Sozialstaat/Wohlfahrtsregime I Sozialstaat Schweiz: Alterssicherung Frühlingssemester 2013 Maurizio Coppola, MA Sozialwissenschaften 09.04.2013 1
Struktur der heutigen Vorlesung Überblick über das 3-Säulen-System Charakteristika der 3 Säulen: 1. Säule: AHV und EL 2. Säule: Berufliche Vorsorge 3. Säule: Individuelle Vorsorge Gruppendiskussion Historische Verortung und Beurteilung des 3- Säule-Systems 2
Trägerin Ziel Überblick der Alterssicherung AHV Berufliche Vorsorge Individuelle Vorsorge Staatliche Institutionen Existenzsicherung der gesamten Bevölkerung (1/3 des vorherigen Verdienstes) Private Unternehmen (betriebliche Pensionskassen) Fortführung des bisherigen Lebensstandards (2/3 des vorherigen Verdienstes) Finanzierung Umlageverfahren Kapitaldeckungsverfahren Systemprinzip Solidarität Sozialversicherungs prinzip/versorgungs -prinzip (EL) Vertikal und zwischen Generationen Versicherungsprinzip keine Private Unternehmen (Banken, Versicherungen) Zusätzliche, individuelle Lebensstandardsicherung Steuerbegünstigtes, individuelles Sparen (Freiwilliges) Versicherungsprinzip keine 3
1. Säule: AHV Allgemein: Versicherung für den Schutz im Alter und für Hinterlassene Obligatorische Versicherung Beitragspflichtig Nicht beitragspflichtig 4
1. Säule: AHV Beiträge: Beitragspflicht Keine Beitragsbemessungsobergrenze Mindestbeitrag 475.- CHF/Jahr Fehlende Beitragsjahre können zu Kürzungen der Leistungen führen 4.2% des massgebenden Einkommens je ArbeiterInnen und Unternehmen 5
1. Säule: AHV Leistungen: Geldleistungen: Altersrenten: min. 1160 CHF, max. 2320 CHF (Unterscheidung Beitragszeit und Beitragshöhe) Kinderrenten Witwen- und Witwerrenten Waisenrenten Hilflosenentschädigung Sachleistungen: Hilfsmittel 6
1. Säule: EL Ergänzungsleistungen: Keine Versicherungsleistungen sondern beitragsunabhängige, individuelle Bedarfsrenten zur Sicherung des Grundbedarfs Versorgungsprinzip Zusatzleistungen zu den Renten der AHV und IV Steuerfinanziert (keine Versicherung) Berechnet sich nach dem Mehr der Ausgaben im Vergleich zu den Einnahmen einer Person bzw. eines Haushaltes Ca. 12% der AHV-RentnerInnen beziehen EL 7
2. Säule: Berufliche Vorsorge Allgemein: «Eine Versicherung, die den Versicherten nach der Pensionierung die Fortsetzung ihrer gewohnten Lebenshaltung in angemessener Weise ermöglichen soll.» 2-stufiger Versicherungsschutz: obligatorische Mindestversicherung freiwilliges Überobligatorium 8
2. Säule: Berufliche Vorsorge Beiträge: Mindestverdienst: 20 880.- CHF Obligatorisch 1985 eingeführt (bis 83'520.- CHF) Überobligatorium Koordinationsabzug: 24'360.- CHF (an AHV-Maximalrente orientiert) Höhe der Beiträge wird von den Pensionskassen selbst festgelegt Geleistete Beiträge = Altersgutschriften (individuelles Konto) Verzinsung der Altersgutschriften Altersgutschriften + Verzinsung = Altersguthaben 9
2. Säule: Berufliche Vorsorge Leistungen: Bei Eintritt eines Versicherungsfalls: Alter: Altersrente (allenfalls mit Kinderrente) Tod: Waisenrente, Ehegatten-/Partnerrente oder Abfindung Invalidität: Invalidenrente (allenfalls mit Kinderrente) Alter Bei Erreichung des Rentenalters: Auszahlung des Altersguthabens oder lebenslange Rente Umwandlungssatz: Vorhandenes Altersguthaben wird mittels Umwandlungssatz in lebenslange Rente umgewandelt Beispiel: 200 000. Altersguthaben 6.9% Umwandlungssatz (Mann) 13 800. jährliche Rente 10
