Bildungsperspektiven für benachteiligte und schulschwächere Kinder und Jugendliche



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Transkript:

Bildungsperspektiven für benachteiligte und schulschwächere Kinder und Jugendliche 1. Vorbemerkung Bereits seit vielen Jahren bezieht der BDKJ Bayern Stellung in aktuellen bildungsund schulbildungspolitischen Fragestellungen und tritt ein für eine Neugestaltung der Bildungslandschaft sowie ein neues, umfassendes Verständnis von Bildung. Die daraus resultierende Vielzahl von Positionierungen, Stellungnahmen und Forderungen hat zum Ziel, Bildungspolitik in Bayern mitzugestalten und mitzuprägen 1. Dabei sind immer wieder die Bildungsperspektiven benachteiligter und schulschwächerer Kinder und Jugendlicher berücksichtigt worden, jedoch ohne sich diesen gezielt und ausschließlich zu widmen. Dies soll das nun vorliegende Positionspapier leisten, wobei wir unseren Blick auf die schulische Bildungssituation dieser Kinder und Jugendlichen fokussieren. Dass die Verbesserung der Bildungschancen dieser Kinder und Jugendlichen nach wie vor dringend geboten ist, zeigt nicht zuletzt die aktuelle Studie der OECD. 2. Der Bildungsbegriff des BDKJ Bayern Der Bildungsbegriff des BDKJ Bayern wurde bereits mehrfach beschrieben, unter anderem in der Standortbestimmung zu Jugendarbeit und Bildung im Jahr 2002 und im Beschluss des BDKJ-Landesausschuss im November 2003 Für ein neues Verhältnis von Jugendarbeit und Schule. Die bisher getroffenen Aussagen behalten weiterhin Gültigkeit und sind im bildungspolitischen Diskurs bisher nur unzureichend berücksichtigt worden. Das 2002 formulierte Bildungsverständnis der katholischen Jugend(verbands)- arbeit hält unter anderem fest: Bildung ist der Chancengleichheit verpflichtet und hält die Zugangschancen für jeden Menschen zu Bildung offen, da diese die Grundlage zur gesellschaftlichen Teilhabe und Beheimatung in der Welt ist. Jeder Mensch hat den gleichen Anspruch auf Entfaltung seiner individuellen Möglichkeiten und die Anerkennung von Individualität und Differenzen. Diese Feststellung ist insbesondere im aktuellen Kontext von Bildungsperspektiven von benachteiligten und schulschwächeren Kindern von Bedeutung. Der BDKJ Bayern tritt ein für eine Form der Bildung, die zur Subjektwerdung aller Kinder und Jugendlicher beiträgt unabhängig von Abstammung und 1 Vgl. Demokratieoffensive 2001, Beschluss der BDKJ-Landesversammlung II/2001; Standortbestimmung zu Jugendarbeit und Bildung Beschluss der BDKJ- Landesversammlung Juli 2002; Ganztagesschule in Bayern, Beschluss des BDKJ- Landesausschuss Februar 2005; Für ein neues Verhältnis von Jugendarbeit und Schule, Beschluss BDKJ-Landesausschuss November 2003; Nein zu Studiengebühren in Bayern, Beschluss des BDKJ-Landesausschusses Februar 2005; Beschluss zur Unterstützung des aktuellen Volksbegehrens G9, Beschluss der BDKJ-Landesversammlung Juni 2005

Seite 2 von 7 Geschlecht. Bildung verstehen wir als einen ganzheitlichen, dialogischen Prozess, der Kinder und Jugendliche auch in schulischen Zusammenhängen als gleichwertige PartnerInnen im Bildungsgeschehen versteht und ernst nimmt. Von handlungsleitendem Interesse ist es dabei für uns, die Anliegen und Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen aufzugreifen und zu vertreten. 3. Faktoren, die Benachteiligung begünstigen Zunächst muss vorausgeschickt werden, dass die nachfolgend beschriebenen Faktoren kaum unabhängig voneinander auftreten bzw. Bildungsbenachteiligung begünstigen, sondern sich im Gegenteil fast immer gegenseitig bedingen und verstärken. Dies ist bei der Beurteilung bzw. Bekämpfung der Faktoren besonders zu berücksichtigen. 