Jan Felix Heuer. Das Ethnische im Sozialen am Beispiel der griechischen Finanzkrise 2010



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Transkript:

Jan Felix Heuer Das Ethnische im Sozialen am Beispiel der griechischen Finanzkrise 2010 überarbeitete Fassung einer Bachelorarbeit im Fach Europäische Ethnologie/Volkskunde Kiel 2011

Inhalt 1 Einleitung 3 2 Das Phänomen des Kulturalismus als Herausforderung für die Kulturwissenschaften 5 2.1 Ausformungen der Kulturalisierung 5 2.2 Das Verhältnis von Kulturellem und Sozialem 6 2.3 Fazit 9 3 Griechenland: Anbindung an Westeuropa und wirtschaftliche Entwicklung 10 3.1 Nachkriegszeit und Militärdiktatur 10 3.2 Annäherung und Probleme während der 70er und 80er Jahre 11 3.3 Wirtschaftliche Schwierigkeiten während der 90er Jahre 13 3.4 Interne Ursachen für die finanziellen Probleme 14 3.5 Fazit 15 4 Erkenntnisinteresse 15 4.1 Die Bedeutung der griechischen Finanzkrise für Deutschland 15 4.2 Fragestellung und Hypothese 16 5 Theoretische Grundlagen 18 5.1 Die bardische Funktion von Medien 18 5.2 Der Begriff der Ethnie bzw. Ethnizität 20 5.3 Kultur als Produkt 22 6 Analyse der BILD: Darstellung und Herleitung der den Griechen zugesprochenen Grundeigenschaften und Wesensmerkmale 23 6.1. Geschäftliche Inkompetenz 23

6.1.1 Zuschreibungen 23 6.1.2 Die Wahrnehmung der Gastarbeiter in Deutschland 25 6.1.3 Deutsche Stereotype 28 6.2 Kriminalität 29 6.2.1 Zuschreibungen 29 6.2.2 Herleitung 31 6.3 Arbeitsunwilligkeit und fehlende Solidarität 32 6.3.1 Zuschreibungen 32 6.3.2 Die Sonderwelt der deutschen Touristen 34 6.4 Verschwendungssucht 35 6.4.1 Zuschreibungen 35 6.4.2 Die Deutschen als Betroffenengemeinschaft 36 6.5 Fazit: Identität und kulturelle Differenz 38 7 Emotionale und moralische Aspekte in der Berichterstattung zur Finanzkrise 40 7.1 Zur Bedeutung von Emotionalität 40 7.2 Haben sie das verdient? : Der moralische Blickwinkel 41 8 Zusammenfassung und Fazit 42 9 Literatur- und Quellenverzeichnis 45 9.1 Literatur 45 9.2 Presseartikel 48 9.3 Internetquellen 51

J. F. Heuer: Das Ethnische im Sozialen am Beispiel der griechischen Finanzkrise 3 1 Einleitung Wer in der ersten Jahreshälfte 2010 in den Medien das Weltgeschehen mitverfolgt hat, dem kann die griechische Finanzkrise nicht verborgen geblieben sein. Möglicherweise ist ihm oder ihr zudem aufgefallen, dass in den verschiedenen Medienformaten auf unterschiedliche Weise über dieses Phänomen berichtet wird und wurde. Es erscheint selbstverständlich, dass die Boulevardpresse oder das Boulevardfernsehen einfachere Erklärungs- und Argumentationsmuster bevorzugen als seriöse Medien wie beispielsweise Die Zeit oder die Frankfurter Allgemeine Zeitung und dass bei Letzteren politische und wirtschaftliche Hintergründe und Zusammenhänge ausführlicher dargestellt werden. Auch verwundert es nicht, etwa in der Bild auf drastischere Ausdrucksformen zu stoßen, wie Schummel-Haushalt 1 oder Pleite-Griechen 2. Bei einem näheren Blick bzw. bei der Beobachtung der Berichterstattung über mehrere Ausgaben hinweg drängt sich jedoch der Verdacht auf, dass in den von der Bild an ihre Leser versandten Nachrichten neben dem manifest content 3 auch ein latent content 4 mitschwingt. Hierbei scheint insbesondere eine ethnische Komponente im Medientext der BILD eine Rolle zu spielen: Denn handelt es sich bei der Bezeichnung Pleite-Griechen nicht um eine Bezeichnung mit einem ein bestimmtes Kollektiv, also 'die Griechen', eindeutig abgrenzenden Charakter? Inhalt dieser Ausarbeitung soll es deshalb sein um es zunächst ganz allgemein zu formulieren diesem geschilderten Verdacht nachzugehen und diesen in einen gesellschaftlichen Kontext einzuordnen, um eine Vernetzung zwischen politischen und ökonomischen Phänomenen auf der einen Seite mit den kulturellen Phänomenen auf der anderen Seite aufzuzeigen. Zunächst wird es - auch um die Relevanz der Thematik zu verdeutlichen - notwendig sein, die Ethnisierung als eine Form der Kulturalisierung in einen wissenschaftstheoretischen Kontext einzuordnen bzw. in der aktuellen kulturwissenschaftlichen Debatte zu verorten. Um die derzeitige Beziehung zwischen Deutschland und Griechenland in Be- 1 Pleite-Griechen tanzen Europa auf der Nase rum, BILD, 23.02.2010,http://www.bild.de/ BILD/politik/wirtschaft/2010/02/23/pleite-griechen-tanzen-eu-auf-der-nase-rum/datenzum-schummel-haushalt-fehlen.html (27.07.2010). Die Nennung der vollständigen Internetadresse erfolgt stets nur bei der Erstnennung. 2 Ebenda. 3 Fiske, Hartley 2003, S.8. 4 Fiske, Hartley 2003, S.8.

J. F. Heuer: Das Ethnische im Sozialen am Beispiel der griechischen Finanzkrise 4 zug auf die Finanzkrise besser beurteilen zu können, ist es von Nutzen, einen historischen Hintergrund aufzuzeigen: Wie entstand die heutige Relevanz Griechenlands für Deutschland? Im empirischen Teil der Arbeit schließlich soll der Frage nachgegangen werden, wie die Berichterstattung der BILD als einem Repräsentanten des Boulevards im Zusammenhang mit der Finanzkrise aufgebaut ist. Welche Kategorien von kulturellen Charakteristika lassen sich in Bezug auf den Griechen in diesem konkreten Fall ausmachen? Welche Rolle spielt im Gegensatz dazu der Deutsche? Neben der Beschreibung der von der BILD verwendeten Stilmittel sind die Entstehungskontexte dieser Charakteristika von zentraler Bedeutung, welche möglicherweise erst dazu beitragen, dass die Nachrichten der BILD auch bei den Lesern ankommen. Für diese Untersuchung ist es notwendig, im Vorfeld zunächst einen theoretischen Rahmen zu setzen. Dabei handelt es sich um einen medientheoretischen Ansatz ( bardic television ) von John Hartley und John Fiske 5, anhand dessen versucht werden soll, die Funktionsweise der Boulevardzeitung als Massenmedium besser nachvollziehbar zu machen. Außerdem wird aufgezeigt werden, welches Ethnizitätsverständnis bei dieser Untersuchung Anwendung findet. In Anbetracht des Umfangs dieser Ausarbeitung muss allerdings auch auf die Bearbeitung verschiedener Aspekte verzichtet werden. Dazu gehört in Bezug zur Hinführung zur aktuellen Situation zunächst eine detaillierte Darstellung der wirtschaftlichen Vernetzungen zwischen Griechenland und Deutschland bzw. den anderen Euro-Staaten, die den Anlass der Berichterstattung genauer herleiten könnten. Den Umfang sprengen würde zudem die Behandlung der Frage, inwiefern in anderen westeuropäischen Ländern eine ähnliche Berichterstattung wie in Deutschland zu beobachten ist, und ob in Griechenland selbst bzw. der griechischen Presse Ethnizität (als Reaktion auf die Krise) eine Rolle spielt. Auch muss darauf verzichtet werden, zu klären, ob auch anderswo Griechenlands Finanzkrise als Ausgangspunkt einer Ethnisierung zu betrachten ist. 6 5 Vgl. Fiske, Hartley 2003, Kap. 6. 6 Man denke etwa in Bezug auf die wirtschaftlichen Probleme einiger südeuropäischer Staaten an die Unabhängigkeitsbestrebungen in Katalonien. Dieses ist als bedeutend wohlhabender einzustufen als der Großteil der anderen Regionen Spaniens, gleichzeitig wird von vielen Menschen eine eigene kulturelle und ethnische Identität wahrgenommen. Vgl. Goetze 1997, S. 115f.

