Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Urs Kindhäuser Skript zur Vorlesung Strafrecht BT 6: Straftaten gegen die Ehre A) Allgemeines 1. Ehrbegriff: normativ-faktischer Ehrbegriff: Geschützt wird einerseits der personale, andererseits der soziale (tatsächliche) Geltungswert einer Person (vgl. BGHSt 11, 67 [70 f.]; Geppert Jura 1983, 530 [531 ff.]). faktisch: Leumund und Ehrgefühl normativ: personaler Geltungswert oder verdienter sozialer Geltungsanspruch (vgl. Hirsch, Ehre und Beleidigung, 1967, 29 ff., 45 ff., 72 ff.; Tenckhoff JuS 1988, 199 [203]). interpersonal: Ehre ist das von der Würde des Menschen geforderte und dessen Selbständigkeit als Person begründende Anerkennungsverhältnis mit anderen Personen (Wolf ZStW 81 [1969], 886 [893 ff.]; NK-Zaczyk Vor 185 Rn. 1). Sicherung der informellen (alltäglichen) Zurechnung vor Verfälschung (Jakobs Jescheck-FS 627; zust. SK-Rudolphi/Rogall Vor 185 Rn. 28 ff., 31) 2. Passive Beleidigungsfähigkeit natürliche Personen Personengesamtheit, wenn sie einen einheitlichen Willen bilden kann und eine rechtlich anerkannte Funktion in der Gesellschaft erfüllt (vgl. BGHSt 6, 186 [191]; BayObLG NJW 1990, 1742; S/S- Lenckner/Eisele Vor 185 Rn. 3 f.; abl. NK-Zaczyk Vor 185 Rn 12). Beispiele: Bundeswehr (BGHSt 36, 83 [88]); Handelsgesellschaften und juristische Personen (BGHSt 6, 186 [191]; OLG Köln NJW 1979, 1723); politische Parteien (OLG Düsseldorf MDR 1979, 692). vgl. 194 Abs. 3, Abs. 4 StGB nicht Familie (h.m., BGH JZ 1951, 520). Verstorbene sind nach h.m. nicht beleidigungsfähig (BGHSt 7, 129 [132]; 23, 1 [3]; S/S- Lenckner/Eisele Vor 185 Rn. 2; a.a. LK-Hilgendorf 189 Rn. 2); für sie gilt 189 StGB. 3. Beleidigung unter einer Kollektivbezeichnung (BVerfG NStZ 1992, 535) Die Beleidigung unter einer Kollektivbezeichnung betrifft die dem Kollektiv zugehörenden einzelnen Personen, nicht das Kollektiv als solches. Der betroffene Personenkreis muss überschaubar und die ihm zugehörenden Personen müssen individualisierbar sein (vgl. BGHSt 36, 83 [85 ff.]). Kollektivbeleidigungen sind z.b. negative Äußerungen über die Ärzte des X-Krankenhauses, die Richter der 3. Strafkammer in Y oder die als Juden vom Nationalsozialismus verfolgten Menschen (vgl. BGHSt 11, 207 [208]; 16, 49 [57]; 40, 97 [103]). Zur Gleichsetzung von Soldaten mit (potentiellen) Mördern vgl. BVerfGE 93, 266 ff.; Herdegen NJW 1994, 2933 f.; Otto NStZ 1996, 127 f.; Stark JuS 1995, 689. 4. Struktur von Äußerungsdelikten Kundgabe: Erfolg ist die an einen anderen gerichtete und von diesem zur Kenntnis genommene ehrenrührige Äußerung. Wenn der Sinn einer Äußerung nicht begriffen wird, fehlt eine Voraussetzung, unter der die Ehre einer Person überhaupt tangiert werden kann (vgl. BGHSt 9, 17 [19]; SK-Rudol-phi/Rogall 185 Rn. 18, S/S-Lenckner/Eisele 185 Rn. 16; a.a. wegen des sonst angeblich fehlenden Schutzes von Kindern und Geisteskranken BGHSt 1, 288 [291]; 7, 129 [132];). Keine Kundgabe in folgenden Fällen (h.m.): Mitteilungen im Familienkreis über (nicht anwesende) Dritte fehlt Kundgabecharakter (OLG Stuttgart NJW 1963, 119; Geppert Jura 1983, 533 ff.) 1
