wir alle gleich. 4
Deshalb sprechen wir von einer Würde, die uns allen geschenkt wird und die uns niemand nehmen darf. Das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg lehrt uns: Es gibt eine Gleichheit der Menschen, die grundsätzlicher ist als alle Verschiedenheit. Alle Menschen stehen im Blick der Liebe Gottes, der uns einen Namen schenkt, noch bevor wir uns namhaft gemacht haben. Alle Menschen haben eine unverlierbare Würde. Unterschiede, die wir machen, haben sich daran zu messen. Nur dann können wir sie verantworten. Nur dann halten wir der Einsicht stand: Auch wer zuletzt kommt, ist von Gott geliebt. Amen. Aesch, 22. Oktober 2015 Pfarrer Marc Stillhard 5