J. F. Heuer: Das Ethnische im Sozialen am Beispiel der griechischen Finanzkrise 5 2 Das Phänomen des Kulturalismus als Herausforderung für die Kulturwissenschaften Wenn man wie Raymond Williams in seinem Werk Culture and Society 1780-1950 die Geschichte des Kulturbegriffs (auch) als einen Indikator für sozialen, ökonomischen und politischen Wandel 7 ansieht, dann lässt sich Folgendes für die Gesellschaft oder Kultur untersuchenden Wissenschaften festhalten: Auf sich verändernde Untersuchungsobjekte reagieren die (Kultur-) Wissenschaften mit einer Anpassung, Umakzentuierung, Neu- oder Weiterentwicklung ihrer Begriffe, Theorien und Methoden. Allerdings besteht die Gefahr, dass im Zuge dieses theoretischen Wandels Ziele bzw. das wissenschaftliche Selbstverständnis (etwa Kritik und Optimierung der gesellschaftlichen Zustände 8 ) aus dem Blick geraten. Dies wiederum kann eine wissenschaftsinterne Debatte mit dem Ziel der Optimierung der wissenschaftlichen Begrifflichkeiten und damit zur Verbesserung der Forschungsergebnisse im Sinne des Ziels bzw. des Selbstverständnisses der Disziplin herbeiführen. 2.1 Ausformungen der Kulturalisierung Dieser grob geschilderte Zusammenhang lässt sich auch aktuell beobachten, und zwar in Bezug auf das Phänomen der Kulturalisierung bzw. Ethnisierung. Der Volkskundler Wolfgang Kaschuba greift dieses in seinem 1995 in der Zeitschrift für Volkskunde erschienenen Aufsatz Kulturalismus - Vom Verschwinden des Sozialen im gesellschaftlichen Diskurs auf. Darin stellt er anhand von vier Beispielen vor, was unter dem Begriff Kulturalisierung zu verstehen ist. Diese machen zugleich deutlich, warum die Überlegungen über das Wesen des Kulturellen und des Sozialen sowie über deren geeignetste Analyseeinheiten von Bedeutung sind. Ein strategischer Missbrauch der Kultur, etwa als Kampfbegriff gesellschaftlicher Akteure, sei z. B. im politisch-sozialen Konflikt im ehemaligen Jugoslawien in Form einer Ethnisierung anzutreffen gewesen, noch vor Beginn der eigentlichen Kampfhandlungen. 9 Als weitere Fälle von Kulturalisierungen als Instrumentalisierung von Kultur zur Verwirklichung politisch-ideologischer Ziele werden folgende angesprochen: Zum einen der kulturelle Rassismus, der mit der von ihm postulierten Gefahr der 7 Lindner 2002, S. 69. Vgl. auch Williams 1958, S. 58. 8 In der die Volkskunde betreffenden Falkensteiner Resolution hieß es 1970, dass an der Lösung sozio-kulturaler Probleme mitgewirkt werden solle. Brückner 1971, S. 303. 9 Vgl. Kaschuba 1995, S. 41.

J. F. Heuer: Das Ethnische im Sozialen am Beispiel der griechischen Finanzkrise 6 Kulturvermischung argumentiere, zum zweiten die Phänomene des Fundamentalismus als strategisch eingesetzte und religiös eingefärbte kollektive Identitäten und zum dritten Neo-Nationalismen, die z. B. in den beiden aus der Tschechoslowakei hervorgegangenen Staaten von Bedeutung seien. 10 Die genannten Beispiele verdeutlichen bereits, auf welche Themenfelder bei der wissenschaftlichen Untersuchung in Bezug auf Kulturalisierungen, also auch im Fall Griechenland, zu achten ist: Wir haben es mit Abgrenzungs-, also Inklusions- und Exklusionsmechanismen zu tun (etwa beim kulturellen Rassismus), mit der Bildung ethnischnationaler Gruppen (in den Gebieten des ehemaligen Jugoslawiens und der ehemaligen Tschechoslowakei) und mit der Konstruktion von (im Fall des Fundamentalismus religiösen) Kollektiven, die den Zweck haben, innergesellschaftliche Konflikte in den Hintergrund zu drängen. 11 2.2 Das Verhältnis von Kulturellem und Sozialem Dass die Problematiken der Kulturalisierung auch weiterhin in den Kulturwissenschaften diskutiert werden, zeigt die Veröffentlichung von Wolfgang Maderthaner und Lutz Musner aus dem Jahr 2007: Wie der Titel bereits vermuten lässt, gehen die Autoren in Die Selbstabschaffung der Vernunft - Die Kulturwissenschaften und die Krise des Sozialen 12 insbesondere auf die Rolle des Sozialen in Zusammenhang mit dem interpretative turn in den Kulturwissenschaften ein. Aufgrund bestimmter gesellschaftlichen Entwicklungen in der westlichen Welt, auf welche an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden soll, 13 sei ein kulturalistisch imprägnierter Zeitgeist 14 entstanden. Dieser wiederum habe auch zu einer gesteigerten Selbstreflexion in den Kulturwissenschaften geführt, welche sich u.a. darin ausdrücke, dass Theorien nicht mehr direkt eine Anwendung auf soziale Tatbestände fänden. Stattdessen dienten die Theorien einer Deutung der als symbolisch hervorgebracht und vermittelt angesehenen Tatsachen. Anders formuliert: Gesellschaftliche Realitäten würden als symbolisch produzierte und zeichenhaft repräsentierte Konstruktionen wahrgenommen, die in der Analyse einer um- 10 Vgl. Kaschuba 1995, S. 37-42. Für weitere Beispiele in Bezug auf Osteuropa siehe Hettlage, Deger, Wagner 1997, Themenbereich IV. 11 Vgl. Kaschuba 1995, S. 37-42. 12 Vgl. Maderthaner, Musner 2007. 13 Vgl. dazu Maderthaner, Musner 2007, S. 86f. 14 Maderthaner 2007, S. 87. Vgl. hierzu auch Jameson 2000, S.19.

