Frith Autismus Verlag Hans Huber Programmbereich Psychologie Wissenschaftlicher Beirat: Prof. Dr. Guy Bodenmann, Zürich Prof. Dr. Dieter Frey, München Prof. Dr. Lutz Jäncke, Zürich Prof. Dr. Franz Petermann, Bremen Prof. Dr. Hans Spada, Freiburg i. Br. Prof. Dr. Markus Wirtz, Freiburg i. Br.
Uta Frith Autismus Eine sehr kurze Einführung Aus dem Englischen von Jürgen Neubauer Verlag Hans Huber
Programmleitung: Tino Heeg Herstellung: Jörg Kleine Büning Umschlaggestaltung: Claude Borer, Basel Druckvorstufe: punktgenau gmbh, Bühl Druck und buchbinderische Verarbeitung: AALEXX Buchproduktionen GmbH, Großburgwedel Printed in Germany Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Anregungen und Zuschriften bitte an: Verlag Hans Huber Lektorat Psychologie Länggass-Strasse 76 CH-3000 Bern 9 Tel: 0041 (0)31 300 4500 Fax: 0041 (0)31 300 4593 verlag@hanshuber.com www.verlag-hanshuber.com Es wurden alle Anstrengungen unternehmen, den Urheberrechtsinhaber dieser Bilder zu kontaktieren. Sollte der Rechtsinhaber sich melden, werden wir uns bemühen, Sie angemessen zu erstatten. Die englische Originalausgabe erschien 2008 unter dem Titel «Autism: A Very Short Introduction» bei Oxford University Press. Uta Frith 2008 1. Auflage 2013 (E-Book-ISBN [PDF] 978-3-456-95294-9) (E-Book-ISBN [EPUB] 978-3-456-75294-5) ISBN 978-3-456-85294-2
5 Inhalt Einleitung... 7 1. Das Autismusspektrum... 9 2. Der Wandel des Autismus... 39 3. Die Autismusepidemie... 67 4. Autismus als neurologische Entwicklungsstörung... 87 5. Soziale Kommunikation: des Pudels Kern... 107 6. Die Welt aus anderen Augen... 137 7. Von der Theorie zur Praxis... 167 Abbildungen... 195 Literatur................................. 199 Register... 205
7 Einleitung Ich war davon ausgegangen, dass es mir leichtfallen würde, diese kurze Einführung zum Thema Autismus zu schreiben. Wie sehr hatte ich mich getäuscht! Es war ein langwieriger, langsamer und manchmal sogar schmerzhafter Prozess. Er zwang mich, meine früheren Arbeiten zur Hand zu nehmen, verschiedene Theorien zum Autismus gegeneinander abzuwägen und eine Auswahl zu treffen. Dabei musste ich einmal mehr feststellen, dass es wenig gesicherte Fakten zum Thema Autismus gibt. Daher habe ich aus der rasch wachsenden Forschungsliteratur die plausibelsten Theorien ausgewählt, die meiner Ansicht nach dem Zahn der Zeit am ehesten widerstehen werden. Angesichts dieser Schwierigkeiten war es umso wichtiger, dass ich fachkundige Leser fand, die den Entstehungsprozess des Buchs begleiteten. Dafür danke ich besonders Chris Frith, Francesca Happé und Sarah White. Sie gaben mir wertvolle Hinweise und machten Vorschläge, die das Buch entscheidend verbessert haben. Sie gaben mir schließlich auch den Mut, auch einige eher spekulative Theorien anzusprechen. Außerdem danke ich meinen treuesten und kons t- ruktivsten Kritikern, Alex und Martin Frith. Alex hat
8 Einleitung den Text einfühlsam lektoriert. Meine Freundin Heide Grieve hat mir wie immer mit Rat und Tat zur Seite gestanden. Außerdem danke ich Chris, Franky und Sarah, die mir bei der Auswahl der Themen für diese kurze Einführung geholfen haben. Dieses Buch widme ich ihnen. Aarhus, 24. Januar 2008
9 Kapitel 1 Das Autismusspektrum Ist es Autismus? Stellen Sie sich eine junge Mutter mit ihrem Kind vor. Sie liebt ihr Söhnchen heiß und innig, und er ist ein hübsches Kerlchen. Doch gelegentlich spürt sie die nagende Frage in sich aufkommen, ob Mickey wirklich ein normaler, glücklicher Junge werden wird. Woher soll sie zum Beispiel wissen, dass er nicht unter Autismus leidet? Das Thema macht immer wieder Schlagzeilen. Immerhin soll fast ein Prozent aller Kinder von Autismus betroffen sein, und Jungen sogar fünfmal so häufig wie Mädchen. Der Gedanke, dass ihr eigenes Kind autistisch sein könnte, weckt alle möglichen Ängste. Aber was sind die ersten Anzeichen des Autismus? Hat es etwas zu bedeuten, dass Mickey viel weint, wenig schläft und sich nur schwer beruhigen lässt? Dianes Mutter behauptet zwar, das sei völlig normal. Doch Diane macht sich Sorgen, dass Mickey sich nicht immer zu ihr umdreht, wenn sie von der anderen Seite des Zimmers aus nach ihm ruft.