3.1. Migrationshintergrund Die Länderauswertung von PISA 2003 und die Bildungsberichterstattung 2006 des Instituts für Schulqualität und Bildungsforschung (ISB) zeichnen ein bedrückend düsteres Bild der Bildungssituation von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund in Bayern. Im Durchschnitt sind diese bei niedrigeren Bildungsabschlüssen deutlich überrepräsentiert, 74,4% (vs. 41,1%) wechseln nach der Grundschule auf eine Hauptschule, nur 6,6% (vs. 20,0%) erreichen das Abitur, 16,5% (vs. 4,4%) verlassen die Schule nach Ende der Schulpflicht sogar ohne jeglichen Schulabschluss 2. Damit stellen sie die absolute Mehrheit der Jugendlichen ohne Schulabschluss. Das seit 15 Jahren kaum veränderte Übertrittsmuster nach der Grundschule dokumentiert den strukturellen schulischen Misserfolg von inzwischen mehreren SchülerInnengenerationen. Beim PISA-Ländervergleich zeigt sich für Jugendliche mit Migrationshintergrund ein deutliches Leistungsdefizit in allen gemessenen Bereichen. Die Ursachen der schwächeren Leistungen sind der Auswertung zufolge allerdings primär im Sprachgebrauch zu finden. So reicht das Leistungsniveau von Jugendlichen mit Migrationshintergrund, die deutschsprachig sind, d.h. im Alltag hauptsächlich deutsch sprechen, vergleichsweise nahe an das der Jugendlichen ohne Migrationshintergrund heran. Je höher der Anteil des nichtdeutschen Sprachgebrauchs ist, desto höher der Abstand zu den Jugendlichen mit deutscher Muttersprache. In Mathematik beläuft sich der Rückstand der fremdsprachigen Schülerinnen und Schüler auf 106 Punkte 3, und auch bei der Lesekompetenz zeigen sich ähnlich drastische Unterschiede. Das Leistungsniveau von Jugendlichen mit Migrationshintergrund differiert dabei zusätzlich zwischen den Herkunftsländern. Besonders auffällig sind die Defizite im Sprachgebrauch der türkischstämmigen Jugendlichen, die unter den Jugendlichen mit Migrationshintergrund in Bayern die größte Gruppe stellen. 73% der Jugendlichen sind zwar in Deutschland geboren, nur 33,6% sind aber der deutschsprachigen Gruppe zuzurechnen. Im Lesen und in der mathematischen Kompetenz erreichen diese Jugendlichen im Durchschnitt nur rudimentäre 2 Die Zahlen des ISB, wie sie hier zitiert werden, beruhen auf ausländischen Schülerinnen und Schülern. Für alle Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund dürfte die Lage demnach noch ungünstiger sein. 3 35 bis 40 Punkte entsprechen einem Schuljahr. Vgl. Günter Reiter / Claudia Haider (2004): Pisa 2003. Graz, S. 32 ff. PISA-Konsortium Deutschland (Hrsg.): PISA 2003 Der zweite Vergleich der Länder in Deutschland, S. 284.

Seite 3 von 7 Grundkompetenzen, die kaum den Ansprüchen in Gesellschaft, Ausbildung und Arbeitsmarkt gerecht werden: Die Gruppe [ ] ist anhand dieser Ergebnisse offenbar als eine Gruppe einzuschätzen, für deren soziale und wirtschaftliche Zukunft eine unzureichende Grundlage besteht. 4 3.2. Soziale Herkunft und familiärer Hintergrund Eine der erschütterndsten Erkenntnisse aus der PISA-Studie war wohl, dass die soziale Herkunft nach wie vor besonders stark dafür verantwortlich ist, welche Bildungschancen Kinder und Jugendliche im deutschen Bildungssystem haben. Dieser Zusammenhang ist schon länger bekannt und gilt in besonderer Weise auch für das bayerische Bildungssystem. Der deutliche Zusammenhang von schulischen Leistungen mit sozialen Indikatoren wie Haushaltseinkommen, Berufen oder Schulabschlüssen der Eltern (also der sozialen Herkunft bzw. dem familiären Hintergrund) ist auch bei Tests im Rahmen der Bildungsberichterstattung in Bayern für 2006 sehr gut zu erkennen 5. Mit einer schlechten sozialen Position (z.b. durch Arbeitslosigkeit oder Armut) ist oft ein niedriger Bildungsstand der Eltern verbunden, der sich in einem Mangel an Büchern oder im Fehlen von häuslichen Inputs oder Unterstützungsleistungen, aber auch von außerschulischen Hilfen ausdrücken kann. Insgesamt konnte zwar seit 1952 das Bildungsniveau in allen Sozialgruppen gesteigert werden, doch nur im Bereich der mittleren Bildungsschichten konnten soziale Chancenunterschiede verringert werden. Dagegen ist der Anteil der Kinder aus bildungsnahen Schichten, die ein Gymnasium besuchen viermal so hoch wie der Anteil der Kinder aus Facharbeiterfamilien. 