J. F. Heuer: Das Ethnische im Sozialen am Beispiel der griechischen Finanzkrise 7 fassenden Dekonstruktion bedürfen. 15 Als Voraussetzung dieser cultural bzw. interpretative turn genannten Richtung in den Sozial- und Geisteswissenschaften werde davon ausgegangen, dass das, was sich als soziale Welt beschreiben lässt, nur als "symbolisch vermittelte existiert" 16. Mit sozial hergestellten Theorien wiederum ließen sich die Sinnzusammenhänge der sozialen Welt entschlüsseln. 17 Doch worin besteht hierbei die Problematik? Maderthaner und Musner äußern ihre Kritik folgendermaßen: Sie sind der Meinung, dass zentrale gesellschaftliche Probleme wie Gleichheit und Gerechtigkeit, Freiheit und Arbeit - auf symbolischer Ebene von den Kulturwissenschaften untersucht - von diesen nicht mehr verhandelt werden könnten. Aus diesem Grund rücke die Kulturwissenschaft zunehmend nebensächliche und 'exotische' Themen in den Vordergrund, mit dem Effekt, dass Gesellschafts- und Kulturkritik an das Feuilleton abgegeben werde. Trotz der Ausstattung mit viel Wissen seien die heutigen Kulturwissenschaften nicht fähig, auf aus dem Gleichgewicht geratene politische und soziale Verhältnisse verbessernd einzuwirken. 18 Ausgehend von ihrer Kritik formulieren Maderthaner und Musner deshalb Eckpunkte einer relationalen Kulturanalyse. Dabei beziehen sie sich auf Rolf Lindner, der seinen Kulturbegriff in Zusammenhang mit ökonomischen, sozialen und historischen Gegebenheiten bringt. 19 Bei der Analyse sollen deshalb aus der sozialen Konstruktion der Wirklichkeit hervorgegangen[e] [...] kulturelle,formationen, Figurationen und Konstellationen 20 im Fokus stehen. Weiterhin definieren Maderthaner und Musner Kultur sowohl als Produkt, als auch als Prozess. Dabei spiele insbesondere eine ungleiche Verteilung von sozialem, ökonomischem und symbolischen Kapital 21 und die aus dieser Asymmetrie resultierende Produktion kultureller Codes (von z. B. Geschlechtern, 15 Vgl. Maderthaner, Musner 2007, S. 87f. 16 Maderthaner, Musner 2007, S. 89. 17 Vgl. Maderthaner, Musner 2007, S. 89. 18 Maderthaner, Musner 2007, S. 89. Kaschuba wiederum greift eine Kritik an der linguistischen Wende (also der zunehmenden Beschäftigung mit semiotischen und symbolischen Fragen sowie der Textualität) in der Ethnologie auf, die einen verengenden Kulturalismus" feststelle. Dieser bedeute sowohl eine Vernachlässigung von materiellen Bedingungen der menschlichen Existenz, Sozialinstitutionen als auch Machtverteilungen. Vgl. Kaschuba 1995, S. 35. 19 Vgl. Lindner 2002, S. 86. 20 Lindner 2002, S. 86. 21 Vgl. zu den Kapitalientypen Bourdieu 1983.

J. F. Heuer: Das Ethnische im Sozialen am Beispiel der griechischen Finanzkrise 8 Klassen und - im Zusammenhang mit dieser Arbeit von besonderer Bedeutung - Ethnizitäten) eine Rolle. Auf diese Weise könne ein Gegenstand nicht nur als eine textuelle Repräsentation, sondern auch als Teil von sozialen Praktiken verstanden werden. 22 Der zweite, sehr aktuelle Beitrag, der sich mit dem Phänomen der Kulturalisierung beschäftigt, besteht aus dem im Jahr 2009 in der Zeitschrift Soziale Welt veröffentlichten Aufsatz Der Kampf um die Kultur - Zur Re- und Ent-Soziologisierung eines ethnologischen Konzepts 23 der Ethnologin Carola Lentz und aus zwei Kommentaren zu diesem. Dabei handelt es sich zum einen um den Beitrag (Ent-) Kulturalisierungen und (Ent-) Soziologisierungen: Das Soziale, das Kulturelle und die Macht 24 des Soziologen Andreas Reckwitz, zum anderen um Der Einbruch der Geschichte in das geschlossene Universum der Ethnologie 25 des Soziologen Klaus Lichtblau. Aufgrund der aktuellen Problematiken, denen sowohl Ethnologie als auch Soziologie ausgesetzt seien, 26 setzt Lentz die Ent-Soziologisierung des Kulturbegriffs, die auch eine Zusammenarbeit zwischen den beiden Fächern erschwere, in den Kontext einer von ihr angestrebten (Wieder-) Annäherung der beiden Disziplinen mit einem reformulierten Verständnis von Kultur als Brückenbegriff. 27 Es soll an dieser Stelle darauf verzichtet werden, die Debatte über die Ent- und Re-Soziologisierung des Kulturbegriffs im Einzelnen vorzustellen. Lediglich Carola Lentz Fazit in Bezug auf die Überlegungen von Andreas Wimmer sei hervorgehoben: Insbesondere durch den Verweis auf Machtverhältnisse in Bezug auf die Prozesse kultureller Distinktionspraktiken und sozialer Gruppenbildung trage Wimmer zur Resoziologisierung des Kulturbegriffs bei. 28 Was jedoch außerdem insbesondere am Ende von Lentz Aufsatz sehr deutlich wird, ist folgendes: Es gehe letztlich darum, den Essentialisierun- 22 Vgl. Maderthaner, Musner 2007, S. 107. 23 Vgl. Lentz 2009, S. 305-324. 24 Vgl. Reckwitz 2009, S. 411-418. 25 Vgl. Lichtblau 2009, S. 419-422. 26 Lentz spricht in diesem Zusammenhang nur recht allgemein von der Globalisierung. Vgl. Lentz 2009, S. 305. 27 Vgl. Lentz 2009. S. 305. Bei der Auffassung davon, welche als entscheidende Schritte zur Ent-Soziologisierung einzustufen sind, scheinen allerdings durchaus unterschiedliche Positionen vertreten zu werden. Vgl. Lentz 2009, S. 311ff.; Lichtblau 2009, S. 420. 28 Vgl. Lentz 2009, S. 315. Laut Reckwitz entsprächen diese Machtverhältnisse dem Sozialen bei Lentz. Vgl. Reckwitz 2009, S. 413.

J. F. Heuer: Das Ethnische im Sozialen am Beispiel der griechischen Finanzkrise 9 gen von Kulturen und Gesellschaften, die auch aktuell zu beobachten seien, möglichst gut vorbereitet begegnen zu können und damit überhaupt erst eine Kritik zu ermöglichen. 29 Während Andreas Reckwitz diesbezüglich auf die Neubeschreibung sozialer Gruppen mittels kultureller Kategorien verweist, 30 stellt Carola Lentz fest, dass außerhalb der Wissenschaft insbesondere das klassische, entsoziologisierte Kulturkonzept der kulturrelativistischen Kulturanthropologen Anwendung finde wenn auch in anderen Ausprägungen. Benutzt werde es z. B. im Kontext der Diskussionen um die Aufnahme der Türkei in die EU, und zwar sowohl von Politikern, NGOs, sozialen Bewegungen, als auch von Journalisten. Kultur fungiere in diesem Zusammenhang als Ersatz für Begriffe wie Rasse, Nation oder Ethnie. 31 Wie schon bei den Beispielen Kaschubas, so werden auch bei Lentz Anknüpfungspunkte in Bezug auf den Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit deutlich: Zum einen auf einer thematischen Ebene, insofern als das Konzept Europäische Union als ein zentraler Ort anzusehen ist, der ethnisch-kulturell geprägte Diskurse auslöst. Zum anderen wird ersichtlich, welche Akteure an einer solchen Debatte beteiligt sein können und deshalb als Untersuchungsobjekt überhaupt in Frage kommen. Von diesen ist insbesondere die Presse von besonderem Interesse, da sie falls sie als Ort des medienpopulistischen Diskurses angesehen wird sowohl Elemente des offiziellen, wissenschaftlichen als auch des populären Diskurses widerspiegelt. 32 2.3 Fazit Es lässt sich festhalten, dass die nach wie vor bzw. gerade heute in vielen Gesellschaften zu beobachtende Problematik der Ethnisierung, genauer Kulturalisierung, von den Gesellschafts- und Kulturwissenschaften sehr wohl wahrgenommen wird, und zwar, wie der kurze Überblick gezeigt hat innerhalb verschiedener Disziplinen wie Ethnologie, Volkskunde und Soziologie. Auf theoretischer Ebene findet dabei eine Verknüpfung mit der Frage nach der Optimierung bzw. Anpassung des Verständnisses von Kultur statt. Diese Arbeit soll allerdings keinen Beitrag zur Diskussion der methodischen Herangehensweise darstellen, sondern die mit Ethnizität einhergehenden Prozesse bzw. Problematiken anhand eines Beispiels aufzeigen. Da - vereinfachend formuliert - Kultur im- 29 Vgl. Lentz 2009, S. 320f. 30 Vgl. Reckwitz 2009, S. 411. 31 Vgl. Lentz 2009, S. 315. 32 Vgl. Hepp 2004, S. 152f.