10 Kapitel 1 Diane begann, sich mit dem Thema Autismus zu beschäftigen, doch die Information trug nicht zu ihrer Beruhigung bei. Sie las, dass autistische Kinder oft erheblich in ihrer allgemeinen Entwicklung zurückblieben. Bei vielen Kindern wurden die ersten Symptome erst im zweiten Lebensjahr erkennbar. Manche Kinder lernten nicht sprechen, andere waren kleine Genies. Wie viele Menschen, die zum ersten Mal mit dem Thema Autismus in Berührung kommen, war Diane einerseits verwirrt, aber andererseits auch neugierig. Das Rätsel Autismus Auch ich war verwirrt und neugierig, als ich als Studentin in den 1960er-Jahren zum ersten Mal dem Thema Autismus begegnete. Mehr noch, die Kinder, die ich während meiner Ausbildung zur klinischen Psychologin im Londoner Maudsley Hospital kennenlernte, faszinierten mich und stellten mich vor ein Rätsel. Genau diese Faszination war es auch, die mich motivierte, keine Anstellung als klinische Psychologin anzunehmen, sondern mich der Forschung zuzuwenden. Damals arbeiteten vier Pioniere der Autismusforschung am Mauds ley Hospital: der Kinderpsychiater Michael Rutter, die Epidemiologin Lorna Wing und die Psychologen Neil O Connor und Beate Hermelin. Ich hatte einige ihrer Aufsätze gelesen, aber ich hatte keine Ahnung, dass sie alle in demselben Krankenhaus arbeiteten.
Das Autismusspektrum 11 In ihren Aufsätzen schilderten die Wissenschaftler fortschrittliche Wahrnehmungs- und Gedächtnisexperimente, die sie mit autistischen Kindern durchgeführt hatten. In diesen Experimenten verglichen sie Kinder, die als geistig behindert galten, mit Kindern, die damals zum ersten Mal überhaupt als autistisch bezeichnet wurden, und stellten eindeutige Unterschiede fest. Diese Unterschiede waren ein Hinweis auf einen unterschiedlichen Verstand und ließen sich nicht durch mangelnde Intelligenz oder Motivation wegerklären. Ich staunte über die Eleganz der Experimente und darüber, dass sie derart eindeutige Ergebnisse erbrachten. Beate Hermelin und Neil O Connor hatten Möglichkeiten gefunden, Fragen zu beantworten, die mir damals großes Kopfzerbrechen bereiteten. Warum sind autistische Kinder zum Beispiel außerstande, scheinbar einfache Aufgaben zu erledigen? Und warum fällt es ihnen leicht, Aufgaben zu lösen, die anderen Kindern Schwierigkeiten bereiten? Warum ist ein Kind, das ein gutes Gedächtnis für Wörter besitzt, nicht in der Lage, deren Bedeutung zu verstehen? Diese Widersprüche und Rätsel sollten mich nicht mehr loslassen und motivierten mich, nach Antworten zu suchen. Auch vierzig Jahre später ist die Faszination dieselbe geblieben. Auf einige meiner Fragen haben wir zwar inzwischen Antworten gefunden, die ich in diesem Buch vorstelle, doch es gibt nach wie vor viel zu
12 Kapitel 1 entdecken, und das Rätsel Autismus ist nach wie vor ungelöst. Schon sehr früh machte ich die Erfahrung, dass beim Autismus nichts so ist, wie es auf den ersten Blick erscheint. Nur weil ein Kind nicht auf Ihre Bemühungen reagiert, bedeutet das nicht, dass das Kind Sie ablehnt. Die fehlende Reaktion hat viel tiefere Gründe. Und nur weil ein Kind sich nicht an Wörter und Bilder erinnert, bedeutet dies nicht, dass es sich nicht an die Namen und Gesichter von Menschen erinnert. Eine meiner erstaunlichsten Erkenntnisse war, dass Autismus in vieler Hinsicht schlimmer sein kann, als blind oder taub zur Welt zu kommen. Von