6 Beim Besuch von Hauptschulen ergibt sich das gegenteilige Bild: 2002 erhielten doppelt so viele Kinder aus Arbeiterfamilien nur eine Empfehlung für die Hauptschule wie Kinder aus Nicht-Arbeiterfamilien 7. Ähnliche Proportionen lassen sich auch für die Quoten von StudienanfängerInnen beobachten. Bildungsdefizite im Sprach-, Spiel- und Arbeitsverhalten, die Kinder aus armen Familien häufiger als andere mitbringen, können durch die Schule nicht ausgeglichen werden, sondern werden eher noch verschärft 8. So verschlechtern sich die relativen Chancen (bildungs-)armer Personen auf berufliche und soziale Teilhabe im Laufe ihrer Schul- bzw. Berufslaufbahn immer mehr. Dies führt überproportional häufig zu sogenannten Arbeitslosigkeits-Maßnahme-Karrieren bzw. diskontinuierlichen Erwerbskarrieren 9. Auch andere Faktoren, die in der Familie begründet liegen, können in verschiedener Intensität Einfluss auf Bildungschancen von Kindern nehmen, so z.b. die Elternkonstellation ( normale Zweielternfamilie vs. Einelternfamilie), die Zahl der Kinder in einer Familie oder die Staatszugehörigkeit (siehe dazu auch Migrationshintergrund ). 4 PISA-Konsortium Deutschland (Hrsg.): PISA 2003 Der zweite Vergleich der Länder in Deutschland, S.294 5 Vgl. Institut für Schulqualität und Bildungsforschung: Bildungsberichterstattung 2006, München, S. 212-216 6 Vgl. Jutta Almendinger / Rita Nikolai: Bildung und Herkunft, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 44-45, 2006, S. 33 7 Vgl. Statistisches Bundesamt: Datenreport 2004, S. 495 8 Vgl. Gerda Holz: Kinderarmut verschärft Bildungsmisere, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 21-22, 2003. 9 Vgl. Thomas Hinz / Frithjof Zerger / Jochen Groß: Neuere Daten und Analysen zur Bildungsarmut in Bayern, 2004, S. 17.

Seite 4 von 7 3.3. Geschlechtsspezifische Unterschiede Geschlechtsspezifische Bildungsunterschiede lassen sich in Bayern zwar weiterhin feststellen 10, haben sich in den letzten Jahrzehnten deutlich verschoben. Das Bild des katholischen Mädchens vom Lande als die bildungsbenachteiligte Gruppe ist passé. Will man die gängigen Forschungsergebnisse zusammenfassen, so muss inzwischen im Bereich der schulischen Bildung davon gesprochen werden, dass die Jungen im Bildungswettstreit die Verlierer sind. Jungen besuchen im Grundschulalter deutlich häufiger Volksschulen zur sonderpädagogischen Förderung (38.180 Jungen gegenüber 23.146 Mädchen, 2004/05). Bei den Orientierungsarbeiten in der dritten Klasse der Grundschule zeigen sich allerdings kaum Leistungsunterschiede in den Bereichen Deutsch- Lesen, Deutsch-Rechtschreiben und Mathematik. Dennoch wechseln Jungen (im Gegensatz zu Mädchen) nach der Grundschule überproportional häufig an Hauptschulen (46,5% zu 41,7%) und vergleichsweise seltener an Realschulen (19,8% zu 22,2%) und Gymnasien (33,7% zu 36,1%). Später wechseln Jungen eher in kürzere, Mädchen in längere Schullaufbahnen, gleichzeitig erreichen Jungen an allen Schularten häufiger als Mädchen das Klassenziel nicht. Besonders deutlich sind die Unterschiede in den Praxisklassen der Hauptschule (die für besonders leistungsschwache SchülerInnen eingerichtet wurden): Hier sind Jungen landesweit zu 72% vertreten. Wohl auch als Folge dieses zweifelhaften Vorsprungs verlassen Jungen mit 7,1% doppelt so häufig wie Mädchen (3,6%) die Schule ohne Abschluss. Bei den Schulabschlüssen zeigt das Bild mehr Mädchen mit mittlerem Abschluss und Abitur, wogegen die Jungen die größere Zahl der Absolventen mit Abschlüssen an Volksschulen zur sonderpädagogischen Förderung und an Hauptschulen stellen. Bei Mädchen und jungen Frauen schlägt sich allerdings diese positive Entwicklung hinsichtlich ihres Ausbildungsgrades bisher nicht im gleichen Maß auf ihren beruflichen Erfolg nieder, ganz im Gegenteil sind hier nach wie vor Männer bei Weitem besser gestellt. 