Gespräche Anwalt/Mandant (OLG Hamburg NStZ 1990, 237), unter Verlobten (BVerfG NJW 1995, 1477), Partnern in eheähnlicher Verbindung (BVerfG NJW 1997, 185 [186]), Briefverkehr von Untersuchungs- oder Strafgefangenen mit Familienangehörigen (BVerfGE 90, 255 [262]). Schaffen von ehrmindernden Fakten, z.b. Verstecken der Tatwaffe bei einem Unschuldigen (vgl. BGH NStZ 1984, 216; S/S-Lenckner/Eisele 186 Rn. 7; NK-Zaczyk 186 Rn. 12; a.a. Otto BT 32 Rn. 18). 5. Konkurrenzen: 185 StGB ist bei ehrenrührigen Tatsachenbehauptungen wie Werturteilen gleichermaßen erfüllt, tritt aber hinter 186, 187 StGB subsidiär zurück, wenn der Täter eine ehrenrührige Tatsache gegenüber Dritten äußert. 185 StGB greift daher nur selbständig ein, wenn der Täter entweder gegenüber dem Beleidigten selbst eine ehrenrührige Tatsache äußert oder wenn er gegenüber dem Beleidigten und/oder gegenüber einem Dritten ein ehrenrühriges Werturteil fällt. Soweit der Täter ehrenrührige Werturteile und Tatsachenbehauptungen nebeneinander äußert, können 185 StGB und 186, 187 StGB auch tateinheitlich verwirklicht sein, so etwa, wenn die ehrenrührige Tatsache unter den Voraussetzungen einer Formalbeleidigung mitgeteilt wird (vgl. BGHSt 12, 287 [292]; BayObLG NJW 1962, 1120). Literatur: Zur sog. Auschwitz-Lüge : BGHSt 40, 96 mit Anm. Baumann NStZ 1994, 392 und Jakobs StV 1994, 540. B) Üble Nachrede ( 186 StGB) 1. obj. Tatbestand Tatsache : alle vergangenen oder gegenwärtigen Sachverhalte (Geschehnisse, Zustände) einschließlich solcher der menschlichen Psyche, die objektiv bestimmt und dem Beweis zugänglich sind (vgl. RGSt 6, 56 [58]; BGHSt 15, 24 [26]). zur Abgrenzung von Werturteilen: Diese sind das Ergebnis einer bereits vollzogenen Wertung und nur dann keine Behauptung einer Tatsache im Sinne des Tatbestands, wenn sie kein Faktenmaterial zur Fällung eines eigenen Urteils enthalten (vgl. BGHSt 6, 357; 12, 287). behaupten : Eine Tatsache als nach eigener Überzeugung wahr hinstellen. Hierbei ist es gleichgültig, ob auf eigene oder fremde Wahrnehmung verwiesen wird. verbreiten : Eine Tatsache als Gegenstand fremden Wissens weitergeben. Die Mitteilung eines Gerüchts als bloßes Gerücht ist das Verbreiten einer Tatsache. Beachte: Einem Verbreiten steht nicht entgegen, wenn sich der Täter von der Information distanziert, indem er sie etwa als nach seiner Überzeugung haltlos hinstellt (vgl. BGHSt 18, 182 [183]). in Beziehung auf einen anderen : die Äußerung muss (auch) gegenüber einem anderen als dem Verletzten selbst abgegeben werden. 2. Verbrechenssystematische Einordnung der nicht erweislichen Wahrheit H.M.: objektive Bedingung der Strafbarkeit, die nach h.m. nicht Gegenstand subjektiver Zurechnung ist (BGHSt 11, 273 [274]; Geppert Jura 1983, 582 f.). Der Tatbestand ist nur dann nicht verwirklicht, wenn im Strafverfahren der Nachweis von der Wahrheit der fraglichen Tatsache ( in ihrem Kern ) erbracht wird. Der Grundsatz in dubio pro reo greift bei offener Beweislage nicht zugunsten des Täters ein. Auch die Überzeugung des Täters von der Wahrheit berührt den subjektiven Tatbestand nicht. Mindermeinung: Täter muss (Schuldprinzip!) zumindest fahrlässig hinsichtlich der Zweifelhaftigkeit seiner Informationsquelle gehandelt haben (vgl. Hirsch, Ehre und Beleidigung, 1967, 168 ff.; Jakobs AT 10/2; Kindhäuser, Gefährdung als Straftat, 1989, 307 f.; NK-Zaczyk 186 Rn. 19 m.w.n.). Beachte: 190 StGB enthält eine bindende Regel über den Wahrheitsbeweis bezüglich solcher Straftaten, die Gegenstand eines Strafverfahrens waren. 2
