Pflegende Angehörige als Adressat_innen einer vorbeugenden Pflegepolitik: eine intersektionale Analyse

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Transkript:

Pflegende Angehörige als Adressat_innen einer vorbeugenden Pflegepolitik: eine intersektionale Analyse Vernetzungstreffen Sozialpolitikforschung NRW Bochum, 22.11.18 Simone Leiber (Uni Duisburg-Essen) Sigrid Leitner (TH-Köln)

Übersicht 1 1. Das Projekt PflegeIntersek 2. Ergebnisse: Typologie des Bewältigungshandelns sorgender Angehöriger 3. Konzept: Care for Carers 4. Intersektionalitätsanalyse als handlungswissenschaftliche Orientierung

1. Das Projekt PflegeIntersek 5 Förderung durch das FGW (2016-2018) Projektteam an drei Standorten TH Köln: Sigrid Leitner/Kerstin Discher UDE: Simone Leiber/Petra Kaiser FH Bielefeld: Diana Auth/Anika Varnholt Forschungsfrage: Wie bewältigen sorgende Angehörige ihren Alltag und welche Unterstützungsbedarfe ergeben sich daraus aus einer Perspektive vorbeugender Sozialpolitik?

1. Das Projekt PflegeIntersek 5 Eine intersektionale Analyse bietet nicht nur die Möglichkeit, sozialpolitische Strukturen und Prozesse macht- und ungleichheitssensibel zu untersuchen, sondern kann auch dazu dienen, eine ganzheitliche handlungswissenschaftliche Orientierung zur Konzeptionalisierung von Hilfe, Unterstützung und Sozialplanung (Fleischer 2014: 25) zu geben. Spannungsfeld von Grundlagenforschung und Politikberatung

1. Vorannahmen 4 Forschungslücke: Gruppenspezifische Bedarfe sorgender Angehöriger zwar bekannt, aber kaum intersektionale Analysen Sorgende Angehörige sind heterogen, sie unterscheiden sich nach versch. Differenzkategorien und deren Wechselwirkungen Sampleauswahl entlang der Kategorien sozioökonomischer Status (SÖS), Geschlecht, Erwerbsstatus und Ethnizität (türkischstämmig) Intrakategorialer Ansatz: SÖS zentral

1. Sampleplan 5

1. Datenerhebung 6 37 leitfadengestützte Interviews mit Angehörigen, die ihre (Schwieger-)Eltern pflegen Nur stark belastetet Pflegearrangements (Demenz oder mind. Pflegegrad 3) Beschränkung auf städtischen Raum Nicht befragt: Niedriger SÖS/Mann/OM/NEW Hoher SÖS/Mann/M/NEW

1. Auswertungsschritte 7 Auswertung durch thematisches Codieren Vertiefende Fallauswertungen für 20 ausgewählte Interviews (Auswahl nach Fallkontrasten, möglichst große Heterogenität) Welche Kategorien und Dominanzverhältnisse werden wie relevant und wie wirken sie zusammen? Welche Identitätskonstruktionen zeigen sich und wie sind die Rahmenbedingungen der Pflegesituation? Fallvergleichende Analyse

2. Ergebnisse: Zur Relevanz der Differenzkategorien 8 SÖS ist wichtig, aber dominiert nicht als Differenzkategorie, er kann überlagert oder kompensiert werden Migrationshintergrund wird von anderen Differenzkategorien überlagert Aber: Migrationshintergrund der Pflegebedürftigen wird als Rahmenbedingung des Pflegearrangements wirksam Selbstsorgeorientierung/Grad des Selbstsorgehandelns als zentrale Differenzlinie (induktive Analyse)