11 3.4. Unterschiede zwischen Stadt und Land Trotz der Bildungsexpansion seit den 1950er Jahren 12 lassen sich immer noch viele regionale Differenzen und Ungleichheiten zwischen Stadt und Land beobachten 13 : Hauptschulabgänger ohne Abschluss sind eher ein Problem städtischer Schulen. SchülerInnen treten in Städten und ihren Ballungsräumen häufiger an ein Gymnasium und seltener an einer Realschule über als in ländlichen Gebieten. In vielen Städten sind hohe Nichtversetzungsraten zu beobachten. 10 Vgl. auch BDKJ Bayern: Mädchen und junge Frauen in (Aus-)bildung und Arbeit, 2006 11 Vgl. Shell Deutschland Holding (Hrsg.): 15. Shell Jugendstudie. Jugend 2006, Hamburg, Fischer Taschenbuchverlag, 2006, S. 36; Zur Thematik siehe auch Beschluss der BDKJ- Landesversammlung 2005: Mädchen und junge Frauen in (Aus-)Bildung und Arbeit. 12 Vgl. Jutta Almendinger/ Ruth Nikolai: Bildung und Herkunft, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 44-45, 2006 13 Vgl. im Folgenden: Institut für Schulqualität und Bildungsforschung: Bildungsberichterstattung 2006, München 2006, S. 233-239

Seite 5 von 7 Insgesamt stehen Nichtversetzungsraten, Übertrittsquoten und Schulabgänge ohne Abschluss in ganz Bayern in einem sehr engen Zusammenhang mit dem durchschnittlichen Einkommen oder der Arbeitslosigkeit in einer Region. Entscheidend für Unterschiede zwischen Stadt und Land ist vor allem die soziale Struktur der Bevölkerung (z. B. mehr Menschen mit Migrationshintergrund oder Sozialhilfeempfänger in Städten; aber auch mehr Menschen mit Abitur oder Hochschulstudium - dieser Effekt ist besonders in kleinen Universitätsstädten oder Dienstleistungszentren zu beobachten). 14 3.5. Schulsystem Das bayerische Schulsystem verwehrt in seiner derzeitigen Form spürbar zu vielen Kindern den Zugang zu Bildungsabschlüssen, die eine solide Grundlage für ihr zukünftiges Leben darstellen. Es selektiert nach sozialer und kultureller Herkunft und schafft es wie oben beschrieben nachweislich nicht, bestehende Benachteiligungen bei Kindern und Jugendlichen abzubauen. Insofern muss das bayerische Schulsystem als eigenständiger Faktor bezeichnet werden, der Benachteiligung begünstigt bzw. reproduziert. 4. Folgen der Benachteiligung Die nachstehenden Ausführungen bilden nicht sämtliche Benachteiligungskonsequenzen ab, sind aber für den BDKJ Bayern die maßgeblichen Faktoren für weitere gravierende Einschnitte im Leben junger Menschen. 15 4.1. Bildungsarmut Bildungsarmut ist die individuelle schulische beziehungsweise berufliche Niedrigbildung durch das Fehlen eines Hauptschulabschlusses beziehungsweise eines beruflichen Bildungsabschlusses nach erfüllter Schul- beziehungsweise Berufsschulpflicht. 16 Die häufige wechselseitige Beziehung von wirtschaftlicher Armut und Bildungsarmut macht deutlich, dass der soziale Hintergrund großen Einfluss auf das Leistungsgefälle bei Jugendlichen hat. Dieses Gefälle zwischen den besten und schwächsten SchülerInnen wird immer größer und verschärft die Situation weiter. Von dieser Bildungsarmut betroffene Jugendliche haben auf dem Arbeitsmarkt geringe Chancen. Hier kann ein fataler Kreislauf beobachtet werden. Aus Bildungsarmut wird soziale Armut, diese wiederum führt bei den Kindern der Betroffenen zu erneuter Bildungsarmut. Ein Ausbrechen aus diesem Kreislauf ist meist nur durch gezielte und intensive Förderung der betroffenen SchülerInnen möglich, was aber für die Hauptschulen aufgrund der derzeitigen personellen Ausstattung nicht leistbar ist. 14 Vgl. Ernst Rösner: Hauptschule am Ende. Ein Nachruf, Münster, 2007, S.97 ff. 15 Weitere Benachteiligungen, wie Jugendarbeitslosigkeit und Armut werden in diesem Papier nicht im Detail behandelt. Diesbezüglich sei auf folgende Beschlüsse des BDKJ Bayern verwiesen: Jugendpolitische Positionen (2003); Sehen, verstehen, handeln! Zur Situation armer Kinder in Deutschland (2005), 16 Thomas Hinz / Frithjof Zerger / Jochen Groß: Neuere Daten und Analysen zur Bildungsarmut in Bayern, 2004