3. öffentlich begangen: ehrenrührige Tatsache wird vor einem größeren, individuell unbestimmten Personenkreis geäußert. 4. Verbreiten von Schriften (vgl. 11 Abs. 3 StGB): Äußerung muss in gegenständlicher Fixierung in fremde Hände gelangen. Die Übergabe an nur eine Person reicht aus, wenn dies mit der Intention erfolgt, sie auf diese Weise weiteren Personen zugänglich zu machen (RGSt 16, 245; abl. NK-Zaczyk 186 Rn. 32). Fall 1: Um sich an seiner Freundin F zu rächen, die ihn verlassen hat, gibt A eine Zeitungsannonce unter dem Namen der F auf, in der diese ihre Dienste als Callgirl anbietet (vgl. BGH NStZ 1984, 216). C) Verleumdung ( 187 StGB) 1. Die Vorschrift enthält zwei unterschiedliche Tatvarianten: Beleidigungsdelikt ( Verleumdung i.e.s.) und Vermögensdelikt (Kreditgefährdung). 2. Abgrenzung zu 186 StGB: Unwahrheit der ehrenrührigen Tatsache muss im Prozess nachgewiesen werden. 3. wider besseres Wissen : Handeln mit dolus directus 4. Eignung zur Kreditgefährdung Kredit : Vertrauen, das jemand hinsichtlich der Erfüllung seiner Verbindlichkeiten genießt (NK- Zaczyk 187 Rn. 4). Die Tatsache muss nicht ehrenrührig sein; ausreichend ist etwa die Behauptung, jemandem sei die Arbeitsstelle gekündigt worden. Adressat braucht der Äußerung keinen Glauben zu schenken (abstraktes Gefährdungsdelikt). 5. Kundgabe in einer Versammlung: Versammlung : größere Zahl von Menschen, die sich zu einem bestimmten Zweck räumlich vereinigt haben. Erfasst werden auch geschlossene Veranstaltungen. 6. Tateinheit, wenn in einer kreditgefährdenden Äußerung zugleich eine Ehrverletzung liegt (h.m., SK-Rudolphi/Rogall 187 Rn. 12). Fall 2: A hatte als verantwortlicher Redakteur einer Zeitung in einem Artikel behauptet, ein bayerischer Minister habe zu den Kunden eines Call-Girl-Rings gehört, der damals Gegenstand eines Aufsehen erregenden Kuppelei-Prozesses war. Dieser Behauptung lag ein unwahres Gerücht zugrunde, das dem damaligen Staatsminister S solche Verbindungen nachsagte. Indessen nannte die Veröffentlichung keinen Namen und brachte damit alle 7 damaligen Minister der bayerischen Staatsregierung, darunter auch den Strafantragssteller, Staatsminister Dr. H, an dessen Integrität der A nicht zweifelte, in einen entsprechenden Verdacht (BGHSt 19, 235). Fall 3: Um die geschäftliche Expansion seines Konkurrenten K zu bremsen, behauptet der Autohändler A in einer Versammlung der Industrie und Handelskammer, K könne aufgrund schwindender Auftragseingänge eine im Bau befindliche Ausstellungshalle nicht mehr finanzieren. *** D) Beleidigung ( 185 StGB) 1. Beleidigung : Kundgabe eigener Nichtachtung oder Missachtung (h.m., BGHSt 1, 289; 11, 67; 16, 58 [63]; LK-Hilgendorf 185 Rn. 1). Beleidigung ist nur die unverdiente Missachtung; wer etwa einen Raubtäter einen Kriminellen nennt, begeht keine Beleidigung. Auslegung aus der Sicht eines unbefangenen Erklärungsempfängers im konkreten Kontext. Kasuistik bei NK-Zaczyk 185 Rn. 9 f. 3
2. Begehungsformen Bloße Weitergabe der ehrverletzenden Äußerung eines anderen ist mangels eigener herabsetzender Stellungnahme nicht tatbestandsmäßig (vgl. OLG Köln NJW 1993, 1486 [1487]). Beleidigung durch Unterlassen ist möglich (z.b. Ingerenz). Die Beleidigung kann gegenüber dem Betroffenen oder einem Dritten begangen werden. 3. Arten der Äußerung: durch Wort, Schrift, Bild, Gesten oder Tätlichkeiten Die Beleidigung kann anonym erfolgen (NK-Zaczyk Vor 185 Rn. 21); das bloße Schaffen eines kompromittierenden Sachverhalts reicht nicht. Tätlichkeit : Handlung, die unmittelbar auf den Körper des Opfers einwirkt (BGHSt 35, 77; LK- Hilgendorf 185 Rn. 15); eine Mindermeinung verlangt keine Berührung (S/S-Lenckner/Eisele 185 Rn. 18). Exemplarisch: Anspucken (OLG Zweibrücken NJW 1991, 241) oder Ohrfeigen. 