2. Typologie des Bewältigungshandelns 9 Eher gelingende Pflegebewältigung Pflege wird im Einklang mit den eigenen Vorstellungen gestaltet Psychosoziales Belastungserleben ist geringer Selbstwirksamkeitserleben hoch Personale und soziale Bewältigungsressourcen Eher prekäre Pflegebewältigung Lebensentwurf wird den Bedürfnissen der pflegebedürftigen Person weitestgehend untergeordnet (hohe Fremdbestimmung) Psychosoziales Belastungserleben ist hoch Pflegesituation wird als wenig oder nicht kontrollierbar erlebt Kaum personale und soziale Bewältigungsressourcen

2. Gelingende Pflegebewältigung 10 Typ 1: Pflegeorganisation rund um die Erwerbstätigkeit Hoher sozioökonomischer Status Aufrechterhaltung der Erwerbsarbeit Ausgeprägtes Selbstsorgehandeln Zentraler Bedarf Pflegesensible Arbeitsumgebung

2. Gelingende Pflegebewältigung 11 Typ 2: Aktiv genutzte Familienressourcen Niedriger sozioökonomischer Status Aufrechterhaltung der Erwerbstätigkeit bzw. des gewählten Lebensentwurfs Selbstsorgehandeln wird durch Familienressourcen ermöglicht (schaffen Freiräume) Zentrale Bedarfe: Zugehende Pflegebegleitung für Information, Beratung und Mediation Vorbeugung Altersarmut

2.,Gelingende Pflegebewältigung 12 Typ 3: Sinnstiftung Keine oder geringfügige Erwerbstätigkeit Selbstsorgehandeln liegt in der sinnhaften Pflegeaufgabe Geschlechtsspezifische Identitätskonstruktionen Zentraler Bedarf: Frühzeitige Burnout-Prävention

2. Prekäre Pflegebewältigung 13 Typ 4: Alternativlosigkeit Hoher oder niedriger sozioökonomischer Status Keine oder unabdingbare Erwerbstätigkeit Selbstsorgehandeln kann nicht praktiziert werden Nur Frauen im Sample Zentrale Bedarfe: Stärkung der Selbstsorgeorientierung (Psychosoziale Unterstützung)

2.,Prekäre Pflegebewältigung 14 Typ 5: Ringen um Kontrolle Hoher sozioökonomischer Status Aufrechterhaltung der Erwerbsarbeit Selbstsorgehandeln instabil und von Fremdbestimmung beeinflusst Nur Frauen im Sample Zentrale Bedarfe: Konfliktbewältigung im Familienkontext (Coaching) Pflegesensible Arbeitsbedingungen

3. Care for Carers 15 Handlungsansätze für die Praxis, welche die eigenständigen Bedarfe sorgender Angehöriger ins Zentrum stellen: typenspezifische Bedarfe typenübergreifende Bedarfe Einbezug der Praxis durch Auftaktworkshop Wissenschaft-Praxis-Dialog

4. Intersektionalitätsanalyse als handlungswiss. Orientierung 16 Zentral: Sensibilisierung der (Beratungs- )Praxis für Differenzkategorien und deren Wechselwirkungen Gefahr der Stereotypisierung und Nicht- Berücksichtigung von Spezifika des Einzelfalls Leseanleitung Care for Carers: Alle genannten Bedarfe können im Einzelfall relevant werden! Herausforderung: Benennung von Differenzen/Typen versus Heterogenität der Empirie

Literatur 17 Auth, Diana, Petra Kaiser, Simone Leiber und Sigrid Leitner (2018): Sorgende Angehörige als Adressat_innen einer vorbeugenden Pflegepolitik Eine intersektionale Analyse. FGW-Studie Vorbeugende Sozialpolitik Nr. 15. Düsseldorf: FGW. Fleischer, Eva (2014): Intersektionalität als unverzichtbare Forschungsperspektive im Bereich informeller Pflege, Betreuung und Begleitung alter Menschen, in: Erna Appelt et al. (Hrsg.), Elder Care: Intersektionelle Analysen der informellen Betreuung und Pflege alter Menschen in Österreich, Innsbruck, 13-31.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!