2. Säule: Berufliche Vorsorge Berechnungsarten von Beiträge und Leistungen: Beitragsprimat: Leistungen der BV richten sich nach der Höhe der geleisteten Beiträge (Altersgutschriften) als Prozente des Lohnes Leistungsprimat: Höhe der Beiträge richtet sich nach der vorgesehenen, im vornherein festgesetzte Leistungen in Prozenten des versicherten Lohnes => Tendenzen zum Übergang zum Leistungsprimat 11
3. Säule: Individuelle Vorsorge Allgemein: Eine zusätzliche Möglichkeit der Vorsorge Weiterführung des gewohnten Lebensstandards 12
3. Säule: Individuelle Vorsorge Beiträge: Individuelles Sparen Steuerbegünstigungen Gebundene Vorsorge (Säule 3a) Freie Vorsorge (3b) 13
3. Säule: Individuelle Vorsorge Leistungen: Gemäss dem abgeschlossenen Vertrag Altersleistungen werden frühestens fünf Jahre vor Erreichen des ordentlichen AHV-Alters ausbezahlt Vorzeitige Auszahlung: Erwerb von Wohneigentum oder Aufnahme einer selbständigen Erwerbstätigkeit 14
Gruppendiskussion Diskutieren Sie in 5er-Gruppen folgende Frage (10 Minuten): Ordnen Sie die drei Bereiche des schweizerischen Systems der Alterssicherung in die Wohlfahrtstypologie nach G. Esping-Andersen ein. Wie beurteilen Sie das Gesamtsystem? Bestimmen Sie einen SprecherIn, welche die Ergebnisse Ihrer Diskussion den übrigen Studierenden kurz darlegt. 15
Das 3-Säulen-System und die Wohlfahrtstypologie nach GEA AHV Berufliche Vorsorge Individuelle Vorsorge Trägerin Staatliche Institutionen Private Unternehmen (betriebliche Pensionskassen) Ziel Existenzsicherung der gesamten Bevölkerung (1/3 des vorherigen Verdienstes) Fortführung des bisherigen Lebensstandards (2/3 des vorherigen Verdienstes) Private Unternehmen (Banken, Versicherungen) Zusätzliche, individuelle Lebensstandardsicherung Finanzierung Umlageverfahren Kapitaldeckungsverfahren Steuerbegünstigtes, individuelles Sparen Systemprinzip Solidarität Typologie Sozialversicherungsprinzip/ Versorgungsprinzip Vertikal und zwischen Generationen Universell: sozialdemokratischer Typ (jedoch tiefe Dekommodifizierung) Versicherungsprinzip keine Betrieblich/Individuell: konservativer/ liberaler Typ (wichtige Stratifizierungseffekte) (Freiwilliges) Versicherungsprinzip keine Individuell: liberaler Typ => Wie kann das Gesamtsystem in Bezug auf die Typologie von GEA eingeordnet werden? 16
Der Weg zum 3-Säulen-System Historisch: private vs. public Staatliche Alterssicherung in der Schweiz erst spät diskutiert Forderung des Generalstreiks vom 11. 14. November 1918: Einführung einer staatlichen Altersversicherung 1920er: Dominanz der betrieblichen und privaten Vorsorgeeinrichtungen 1925: Verfassungsartikel zur Altersvorsorge 1931: Ablehnung einer staatlichen Alterssicherung durch die stimmberechtigte Bevölkerung Aufschwung und Ausbau der betrieblichen Vorsorgeeinrichtungen 17