J. F. Heuer: Das Ethnische im Sozialen am Beispiel der griechischen Finanzkrise 10 mer auch eine geschichtliche Komponente aufweist, 33 werde ich im folgenden Kapitel einen historischen Rückblick skizzieren, bevor anschließend die aktuelle Problemlage thematisiert werden kann. 3 Griechenland: Anbindung an Westeuropa und wirtschaftliche Entwicklung In diesem Teil soll der Frage nachgegangen werden, warum Deutsche und Griechen bzw. Deutschland und Griechenland gemeinsam in der Berichterstattung auftauchen. Warum ist in der Bild von den Pleite-Griechen 34 zu lesen, nicht aber von Pleite-Isländern als Island in jüngerer Vergangenheit massive Finanzprobleme bekam? Um dies nachzuvollziehen wird daher zunächst der geschichtliche Hintergrund für die aktuellen griechischen Finanzprobleme und die dadurch geprägte aktuelle Beziehung zwischen Deutschland und Griechenland aufgezeigt werden. Inwiefern entwickelte sich also in den letzten rund 60 Jahren eine Verbindung von Griechenland mit dem restlichen Europa, welche als eine Bedingung für die (wirtschaftliche) Relevanz des Landes für Deutschland anzusehen ist? 3.1 Nachkriegszeit und Militärdiktatur Bereits gegen Ende des Zweiten Weltkriegs war abzusehen, dass Griechenland über den Krieg hinaus für den Westen von strategischem Wert sein würde, als nämlich Stalin und Churchill im Oktober 1944 mit ihrem Prozentabkommen die Einflusssphären in Südosteuropa festlegten. 35 Mit dem Zweiten Weltkrieg und dem von 1941-1949 andauernden Bürgerkrieg wurde das Land industriell und wirtschaftlich stark zurückgeworfen. Erst 1952 konnte das wirtschaftliche Vorkriegsniveau wieder erreicht werden, unterstützt durch die Hilfe der USA im Rahmen des Marshall-Plans. Die Vereinigten Staaten waren es, die die Rolle der Schutzmacht für Griechenland, einziges nicht kommunistisches Balkanland, von Großbritannien übernahmen. Es folgte der Aufbau einer modernen Industrie (Schiff- 33 Vgl. Maderthaner, Musner 2007, S. 106. 34 Pleite-Griechen tanzen Europa auf der Nase rum, BILD, 23.02.2010. 35 Während Stalin Rumänien und Bulgarien mit 72:25 für sich verbuchen konnte, fiel Griechenland mit 90:10, in Wirklichkeit aber vollständig an die Westmächte. Vgl. Weithmann 1994, S. 244.

J. F. Heuer: Das Ethnische im Sozialen am Beispiel der griechischen Finanzkrise 11 bau, Zement) und die Elektrifizierung des Landes. Auch erfolgte eine zunehmende Verstädterung mit der Hauptstadt Athen, die 1961 die 2-Millionen-Grenze überschritt, als nach Istanbul zweitgrößter Metropole Südeuropas. In der Folgezeit war die wirtschaftliche wie auch die gesellschaftliche Entwicklung insbesondere durch die stark wachsende Tourismusbranche und die zunehmende Auswanderung zwecks Gastarbeit geprägt. 36 Einen starken Einschnitt in der Entwicklung Griechenlands stellte in der Folge die von 1967-1974 andauernde Militärdiktatur dar. Der Staatsstreich, der diese Epoche einleitete, war nicht von der Bevölkerung unterstützt worden, wurde aber von den Militärs Revolution genannt, um eine Übereinstimmung mit dem Volk vorzutäuschen. Versucht zu legitimieren wurde die Errichtung der Diktatur mit der Behauptung eines (in Wirklichkeit keineswegs) bevorstehenden kommunistischen Putsches. Tatsächlich sollten jedoch aufgrund der zu erwartenden Ergebnisse die Parlamentswahlen im Mai 1967 verhindert werden. 37 3.2 Annäherung und Probleme während der 70er und 80er Jahre Der tatsächliche Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft erfolgte zwar erst 1981 (als Start der EG-Süderweiterung), doch bereits zuvor verstärkte sich der Einfluss Westeuropas auf Griechenland. 38 Das Land war nicht nur Gründungsmitglied des Europarats und der OECD (Organisation for Economic Cooperation and Development), sondern trat auch forciert durch die Vereinigten Staaten früh der NATO bei (1952). 39 Zudem wurde 1961 ein Assoziationsabkommen mit der EWG geschlossen. Bei der Aufnahme Griechenlands in die EG soll es sich das muss betont werden - um eine politische, nicht um eine ökonomische Entscheidung Brüssels gehandelt haben. Denn laut einer EG-Kommission von 1976 sei das sich zu diesem Zeitpunkt noch im Übergang von einer Agrar- zur Industriegesellschaft befindende Griechenland auf die Herausforderungen des EG-Marktes strukturell keinesfalls vorbereitet gewesen. 40 Vielmehr wird die Aufnahme mit dem kollektiven schlechten Gewissen Europas begründet, das aus dessen gleichgültiger Haltung in Bezug auf die von 1967-1974 währende Militärdiktatur in 36 Vgl. Weithmann 1994, S. 244, S. 248, S. 251f. 37 Vgl. Tzermias 1993, S. 194. 38 Bis zum Beitritt von Rumänien und Bulgarien besaß Griechenland keine direkten Grenze mit einem weiteren EWG bzw. EG-Staat. 39 Vgl. Weithmann 1994, S. 248. 40 Vgl. Weithmann 1994, S. 258f.