4. Umstritten, ob bei ehrenrührigen Tatsachenbehauptungen Unwahrheit (wie bei 187 StGB) Tatbestandsmerkmal (h.m., vgl. S/S-Lenckner/Eisele 185 Rn. 6 m.w.n.) oder (wie bei 186 StGB) objektive Strafbarkeitsbedingung ist (so OLG Frankfurt MDR 1980, 495). Für die h.m. spricht, dass die gegenüber herabsetzenden Werturteilen intensivere Rufschädigung durch ehrenrührige Tatsachenbehauptungen, die den besonderen Ehrenschutz durch 186 StGB rechtfertigt, auf Zweipersonenverhältnisse nicht zutrifft. 5. Subjektiver Tatbestand: Vorsatz (zumindest dolus eventualis). 6. Rechtfertigungsgründe zur Einwilligung: BGHSt 5, 362; 8, 357. Fall 4: A schrieb im Juni 1954 auf einer Postkarte an einen Bekannten: Der Jude ist wie eine Laus, die setzt sich in Pelz und geht nicht mehr raus. Der Hitler hatte so schön aufgeräumt mit dieser Gesellschaft, jetzt kommen sie schon wieder. Diese Bemerkung richtete sich unmittelbar gegen einen Dr. E, den der A irrtümlich für einen Juden hielt. Der öffentlichen Klage gegen den A schlossen sich neben Dr. E der Landesverband der jüdischen Gemeinden in H an (BGHSt 11, 207). E) Üble Nachrede und Verleumdung gegen Personen des politischen Lebens ( 188 StGB) F) Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener ( 189 StGB) 1. Rechtsgut von 189 StGB: nach h.m. nicht die Ehre (des Verstorbenen), sondern das Pietätsempfinden der Angehörigen sowie der Allgemeinheit (OLG Düsseldorf 1967, 1142; Fischer 189 Rn. 2; modifizierend NK-Zaczyk 189 Rn. 1: Rechtsgut sei die Ehre des Adressaten in ihrem besonderen Andenken zum Verstorbenen); nach verbreiteter Mindermeinung auch Ehre des Verstorbenen (LK-Hilgendorf 189 Rn. 2; Hirsch, Ehre und Beleidigung, 1967, 125; Welzel 315 f.). 2. verunglimpfen : erhebliche Kränkung durch Tatsachenbehauptungen oder ein herabsetzendes Werturteil (BGHSt 12, 364; LK-Hilgendorf 189 Rn. 3; besonders schwere Kränkung: BayObLG NJW 1988, 2902). 3. Irrtumsfragen (bzgl. Verstorbensein) Wenn der Täter einen Toten verunglimpft, den er für lebend hält: Wird mit der h.m. das Pietätgefühl als geschützt angesehen: Straflosigkeit zu bejahen, da 185 ff. keine Versuchsstrafbarkeit kennen. Falls Rechtsgut des 189 StGB auch die Ehre, begeht der Täter bei Unkenntnis des Todes des Betroffenen eine Tat nach 189 StGB. 4
Entsprechendes gilt, wenn der Täter einen Lebenden beleidigt, den er für tot hält. G) Wahrheitsbeweis durch Strafurteil ( 190 StGB) H) Beleidigung trotz Wahrheitsbeweises ( 192 StGB) I) Wahrnehmung berechtigter Interessen ( 193 StGB) 1. Zweck Rechtfertigungsgrund (BGHSt 18, 182) Ausprägung des Grundrechts der freien Meinungsäußerung (BGHSt 12, 287 [293]) zum sog. Soldatenurteil : BVerfG NJW 1994, 2943; Stark JuS 1995, 689; Herdegen NJW 1994, 2933. 2. Anwendungsbereich 3. berechtigtes Interesse Wahrnehmung von Interessen der Allgemeinheit durch den einzelnen? Presse (BVerfGE 12, 113, 126; BGHSt 18, 182) Kunstwerke (BVerfGE 75, 369, 376) 4. subjektiver Tatbestand 5. Formalbeleidigung Umstände 6. Durchführung der Interessenabwägung Vorliegen eines berechtigten Interesses; Erforderlichkeit, Eignung und Angemessenheit der Äußerung; wie bei 34 durch umfassende Güter- und Interessenabwägung zu ermitteln; gegebenenfalls Pflicht zu sorgfältiger Information; subjektiv: Handeln zur Interessenwahrung. J) Strafantrag ( 194 StGB), Wechselseitig begangene Beleidigungen ( 199 StGB), Bekanntgabe der Verurteilung ( 200 StGB) 5