Was braucht es? Bedingungen für ein Gelingen wirksamer Förderung für besonders auffällige junge Menschen DVJJ-Fachtgung: Geht doch?! Ansätze wirksamer Förderung für besonders auffällige junge Menschen Bad Boll 14.2.2015 Christian Schrapper
der besonders auffällige respektiert notwendige Regeln für ein akzeptables Zusammenleben nicht Missachtung für die Grenzen des Gegenüber verweigert das Prinzip Leistung (nur) für Gegenleistung ist bereit, Gewalt auszuüben um sich durchsetzen um sich darzustellen (auch als Mann) verweigert erzieherische Einflussnahme Erwachsener vor allem in der Schule auch in der Jugendhilfe junge Mensch Wodurch sollen diese jungen Mensch wirksam gefördert werden?
meine Antwortversuche: wirksame Förderung kann gelingen, wenn... 1.... ein konsequent anderer Blick auf diese jungen Menschen möglich wird, auf ihre Lebensgeschichten und Lebensumstände, die in den unterschiedlichsten Erscheinungsformen von viel Respektlosigkeit und Überwältigung geprägt waren und sind; 2.... für jeden einzelnen jungen Menschen eine verstehende (nicht verständnisvolle!) Idee für die Dialektik von Opfer sein und Täter werden erarbeitet wird; 3.... junge Menschen unmittelbar den produktiven Sinn von Normen, Leistung und Respekt am eigenen Leibe erfahren können; 4. Arrangements für Aneignung und Übung in unserer Welt von Normen, Leistung und Respekt zugleich geduldig und konsequent zur Verfügung gestellt werden
(1) der konsequent andere Blick der unerschütterliche Glaube an das gute im Menschen: der Mensch will so gerne das Gute... (Pestalozzi)... Verhalten kann nur durch Verhältnisse (Kontext) erklärt werden...... und ist zugleich eine freie Entscheidung der Subjekte sie wollen Identität ( = Übereinstimmung von Idee und Welt) erzeugen Kinder sind von ersten Tag ihres Lebens an darauf angewiesen, sich anzueignen, wie sie in ihrer Welt überleben können...... hierbei zählt nur, was sich als erfolgreich und nützlich erweist Lebensgeschichten sind fest verwachsene Rucksäcke, die weder abgelegt noch abgenommen werden können, die man ein Leben lang (er)tragen muss... der unerschütterliche Glaube an die prägenden Wirkungen von allseitiger Besorgung, lebendigem Vorbild und unverzichtbarer Reflexion (Pestalozzi)...... und Respekt für die Grenzen der Erziehung als eine kopoduktive Leistung mit immer ungewissem Ausgang.
(2) Verstehen der Dialektik von Opfer sein und Täter werden
Wie aus Kinder in Schwierigkeiten schwierige Kinder gemacht werden
Der Prototyp der Krisenintervention
Krisenintervention als Anfangspunkt von weiteren Krisen?
Fallverläufe mit einer endlosen Interventionsgeschichte
a. Was aus jungen Menschen in Schwierigkeiten schwierige junge Menschen macht... prekäre Lebensbedingungen, Armut, Krankheit, Gewalt, Trennungen, belastete, überforderte, hilflose, verzweifelte, mit sich beschäftigte Eltern b... und aus schwierigen jungen Menschen besonders auffällige junge Menschen: Regelinstitutionen (Kita, Schule), die schnell aussortieren und ausgrenzen Fachkräfte in Schule, Jugendhilfe und Justiz, die kaum Vorstellung über den roten Faden einer Lebens-und Hilfegeschichte erarbeiten Jugendhilfeeinrichtungen, die zu viel versprechen und zu wenig halten Kinder-und Jugendpsychiatrien, die Stempel verteilen, aber nicht heilen können...
Jeder Eskalation hat zwei Seiten Lebenssituation von Kindern und Familien: Frühe Unterversorgung Unvermögen zu sorgen Gewalterfahrungen Ambivalenzen Bedrohungen in der Szene Arbeitssituation von Fachkräften und Org.: unzureichende Diagnostik professionelle Konkurrenz kaum verbindliche Standards Zuständigkeitskonflikte mangelnde Ressourcen Hierarchie und Unverbindlichkeit die besondere Auffälligkeit junger Menschen ist auch Resultat einer Ko-Produktion, an der Instanzen für Erziehung wesentlich beteiligt sind; und zugleich fordern besonders auffällige junge Menschen diese Mitwirkung besonders heraus
(3) den produktiven Sinn von Normen, Leistung und Respekt am eigenen Leibe erfahren
(3) den produktiven Sinn von Normen, Leistung und Respekt am eigenen Leibe erfahren wirkungsvolle Förderung muss glaubhaft halten wollen/können, was sie verspricht: wirkungsvoll fördern Das Zuchthaus als Urknall der modernen Idee von der effizienten Förderung der besonders Auffälligen Normeneinhaltung muss nützlich sein, sonst macht sie keinen Sinn (sensemaking = Sinnstiftung = der Prozess, mit dem Menschen über die Sinne aufgenommenen Erlebnisstrom in sinnvolle Einheiten einordnen. Je nach der Einordnung der Erfahrung kann sich ein unterschiedlicher Sinn und damit eine andere Erklärung für die aufgenommenen Erlebnisse ergeben. (Karl E. Weick) Normendurchsetzung, die bekannte Verletzungen reproduziert, kann nur abgewehrt werden Wie wir in den Wald hinein rufen... nur Respekt erzeugt Respekt Kann Erziehung den produktiven Sinn erfahrbar machen?