J. F. Heuer: Das Ethnische im Sozialen am Beispiel der griechischen Finanzkrise 12 Griechenland resultiert habe. 41 Auch sollte vermutlich einem neuerlichen Rückfall in eine Diktatur vorgebeugt werden. Die Annäherung an den Westen war in Griechenland in keinem politischen Lager unumstritten, wurde jedoch vor allem als ein Gegengewicht zur 'kommunistischen Gefahr' angesehen. Nach dem Ende der Militärdiktatur wurde in der europäischen Integration zudem die Chance für eine konstante Demokratisierung Griechenlands gesehen, sodass im Jahr 1975 der Aufnahmeantrag an die EG gestellt wurde. Einerseits hoffte sie auf finanzielle Hilfen insbesondere im Rahmen der Gemeinsamen Agrarpolitik, andererseits auf Vorteile durch auswärtige Investitionen. 42 Auch anti-westliche Meinungen fanden in der zweiten Hälfte der 70er Jahre durchaus Beachtung: So wurde unter der Regierung von Konstantinos Karamanlis (Mitglied der liberal-konservativen Partei Nea-Dimokratia) den USA und der NATO die Verantwortung für die Militärdiktatur zugewiesen. Es verstärkte sich eine anti-westliche Stimmung in der griechischen Gesellschaft, welche auch den Ausgang der Wahlen 1981 zugunsten der PASOK (Pan-Hellenistische Sozialistische Bewegung) unter Andreas Papandreou beeinflusste. Bei der PASOK handelt es sich um eine 'Bewegung', keine Partei im eigentlichen Sinne, die sowohl sozialistische als auch extrem nationalistische Strömungen in sich vereinigt. Die Stimmungsmache Papandreous war anti-westlich geprägt in dem Sinne, dass sie vor allem EG- und NATO-kritische Ausprägungen zeigte. Auf der anderen Seite propagierte Papandreou allerdings einen westlich geprägten gesellschaftlichen Wandel (Bürgerbeteiligung, Bildungsreform, Emanzipation der Frau etc.). Die Außenpolitik betreffend war von Bedeutung, dass Papandreou nicht nur EG-konforme Kontakte pflegte, sondern auch solche mit dem Ostblock und arabischen Regimes. Probleme mit den anderen EG-Staaten spiegelten sich auch in den Debatten um die EEA (Einheitliche Europäische Akte) wider, in denen sich die PASOK etwa gegen die Mehrheitsregel bei der EPZ (Europäische Politische Zusammenarbeit) und gegen die erweiterten Rechte von Parlament und Kommission aussprach. In diesem Zusammenhang ist zudem der 'Fehlschlag von Athen' von 1983 zu nennen. Dabei handelte es sich um ein (ergebnisloses) Treffen des Europäischen Rates unter griechischer Präsidentschaft, das als einer der größten Misserfolge des europäischen Einigungsprozesses angesehen wird. Die wirtschaftliche Lage Griechenlands hatte sich seit der Machtübernahme der PASOK Anfang der 80er Jahre kontinuierlich verschlechtert, sodass an de- 41 Vgl. Clogg 1997, S. 247. 42 Vgl. Pfetsch 2005, S. 85; Weithmann 1994, S. 259.

J. F. Heuer: Das Ethnische im Sozialen am Beispiel der griechischen Finanzkrise 13 ren Ende die Balance zwischen der Inflation, dem Zahlungsdefizit und dem Kreditbedarf des öffentlichen Sektors außer Kontrolle geraten war. 43 3.3 Wirtschaftliche Schwierigkeiten während der 1990er Jahre Das Jahr 1990 ist für Griechenland insofern als eine Wende anzusehen, als seit diesem Zeitpunkt von einer größeren Europafreundlichkeit der griechischen Regierungen gesprochen werden kann. So fiel die Ratifizierung der Maastrichter Beschlüsse durch das griechische Parlament im Sommer 1992 sehr eindeutig aus, da lediglich acht Abgeordnete dagegen stimmten. Ob auch in der Bevölkerung ein so hohes Maß an Zustimmung herrschte, ist ungewiss, doch von einer insgesamt höheren EG-Freundlichkeit als vor 1981, dem Jahr des Beitritts zur Europäischen Gemeinschaft, kann durchaus die Rede sein. Als ein erster Grund für diese Veränderung in der Wahrnehmung ist die Erfahrung der EG-Vollmitgliedschaft anzusehen, da verschiedene Bevölkerungsgruppen von den Zuwendungen der EG profitierten, insbesondere in den ländlichen Regionen. 44 Die Hoffnungen lagen hierbei vor allem im sogenannten Kohäsionsfond, welcher Vorhaben in Bezug auf die Verkehrsinfrastruktur in wirtschaftsschwachen Mitgliedsstaaten unterstützt. Eine weitere Rolle spielte der Zusammenbruch der Sowjetunion, welcher den Glauben an die Funktionsfähigkeit marxistischer bzw. neomarxistischer Wirtschaftsmodelle deutlich schmälerte. 45 An dieser Stelle muss allerdings auch betont werden, dass für Griechenland die Währungs- und Wirtschaftsunion (WWU) nicht nur eine große Chance, sondern auch eine bedeutende Herausforderung darstellte: eine Herausforderung - Tzermias spricht sogar von einer Herkules-Aufgabe 46 - insbesondere in Bezug auf die Erfüllung der im Maastrichter Vertrag festgelegten Konvergenzkriterien, die als Eintrittskriterien für die WWU dienten. Dazu gehört neben einer anhaltenden Preisstabilität des beitrittswilligen Staats auch der Nachweis, dass kein übermäßiges Haushaltsdefizit vorliegt. Zudem durfte ein Staat im EWS (Europäischen Währungssystem) zwei Jahre lang keine Wech- 43 Vgl. Clogg 1997, S. 249; Pfetsch 2005, S. 85f.; Weithmann 1994; S. 258f. 44 Die Gelder aus Brüssel trugen insgesamt zur Hebung des Lebensstandards bei. Dies sei nach Weithmann zudem als Grund für den erneuten Wahlsieg der PASOK und Papandreous 1985 anzusehen. Vgl. Weithmann 1994, S. 259. 45 Vgl. Clogg 1997, S. 248; Tzermias 1993, S. 258; Weidenfeld 2006, S. 340f. 46 Tzermias 1993, S. 259.

J. F. Heuer: Das Ethnische im Sozialen am Beispiel der griechischen Finanzkrise 14 selkursspannungen ausgelöst haben. Und auch sein langfristiger Zinssatz sollte höchstens 2% über dem der preisstabilsten Länder liegen. 47 Die diesbezüglichen Probleme waren im Griechenland der frühen 90er Jahre jedoch deutlich sichtbar: Weit über dem EG-Durchschnitt lag Ende 1992 die Teuerungsrate von ca. 15 Prozent; im gleichen Jahr betrug die Staatsverschuldung 98 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Zudem wurde der griechischen Wirtschaft in einem im September 1992 veröffentlichten Bericht der OECD ein ungünstiger wirtschaftlicher Entwicklungsverlauf attestiert. Bereits Anfang 1991 musste die griechische Wirtschaft von einer beträchtlichen Anleihe der Europäischen Gemeinschaft gestützt werden. 48 Auch Mitte der 90er Jahre war die wirtschaftliche Situation Griechenlands weiterhin schlecht: Weithmann spricht von einer extrem hohen Staatsverschuldung ohne Aussicht auf eine Abschwächung der Neuverschuldung; Griechenland sei finanziell von der Europäischen Gemeinschaft abhängig gewesen. Als wichtigste Devisenquelle nach dem Export und vor dem Tourismus werden die Brüsseler Subventionen genannt. 49 Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten spiegelten sich auch darin wider, dass Griechenland die zur Teilnahme an der WWU ab 1999 notwendigen Konvergenzkriterien im Referenzjahr 1997 nicht erfüllen konnte. Erst zwei Jahre später war dies der Fall, Griechenland wurde das zwölfte an der WWU teilnehmende EU-Mitgliedsland. Allerdings ist heute bekannt, dass die Erfüllung der Kriterien, deren dauerhafte Einhaltung die Stabilität des Euro als gemeinsamer Währung sichern sollte, erst durch Manipulation möglich gemacht wurde. 50 3.4 Interne Ursachen für die finanziellen Probleme Auf die Gesamtheit der Gründe für die wirtschaftlichen Probleme kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden, doch sollen in aller Kürze interne Ursachen angesprochen werden, die auch an späterer Stelle noch eine Rolle spielen werden. Richard Clogg sieht in Bezug auf die Anfangstage der PASOK-Regierung (um 1981) drei Hauptprobleme: Erstens die Schwarzarbeit, die zeitweise ca. 40% der wirtschaftlichen Tätigkeit ausge- 47 Vgl. Tzermias 1993, S. 258f; Weidenfeld 2006, S. 432f. 48 Der 1990 an die Macht gekommene Ministerpräsident Konstantinos Mitsotakis sprach von der größten wirtschaftlichen Krise in der Geschichte der Nachkriegszeit, die er durch ein (wie später ersichtlich wurde gescheitertes) Sparprogramm überwinden wollte. Vgl. Clogg 1997, S. 254. 49 Vgl. Clogg 1997, S. 249; Tzermias 1993, S. 259f; Weithmann 1994, S. 260. 50 Vgl. Weidenfeld 2006, S. 433.