einigen Ausnahmen abgesehen können autistische Kinder sogar ausgezeichnet sehen und hören. Doch während blinde und taube Kinder über einen besonderen Sinn verfügen, mit dem sie soziale Signale empfangen und auf sie reagieren, geht autistischen Kindern dieser Sinn ab. Es lässt sich nur schwer nachvollziehen, was es bedeutet, diesen sozialen Sinn nicht zu haben, nicht auf einer Wellenlänge mit anderen Menschen zu sein, ihre Handlungen und Reaktionen nicht zu verstehen und die Signale, die sie einander und ihnen geben, nicht deuten zu können. Genau dazu sind autistische Kinder nämlich nicht in der Lage. Sie haben allerdings die verstandesmäßigen Fähigkeiten, mit deren Hilfe sie sich das Wissen über diese Signale aneignen können.
Das Autismusspektrum 13 Doch dieses erlernte Wissen unterscheidet sich von dem intuitiven Wissen, mit dem andere Menschen wie selbstverständlich soziale Situationen verstehen. Auch farbenblinde Menschen können Wissen über Farben erwerben und sie korrekt benennen, doch sie erleben Farben anders. Der Zusammenhang zwischen Autismus und der Erfahrung sozialer Kommunikation ist ganz ähnlich. Aber warum lernen autistische Kinder anders? Weil Autismus so früh beginnt, sind ihnen viele soziale Lernmöglichkeiten versperrt. In der normalen Entwicklung folgen Kinder dem ausgetretenen Weg, den Evolution und Kultur vorgezeichnet haben. Autistische Kinder müssen dagegen ihre eigenen Trampelpfade anlegen. Deshalb unterscheiden sie sich nicht nur von nicht autistischen Kindern, sondern auch untereinander. Das Autismusspektrum Bei meiner ersten Begegnung mit autistischen Kindern war ich mir nur vage der Tatsache bewusst, dass es unterschiedliche Grade von Autismus gibt. In der Klinik begegnete ich nur schweren Fällen. Wenn ich heute mit autistischen Kindern zu tun habe, bin ich oft erstaunt, wie funktional viele von ihnen sind und wie häufig der Autismus nur schwach bis mäßig ausgeprägt ist. Unter den mit Autismus diagnostizierten
14 Kapitel 1 Kindern sind Fälle mit klassischen Symptomen die Ausnahme. Es gibt diese Fälle natürlich noch, und sie weisen dieselben Symptome auf wie vor vierzig Jahren. Heute wird der Autismus jedoch sehr viel weiter gefasst und hat eine große Bandbreite von Symptomen. Daher spricht man heute auch von einem Autismusspektrum. Hinter dieser Vorstellung des Spektrums verbirgt sich die Erkenntnis, dass es nicht einen Autismus gibt, sondern eine große Vielfalt von «Autismen». Alle beginnen schon mit der Geburt und wirken sich auf die Entwicklung des Gehirns aus. Doch die Kinder können sich auf sehr unterschiedliche Weise entwickeln. Daher weisen Autisten eine große Vielfalt von Verhaltensweisen auf. Manchmal kann eine Familie mit Fug und Recht stolz auf ihr Kind sein, das auf interessante Weise anders ist als die anderen Kinder und vielleicht sogar eine besondere Begabung mitbringt. In anderen Fällen wird die gesamte Familie zerstört, weil das Kind so schwierig ist, dass niemand mit ihm fertigwird. Dazwischen liegen viele Schattierungen, und die meisten bringen eine Mischung aus faszinierenden und frustrierenden Eigenschaften mit. Obwohl jeder Mensch mit Autismus in vieler Hinsicht einmalig ist, gibt es einige grundsätzliche Ähnlichkeiten. Typisch für die leichten wie die schweren Formen innerhalb des Autismusspektrums ist zum Beispiel die Unfähigkeit zu normalen, wechselseitigen