Seite 6 von 7 4.2. Soziale Selektion 17 Durch das derzeitige Schulsystem sind Eltern und Kinder genötigt, bereits zur Hälfte der 4. Jahrgangsstufe eine Entscheidung über den weiteren Bildungsweg zu treffen. Die Entscheidung wird von den Fähigkeiten der Kinder, von der Bildungserfahrung und Wertigkeit von Bildung bei den Eltern und durch die Übertrittsempfehlung der LehrerInnen beeinflusst. Für Kinder, die von Bildungsarmut betroffen sind und nur eine geringe Förderung durch die eigenen Eltern erfahren haben, verringert sich die Wahrscheinlichkeit für einen Übertritt in Realschule und Gymnasium deutlich. Viele Eltern aus sozial besser gestellten Gesellschaftsschichten investieren viel Zeit, aber auch Geld (z.b. für Nachhilfe), um ihren Kindern den Übertritt zu ermöglichen und können durch ihre Mittel ausgleichen, was eigentlich Aufgabe von Schule wäre. Darüber hinaus besteht die Gefahr, dass Kinder bereits in jungen Jahren einem hohen Leistungsdruck durch die Eltern ausgesetzt sind. Auch die Empfehlung der LehrerInnen ist von sozialen Faktoren abhängig. Es ist nachgewiesen, dass neben der individuellen Leistungsfähigkeit von SchülerInnen auch Aspekte der sozialen Herkunft wesentlichen Einfluss auf die Übertrittsempfehlung nehmen. Vergleicht man den sozialen Hintergrund von HautpschülerInnen und GymnasiastInnen, bestätigt sich dieser Befund. 18 Auch hier ergibt sich wieder ein Kreislauf der Benachteiligung, der die unter 3. beschriebenen Faktoren der Benachteiligung auch über Generationen hinweg fördert. 19 5. Forderungen Für den BDKJ Bayern bemisst sich der Erfolg eines Schulsystem neben den Leistungen der Stärksten auch maßgeblich danach, inwieweit die Schwächsten Leistungen erreichen, die eine solide Grundlage für gesellschaftliche Teilhabe und wirtschaftliche Existenz darstellen. In der derzeitigen Form stellt das bayerische Bildungssystem nach Ansicht des BDKJ Bayern keine Antwort auf diese zentrale bildungspolitische Herausforderung dar. Daher kommt der BDKJ Bayern zu der Auffassung, dass das gegliederte Schulsystem in der bestehenden Form abzuschaffen und ein neues Schulsystem zu etablieren ist. Der BDKJ formuliert nachfolgend Kriterien für ein neues Schulsystem ausgehend von der Überzeugung, dass Kinder und Jugendliche von Natur aus wissbegierig, lernfreudig und ExpertInnen für ihre eigenen Bildungsprozesse sind: 1. Den Fähigkeiten und dem Entwicklungsstand entsprechende individuell gestaltete Lernangebote Konkret bedeutet dies: Für die Konzeption eines Schulsystems: Die Wissbegierde und Eigenaktivität von SchülerInnen muss im Mittelpunkt aller pädagogisch-didaktischer Überlegungen stehen. Schule muss sich das Ziel setzen, SchülerInnen ein Umfeld zu schaffen, das Lernfreude schafft 17 Der BDKJ Bayern verwendet hier den soziologisch gängigen Begriff der sozialen Selektion zur Beschreibung des Mechanismus von sozialer Ausgrenzung und des sozialen Aussortierens. Der BDKJ Bayern ist sich bewusst, dass der Begriff Selektion durch seinen Gebrauch durch die Nationalsozialisten ein problematischer ist. 18 Vgl. Magdalena Schauenberg (2007): Übertrittsentscheidungen nach der Grundschule. München, S. 40 ff. 19 Wolfgang Böttcher: Soziale Auslese und Bildungsreform. In: Politik und Zeitgeschichte 12/2005, S. 7 ff.