J. F. Heuer: Das Ethnische im Sozialen am Beispiel der griechischen Finanzkrise 15 macht habe, zweitens ein hohes Maß an Korruption und damit zusammenhängend die Abhängigkeit des politisches Systems von Patronage und Klientelwirtschaft. Drittens, dass die politisch durchgeführten Änderungen sowohl Außen- als auch Innenpolitik betreffend oft nur kosmetischer Natur 51 gewesen seien. 52 Insbesondere Anfang der 90er Jahre spielten auch innerparteiliche Probleme in Bezug auf Ideologie und personelle Struktur eine Rolle, sowohl in der PASOK als auch in der Nea Dimokratia. 53 3.5 Fazit Insgesamt betrachtet fällt ein Kontrast zwischen Griechenland und der Mehrheit der westeuropäischen Staaten in mehrfacher Hinsicht ins Auge: Die aus strategischen Erwägungen erfolgte finanzielle Unterstützung Griechenlands verhinderte nicht eine unterschiedlich starke wirtschaftliche Entwicklung der westeuropäischen Staaten und Griechenlands, sodass sich ein Abhängigkeitsverhältnis verfestigen konnte. Zum anderen sind starke gesellschaftliche Unterschiede festzustellen, in dem Sinne, dass Griechenland im Gegensatz zu den wirtschaftsstärksten westeuropäischen Ländern wie Frankreich und der BRD noch bis in Mitte der 70er Jahre hinein der Erfahrung einer Diktatur ausgesetzt war. Von einer stabilen Entwicklung der Demokratie konnte also keine Rede sein. In diesem Zusammenhang ist zudem die starke kommunistische Tradition in Griechenland zu erwähnen, die über den Bürgerkrieg hinaus (1941-1949) Konfliktpotential barg. 54 4 Erkenntnisinteresse 4.1 Die Bedeutung der griechischen Finanzkrise für Deutschland Beim Versuch die griechische Finanzkrise der Jahre 2009 und vorrangig 2010 in einem Überblick darzustellen, stößt man unweigerlich auf das Problem, dass es sich dabei natürlich um ein Phänomen von äußerster Komplexität handelt. Trotz einer Eingrenzung der Thematik auf die Bedeutung der Krise für Deutschland bleiben jedoch nicht zuletzt die in der Folge angesprochenen Aspekte relevant: 51 Clogg 1997, S. 248. 52 Vgl. Clogg 1997, S. 248f.; Weithmann 1994, S. 258. 53 Vgl. Tzermias 1993, S. 255ff. 54 Bis Anfang der 90er Jahre vertrat die PASOK als eine der großen Parteien Griechenlands explizit neo-marxistische Thesen. Vgl. Tzermias 1993, S. 256.

J. F. Heuer: Das Ethnische im Sozialen am Beispiel der griechischen Finanzkrise 16 Es handelt sich zunächst, wie die Heranführung im letzten Kapitel bereits angedeutet hat, um eine politische und wirtschaftliche Notlage, die für die deutsche Politik grundlegend auch darin besteht, dass sie das griechische politische Handeln nicht oder nur indirekt über die EU-Ebene, so wie es in Form der Sparvorschriften an Athen geschieht, beeinflussen kann. Trotzdem ist sie aber von diesem in einem gewissen Umfang abhängig, z. B. in Bezug auf die Stabilität der gemeinsamen Währung. Für die EU-Politik wiederum stellt(e) sich die Frage, wie mit Griechenland umzugehen ist: Reicht die Durchsetzung von Sparmaßnahmen und Reformen? Sind Hilfszahlungen notwendig? Oder muss Griechenland sogar aus der Währungsunion austreten? 55 Weiterhin handelt es sich um ein soziales Problem, nicht nur für Griechenland, sondern auch für Deutschland, wo nach der Entscheidung zur Bereitstellung der Hilfskredite ebenso Sparmaßnahmen in den verschiedensten Bereichen durchgeführt werden sollen. Ferner besitzt die Finanzkrise auch eine moralische Problematik, die sich vor allem in der Frage der Gerechtigkeit einer Hilfeleistung ausdrückt. So titelte etwa die ZEIT: Spinnen die Griechen? Nach den Banken jetzt die Hellenen mit Milliarden aus Deutschland sollen sie gerettet werden. Verdienen sie das? 56 Inwiefern sind sie also überhaupt als gleichwertige Partner in der europäischen Gemeinschaft, die nicht nur eine Wirtschaftsgemeinschaft darstellen soll, sondern auch als eine Wertegemeinschaft konzipiert ist, anzusehen? 57 Darüber hinaus soll schließlich auch der emotionale, psychologische Aspekt nicht unerwähnt bleiben, denn mit finanziellen Einschnitten der Regierung kann auch die Angst vor Arbeits- und Statusverlust in der deutschen Gesellschaft einhergehen. 4.2 Fragestellung und Hypothese In Anbetracht der geschilderten Problemlage stellt sich aus kulturwissenschaftlicher Sicht die Frage, inwiefern sich die ökonomischen, politischen und sozialen Phänomene, auch vor dem aufgezeigten historischen Hintergrund, auf einer kulturellen Ebene niederschlagen, bzw. ob oder auf welche Weise kulturell argumentiert wird. 55 Josef Joffe: Euros in die Ägäis, ZEIT, 29.04.2010, S. 14; Sieben Fragen zu Griechenland, ZEIT, 29.04.2010, S. 25. 56 Spinnen die Griechen?, ZEIT, 29.04.2010, S. 1. 57 http://www.bundesregierung.de/webs/breg/de/europa/ausstellung50jahreeuropa/ Wertegemeinschaft/wertegemeinschaft.html (27.07.2010).

J. F. Heuer: Das Ethnische im Sozialen am Beispiel der griechischen Finanzkrise 17 Die Hypothese, der im Anschluss nachgegangen werden soll, lautet, dass die oben umrissenen Dimensionen der Krise wenn nicht gelöst, so doch zumindest in kulturellen Kategorien gedacht und mit diesen besser bewältigt werden können falls diese Kategorien massenmedial artikuliert werden. Bestimmte Aussagen von Politikern, wie etwa Wir dürfen nicht die Mentalität von Griechenland haben 58 führen in diesem Zusammenhang zu der Annahme, dass (stereotype) Vorstellungen von Nationalitäten sowie Bilder von Ethnien dabei eine Rolle spielen mögen. Auf diese und deren historische Bedingtheit soll sich daher in der Untersuchung der Fokus richten. In Bezug auf die Analyse und die angestrebte Verifizierung der Hypothese besteht zunächst die Frage nach dem Quellenmaterial. Sollten mit Interviews oder mit Fragebögen zufriedenstellende Ergebnisse erreicht werden, müsste eine solche Kampagne in einem Maßstab durchgeführt werden, der dem beschränkten Umfang dieser Ausarbeitung nicht entsprechen würde. Demgegenüber bieten die Massenmedien einen geeigneten Ansatzpunkt, berücksichtigt man z. B. die Beobachtung von Andreas Reckwitz, dass (wie besonders seit Anfang der 90er Jahre gut dokumentierbar sei) insbesondere auf massenmedialer Ebene eine Neubeschreibung sozialer Gruppen und Institutionen stattfinde beeinflusst durch Kategorien der Kultur. 59 Daher erscheint für eine Untersuchung in erster Linie eine auflagenstarke, im gesamten deutschen Raum beziehbare Tageszeitung geeignet zu sein, auch im Hinblick auf die Verfügbarkeit des Quellenmaterials. 60 Aus diesen Gründen sollen in einer empirischen Analyse Ausgaben der Bild (im Folgenden BILD) von Ende Januar bis Anfang Juni 2010 im Vordergrund stehen. 61 Auf diese Weise ist der Zeitraum ab dem Bekanntwerden der kritischen Ausmaße der griechischen Finanzlage bis zur Initiierung des Rettungsschirms für finanziell angeschlagene EU-Staaten und die darauf folgenden medialen Reaktionen abgedeckt. Als Vergleichsmedium fungiert in einigen Fällen Die Zeit (im folgenden ZEIT), die in der Sparte der Wochenzeitungen ebenfalls die höchste Auflage aufzuweisen hat. 62 58 Peter Dausend, Tina Hildebrand: Griechenland in Gladbeck, ZEIT, 06.05.2010, S. 5. 59 Vgl. Reckwitz 2009, S. 411. 60 Auf dieses ist z. B. bei der Analyse einer Nachrichtensendung im Nachhinein nur schwer zuzugreifen. 61 Sowohl die Print-, als auch die Online-Ausgabe. 62 Vgl. http://meedia.de/nc/details-topstory/article/die-zeitungsauflagen-im-1-quartal_ 100019634.html (27.07.2010).