Der Weg zum 3-Säulen-System Einführung AHV: 1947: Annahme der AHV durch die stimmberechtigte Bevölkerung Kontext: Elend und soziale Ungleichheiten, Arbeitskämpfe (v.a. in der Romandie), Problem «Alter» (drei gesamtgesellschaftlich zu regulierende «Probleme») Minimalversicherung im Schatten der betrieblichen Vorsorge (AHV ergänzt betriebliche Kassen, nicht umgekehrt!) Renten 1948: max. 125.- CHF monatlich 18
Der Weg zum 3-Säulen-System Berufliche Vorsorge: 1972: Annahme des 3-Säule-Systems durch die stimmberechtigte Bevölkerung (Bundesverfassungsartikel) Gegenprojekt des Bundesrates zur «Volkspension» (Zusammenlegung der 1. und 2. Säule, staatlich organisiert) 1985: BVG tritt in Kraft 19
Der Weg zum 3-Säulen-System Beurteilung: Politische Auseinandersetzungen über das 3-Säule-System haben schon sehr früh stattgefunden, vor 1972 Zeitlich lange Auseinandersetzung aufgrund von Mechanismen der direkten Demokratie, Antizentralisierungstendenzen, Diskrepanz zwischen Verabschiedung von Gesetzen und deren praktische Implementierung Enge Kooperation zwischen Regierung und Pensionskassen- und Versicherungslobby Pfadabhängigkeit? 20
Der Weg zum 3-Säulen-System Beurteilung: Obligatorium privater «Sozialprogramme» heisst nicht sozialstaatliche Expansion (Begriff: «privater Sozialstaat») Stärke der bürgerlichen Parteien und der Unternehmensverbände: AHV als Ergänzung zu den Pensionskassen? Dezentrale Arbeitsbeziehungen beeinflussen sozialstaatliche Organisation Auseinandersetzung um die Finanzierung und Organisierung der Pensionskassen als Auseinandersetzung um die Kontrolle von Erspartem und Kapital verstehen Weltbank-Bericht 1994: Einführung beruflicher und individueller Systeme als Antwort auf die «Krise der Altersvorsorge» -> Vorreiterrolle der Schweiz in den «neoliberalen» Reformen 21
Struktur der Alterseinkommen von 2-Personen-Haushalten 2001 1. Säule: staatlich 2. Säule: betrieblich 3. Säule: privat Schweiz 42% 32% 26% Deutschland 85% 5% 10% USA 45% 13% 42% Niederlande 50% 40% 10% Deutsches Institut für Altersvorsorge 2001 Was sagt diese Tabelle über das Verhältnis von Staat, Markt und Familie (eine Dimension von GEA für die Erfassung von Sozialstaaten) in der Alterssicherung aus? 22
Literatur Gärtner, Ludwig (2006). Alterssicherung in der Schweiz. Bürger-Sicherung und Arbeitnehmer-Vorsorge. In: Carigiet, Erwin, Ueli Mäder, Michael Opielka und Frank Schulz-Niewandt (Hg.). Wohlstand durch Gerechtigkeit, Deutschland und die Schweiz im sozialpolitischen Vergleich (73-88). Zürich: Rotpunkt Verlag. Bollier, Gertrud E. und Verein zürcherischer Gemeinderatsschreiber und Verwaltungsbeamter (2009). Leitfaden schweizerische Sozialversicherung (11., überarb. Aufl.). Wädenswil: Verlag Stutz. Degen, Bernhard (2006). Entstehung und Entwicklung des schweizerischen Sozialstaates. In: Bundesarchiv, Schweizerisches (Hg.). Geschichte der Sozialversicherungen (17-48). Zürich: Chronos Verlag. Leimgruber, Matthieu (2008). Solidarity without the State? Business and the shaping of the Swiss Welfare State 01890-2000. Cambridge: University Press. Streckeisen, Peter (2010). Helvetische Mythen: wie der private Sozialstaat verklärt wird. In: Telegraph 120/121, S. 161-168. 23