Seite 7 von 7 und eigenverantwortliches Lernen möglich macht. Dabei sind die individuellen Lebenslagen, Interessen, Neigungen und Lernrhythmen der SchülerInnen ein zentrales Moment. Für Jugendliche mit Migrationshintergrund: Bei Sprachfördermaßnahmen der SchülerInnen müssen die Eltern einbezogen und durch eigene Maßnahmen stärker motiviert und aktiviert werden. Mangelnde Sprachkenntnisse dürfen auf keinen Fall zu einer Ausgrenzung in Förderklassen oder -schulen führen, vielmehr sind die Möglichkeiten begleitender Sprachförderung und unterstützender Hausaufgabenhilfe zu nutzen. Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund brauchen Angebote einer zielgruppenspezifischen Bildungslaufbahnberatung, welche den gesamten Kontext des Lebensumfeldes mit einbezieht. 2. Verbesserung der LehrerInnenbildung bezüglich pädagogischer Kompetenzen In der LehrerInnenbildung braucht es einen Paradigmenwechsel von einer vorrangig an fachlichen Inhalten orientierten Ausbildung von LehrerInnen hin zur Befähigung zur pädagogisch-didaktischen Begleitung des Lernprozesses von SchülerInnen. Durch mehr und intensivere, frühzeitige weiterreichende Praxiserfahrung im Studium oder Vorpraktika soll zudem eine rechtzeitige Selbstvergewisserung der Studierenden ermöglicht werden, ob der LehrerInnenberuf die individuell richtige Entscheidung ist. 3. Ausweitung und bedarfsgerechte Differenzierung des personalen Angebots an Schulen Lehrerinnen und Lehrer müssen in ihrer pädagogischen Tätigkeit von unterschiedlichen Berufsgruppen unterstützt werden: SozialpädagogInnen, PädagogInnen, PsychologInnen, ExpertInnen aus der Berufswelt. Alle Schulen müssen die Möglichkeit haben, jederzeit auf diese fachliche Unterstützung zurückgreifen zu können. Eltern sind verstärkt in das Schulleben und das Lernen ihrer Kinder einzubinden. Eltern aus bildungsfernen Schichten müssen mit zielgruppenspezifischen Angeboten bei der Lernbegleitung ihrer Kinder unterstützt werden. 4. Längere gemeinsame Schulzeit unabhängig vom angestrebten Schulabschluss Der Zwang, in der 4.Klasse eine Entscheidung über den weiteren Schulweg treffen zu müssen trägt maßgeblich zur sozialen Selektion im Schulsystem bei. Eine längere gemeinsame Schulzeit verringert die soziale Selektion und schafft mehr Zeit für die Kompensation von bestehenden Benachteiligungen. 5. Wohnortunabhängige Chancengleichheit für Zugang zu allen Schulabschlüssen für die Kinder und Jugendlichen Der Wohnort bzw. die Entfernung zur Schule darf kein Argument für oder gegen einen Schulabschluss sein. Lücken in der flächenmäßigen Abdeckung des Angebots von weiterführenden Schulabschlüssen sind zu schließen bzw. dürfen erst gar nicht entstehen. Dazu müssen Zahlen erhoben und veröffentlicht werden, die Aufschluss über Zusammenhänge von Schulweglänge und Übertrittsquoten geben können.