J. F. Heuer: Das Ethnische im Sozialen am Beispiel der griechischen Finanzkrise 18 Um die inhaltliche Analyse der BILD-Nachrichten auf eine (kultur-) wissenschaftliche Basis zu stellen, ist es notwendig, im folgenden Kapitel zunächst eine Reihe von theoretischen Ansatzpunkten zu erläutern: Dabei handelt es sich um die als erstes auf das Massenmedium Fernsehen bezogene bardic function 63 von Massenmedien, sowie um den Begriff der Ethnie bzw. der Ethnizität, von dem durchaus konträre Definitionen vorgenommen worden sind. Auch auf die Sichtweise von Kultur als einem Produkt wird eingegangen werden. 5 Theoretische Grundlagen 5.1 Die bardische Funktion von Massenmedien An dieser Stelle wird nun zunächst anhand eines medientheoretischen Ansatzes versucht werden, die Funktionsweise von Massenmedien und damit auch deren Erfolg nachzuvollziehen. Denn gemessen an der mit täglich ca. 3 Millionen Käufern extrem hohen Auflagen der BILD und insbesondere, wenn davon ausgegangen wird, dass es sich bei der BILD um eine Boulevardzeitung handelt, die häufig im öffentlichen Raum, etwa in U-Bahnen oder Zügen, liegen gelassen und dadurch längst nicht nur vom Käufer selbst gelesen wird, ist allgemein gesprochen durchaus von einem Erfolg von deren journalistischen Vorgehensweisen zu sprechen. 64 Als Ansatzpunkt hierfür dient John Fiskes und John Hartleys erstmals 1978 veröffentlichtes Werk Reading Television. Darin gehen die Autoren davon aus, dass das Fernsehen sich ebenso lesen lasse wie etablierte Medienformen, etwa Romane oder Theaterstücke. Ferner messen sie dem Fernsehprogramm einen kulturellen Stellenwert bei und wollen nicht nur den manifest content 65 eines gesendeten Programms erfassen, sondern auch die latent content[s] 66 (wie etwa Mythen) und konnotativen Aspekte von 63 Fiske, Hartley 2003, S. 64. 64 Vgl. http://meedia.de/nc/details-topstory/article/die-zeitungsauflagen-im-1-quartal_ 100019634.html (27.07.2010). 65 Fiske, Hartley 2003, S. 8. 66 Fiske, Hartley 2003, S. 8.

J. F. Heuer: Das Ethnische im Sozialen am Beispiel der griechischen Finanzkrise 19 Sendungen. Nach Hepp sprechen die Autoren hierbei von der kulturellen Lokalisiertheit 67 des Fernsehens. 68 Entscheidend für diese Arbeit ist, inwiefern sich die funktionale Besonderheit, die Fiske und Hartley in der Rolle des Fernsehens als Kommunikator der kollektiven Selbstvergewisserung 69 verorten, auf ein Printmedium wie die BILD übertragen lässt. Die beiden Autoren sprechen in Bezug auf diese Rolle von der bardic function 70 des Fernsehens, da es etwa - vergleichbar mit einem Barden in oralen Gesellschaften die grundlegenden Mythen einer Gesellschaft sammelt, (re-)kombiniert und in umfassenden Mythologien weiterverbreitet. 71 Doch nicht nur das Fernsehen wurde mit einer bardischen Funktion in Verbindung gebracht, auch von einem bardic radio könne, so Andrew Crisell, die Rede sein. Denn auch dieses Medium zeichne sich durch eine sekundäre Oralität 72 aus und gehe von einem Hintergrund gemeinsamer Erfahrungen der Rezipienten aus, sodass sich die Hörer Verbindendes betonen lasse. Ein weiteres Charakteristikum sei die Verwendung der Alltags- bzw. Umgangssprache der Hörenden, die vor allem durch einfache und additiv strukturierte Sätze gekennzeichnet sei. 73 Die Sprachstruktur bietet somit einen ersten Anknüpfungspunkt an die untersuchte Boulevardpresse und damit für die Formulierung einer bardic yellow press. Denn auch in der BILD wird z. B. zu einem großen Teil auf kurze und einfache, teils oral anmutende Satzstrukturen zurückgegriffen. Ein wesentlicher Bestandteil der bardic function bestehe zudem in der Übermittlung eines kulturellen Zugehörigkeitsgefühls, etwa indem das in einer Gesellschaft vorherrschende Wertsystem vermittelt werde. Damit hängt zusammen, dass Unangemessenhei- 67 Hepp 2004, S. 125. 68 Vgl. Hepp 2004, S. 124f.; Fiske, Hartley 2003, S. 64ff. 69 Hepp 2004, S. 126. 70 Fiske, Hartley 2003, S. 64. 71 Hepp 2004, S. 126. 72 Hartley und Fiske stellen fest, dass die Strukturen und Codes von Fernsehtexten nicht so sehr denen des Schreibens, sondern eher denen des Sprechens ähneln. Beim Fernsehen handele es sich daher vorrangig um eine orales und nicht um ein literales Medium. Vgl. Hepp 2004, S. 124f. 73 Vgl. Crisell 1994, S. 87; Hepp 2004, S. 129.

J. F. Heuer: Das Ethnische im Sozialen am Beispiel der griechischen Finanzkrise 20 ten der gesellschaftlichen Entwicklung herausgestellt werden. 74 Auf europäischer Gesellschaftsebene ließe sich in diesem Zusammenhang darauf verweisen, dass die BILD darauf aufmerksam macht, dass sich angeblich die einen auf Kosten anderer vergnügen. 75 Dazu später mehr. Auch die zeremonielle Funktion, die sich darin ausmachen lässt, dass die zentralen Festtage und die für eine Gesellschaft wichtigsten Ereignisse zelebriert werden, scheint ü- bertragbar zu sein, etwa wenn an Siege der Fußballnationalmannschaft gedacht wird. 76 Nach Benedict Anderson erfüllt zudem das Zeitungslesen selbst eine zeremonielle Funktion. Anderson begreift die Tageszeitung als ein Buch der besonderen Art, als einen Bestseller, der allerdings nur für eine minimale Dauer von Aktualität ist. Gerade deshalb jedoch und aufgrund der Verwendung einer Hegemonial-Sprache 77 verfüge die Tageszeitung über die Qualität, der gedanklichen Konstruktion der Nation als bestimmter Ausformung einer imagined community dienlich zu sein. Bei dem morgendlichen Zeitungslesen etwa handele es sich um ein kollektives Zeremoniell, bei dem sich der Leser der Tausend oder Millionen anderer Leser in einem lokal abgegrenzten Raum bewusst sei. Er kenne zwar deren Identität nicht, sei sich aber ihrer Existenz bewusst. 78 5.2 Ethnizitätstheorien: Konstruktivisten und Primordialisten Die Vorstellungen davon, was unter den Begriffen Ethnie und Ethnizität 79 zu verstehen sei, lassen sich nach J.C. Mitchell in zwei Hauptgruppen unterteilen, 80 wobei wie auch bei der Weiterentwicklung des Kulturbegriffs 81 eine Veränderung vom statischen zum prozesshaften Verständnis festzustellen ist. Auch aus diesem Grund ist der neueren der beiden Denkweisen, deren Anhänger Konstruktivisten genannt werden, bei Betrachtung des aktuellen Phänomens der Vorzug zu geben. Bei diesem Ansatz, auch als kognitiv oder interpretativ bezeichnet, wird davon ausgegangen, dass es Ethnien nur deshalb 74 Vgl. Fiske, Hartley 2003, S. 67; Hepp 2004, S. 126. 75 Vgl. Einar Koch: Rettet den Euro!, BILD, 11.05.2010, S. 3. 76 Vgl. Fiske, Hartley 2003, S. 67; Hepp 2004, S. 126. 77 Verwendung z. B. des Dialekts Hochdeutsch. 78 Vgl. Anderson 1988, S. 41. 79 Vgl. zur Durchsetzung dieses Begriffs (u.a. vor dem sowjetischen etnos ) Giordano 1997, S. 58. 80 Vgl. Mitchell 1974, S. 1ff. 81 Vgl. zur Entwicklung des Kulturbegriffs Wimmer 1996.

J. F. Heuer: Das Ethnische im Sozialen am Beispiel der griechischen Finanzkrise 21 gibt, weil die Menschen glauben, dass es Ethnien gibt und dementsprechend handeln 82. Es handelt sich vielmehr um die Ausformung einer imagined community 83. Ferner werden Ethnien, so Dittrich und Lentz, im Prozeß sozialen Handelns von Akteuren konstituiert und unterliegen ständigem Wandel. Kulturelle Differenzen reale oder gedachte liegen der ethnischen Gruppenbildung nicht als aus sich selbst wirkende Ursachen zugrunde, sondern stellen Ressourcen dar, die unter bestimmten Bedingungen von den sozialen Akteuren für signifikant gehalten und für die Abgrenzung herangezogen werden können. 84 Dieser Ansatz deckt sich mit der Sichtweise von Andreas Wimmer, der im Zusammenhang mit sozialer Schließung von Ethnien spricht, wenn diese Distinktionspraxis zum Kernelement eines Wir-Gefühls einer Gruppe wird und sie sich als Abstammungsgemeinschaft versteht, also als Menschen gleicher Kultur und Herkunft 85. Bei dieser Definition wird bereits deutlich, dass Ethnizität häufig auch in einem historischen Zusammenhang zu sehen ist. Demgegenüber steht die ältere strukturelle oder auch als essentialistisch bezeichnete Konzeption, deren Befürworter auch Primordialisten genannt werden. 86 Unter anderem Stuart Hall weist darauf hin, dass die alten Ethnizitäten und deren Verbindungen mit Macht nach wie vor vorherrschen würden. 87 Bei dieser essentialistischen Sichtweise wird, wie die Bezeichnung bereits andeutet, von objektiven Merkmalen und damit von objektiver kultureller Differenz von Ethnien ausgegangen. Diese Merkmale seien auf der Handlungsebene empirisch beobachtbar und würden sich zudem in spezifischen sozialen Institutionen und Rollen niederschlagen 88. Bei ethnicity handele es sich daher um einen Komplex von Grundeigenschaften. 89 Nach diesen wird im Folgenden Ausschau gehalten, sobald der Verdacht der Essentialisierung besteht. 82 Dittrich, Lentz 1994, S. 34. 83 Zum Begriff der Nation als imagined communtiy siehe Anderson 1988, S. 14ff. 84 Dittrich, Lentz 1994, S. 29. 85 Wimmer 1996, S. 413. 86 Es lässt sich weiterhin unterscheiden zwischen anthropologischem und sozialbiologischem Primordialismus. Vgl. dazu Giordano 1997, S. 59; Heckmann 1997, S. 48. 87 Vgl. Hall 1999a, S. 98. 88 Giordano 1997, S. 59. 89 Vgl. Giordano 1997, S. 59f.; Heckmann 1997, S. 48ff.

J. F. Heuer: Das Ethnische im Sozialen am Beispiel der griechischen Finanzkrise 22 Das essentialistische Verständnis steht zudem erkennbar in Verbindung mit dem klassischen Kulturbegriff, bei dem die Vorstellung von einer Kultur als homogene Einheit mit geringen intrakulturellen Variationen vorherrscht. Interkulturellen Differenzen wiederum sei dagegen ein höherer Stellenwert einzuräumen. Zudem werden diese einheitlichen, abgeschlossenen Kulturen, innerhalb derer die Individuen bestimmten kulturellen Regeln folgen würden, als auf die Dauer betrachtet recht stabil angesehen. 90 Es wird daher auch darauf zu achten sein, inwiefern darauf hingearbeitet wird, die Bevölkerung Griechenlands als eine homogene Masse erscheinen zu lassen, indem etwa innergesellschaftliche Unterschiede außen vor bleiben. 5.3 Kultur als Produkt Eine in der BILD verwendete Wortkombination wie Schulden-Europameister, 91 die vermutlich auf den Sieg der griechischen Fußballnationalmannschaft im Jahr 2004 und bzw. oder auf den Titel Export-(Vize)Weltmeister für Deutschland 92 während der letzten Jahre anspielen soll, lässt bereits vermuten, dass ein wichtiges Element beim Entwurf der BILD-Nachrichten darin besteht, auf dem Rezipientenkollektiv bereits bekannte Zusammenhänge mit dem aktuellen Gegenstand der Berichterstattung zurückzugreifen, womit sich ein Anknüpfungspunkt an die oben dargestellte bardische Funktion ergäbe. Wenn nun, wie es das Verständnis der bardic function nahelegt, davon ausgegangen wird, dass sich in den Artikeln der BILD bestimmte Sichtweisen der Rezipienten widerspiegeln bzw. aufgegriffen werden, muss zunächst versucht werden, eine theoretische Grundlage für diesen Mechanismus zu finden. Eine Hilfestellung liefert hierbei das eingangs bereits angesprochene Kulturverständnis von Wolfgang Maderthaner und Lutz Musner, wie es in Die Selbstabschaffung der Vernunft (2007) formuliert wird. Dort unterscheiden Maderthaner und Musner zwischen Kultur als Prozess und Kultur als Produkt. Und zwar als Produkt 90 Kritikpunkte in Bezug auf den klassischen Kulturbegriff sind im Wesentlichen folgende: Er würde Machtbeziehungen (z. B. zwischen Klassen, Geschlechtern, Generationen, aber auch zwischen ganzen Gesellschaften) missachten, die einzelnen Individuen würden nur die Rolle ausführen, die ihnen das kulturelle Skript vorschreibt (Modell des übersoziologisierten Individuums) und aufgrund fehlender Eigendynamik könne es höchstens durch Kontakt mit anderen Kulturen zu einer Veränderung kommen. Vgl. Lentz 2009, S. 315; Wimmer 1996, S. 403ff. 91 Hans-Jörg Vehlewald: So verbrennen die Griechen die schönen Euros, BILD, 28.02.2010, http://www.bild.de/bild/politik/2010/03/01/griechenland-wahnsinn/pleite-euroverbrennen-milliardenhilfe.html (28.07.2010). 92 Vgl. http://www.tagesschau.de/wirtschaft/export2.html (27.07.2010).