(Exkurs) Erziehung als Reaktion auf Normübertretung? Erziehung hat drei Aufgaben und Funktionen: Wissen vermitteln Normenverdeutlichung Selbst-Bewusstsein bilden Herausforderungen pädagogischer Normenverdeutlichung Gerechtigkeitsproblem Gleichheitsproblem Gültigkeitsproblem häufigere Normverletzung immer auch ein Hinweis auf mangelhafte Lebensverhältnisse, unzureichende Förderung und/oder erhebliche Verletzungen eines jungen Menschen
Erziehung als Aktion zum Verstehen und Gestalten von Normen! Erziehungsverhältnisse sind immer Zwangsverhältnisse, die nur durch ihren erkennbaren Nutzen und Zugewinn an Selbstbestimmung zu rechtfertigen sind Erziehung kann nur Normen verdeutlichen, wenn junge Menschen daran etwas lernen können in der Gegenwart für die Zukunft Erziehung muss immer die Relativität der Normen eingestehen Erziehung muss die Produktivität der Normverletzung zugestehen Erziehung kann andere gesellschaftliche Instanzen der Normverdeutlichung nicht ersetzen, sondern bestenfalls in produktiver Spannung zu diesen gestaltet werden
Erziehung als Angebot zur Aneignung nützlicher Überlebensstrategien Erziehung muss Kindern immer wieder Angebote zum Um-und Neulernen erfolgreicher und respektierter Überlebensstrategien machen. Diese Angebote können auf Grenzsetzung nicht grundsätzlich verzichten, aber die aktuellen Grenzen müssen als Bedingung für neue Freiheiten und erweiterte Mündigkeit verständlich und vereinbar sein. (Beispiel: Verkehrserziehung = Sicherheit vergrößert Mobilität)
Was hat sich in der Förderung/Erziehung junger Menschen als wirkungsvoll erwiesen? als günstig erweist sich im Zusammenhang mit aussichtslosen Fällen (? Regina Rätz-Heinisch) Anschluss an individuelle biographische Handlungsmuster der Jugendlichen Auf Grundlage stellvertretender Deutungen alternative Handlungsmuster aufzeigen
Was hat sich in der Förderung/Erziehung junger Menschen als wirkungsvoll erwiesen? Jugendstrafvollzug in freien Formen in BW (W. Stelly): Alltag, der nicht von Sicherheits- und Ordnungsgedanken dominiert bauliche Bedingungen wohnlicher mehr Freiheiten und Mitbestimmungsmöglichkeiten pädagogisch ausgerichtetes Setting erlaubt erzieherische Beziehungen zivileres Verhältnis zw. Jugendlichen und Beschäftigten Aber trotzdem: Rückfallquoten ähnlich hoch/höher, wie im Regelvollzug besondere Bedingungen der Auswahl und Förderungen in der freien Form lässt sie nur für begrenzten Gruppe geeignet erscheinenb
Wirkungen geschlossener Heimerziehung im Spiegel einer Langzeituntersuchung
Was ist aus ihnen geworden? N = 32 von 50 Jgdl. der ersten drei Jahre Aufenthalt direkt nach KRIZ Mädchen Jungen insgesamt Wohngruppe 9 12 21 Auslandsmaßnahme 2 1 3 Mutter 2 2 4 Vater 0 3 3 beide Elternteile 0 3 3 Großeltern 1 0 1 KJP 3 1 4 JVA 0 3 3 unbekannt 3 1 4
Was ist aus ihnen geworden? Aktueller Aufenthalt Sommer 2009, 3-6 Jahre nach Aufenthalt im KRIZ Mädchen Jungen insgesamt eigene Wohnung 2 2 4 Wohngemeinschaft 0 2 2 Mutter 0 2 2 Vater 0 2 2 beide Elternteile 0 1 1 Großeltern 1 0 1 ohne festen Wohnsitz 4 3 7 Pflegefamilie 0 0 0 betreutes Wohnen/ eigene Wohnung + ambulante Betreuung 4 2 6 Wohngruppe 2 1 3 Auslandsmaßnahme 1 0 1 KJP 0 0 0 JVA 0 1 1 verstorben 0 1 1 unbekannt 10 8 18
Was ist aus ihnen geworden? Schulabschluss/ Ausbildung Sommer 2009, 3-6 Jahre nach Aufenthalt im KRIZ Realschulabschluss + Beginn einer Ausbildung Mädchen Jungen insgesamt 0 1 1 Hauptschulabschluss 2 2 4 Nachholen Hauptschulabschluss 3 0 3 Berufsmaßnahmen 1 1 2 ohne berufliche Perspektive 8 7 15 verstorben 0 1 1 unbekannt 9 14 23
7. Befunde zur Nachhaltigkeit pädagogischer Beeinflussung Je länger das KRIZ zurück liegt, um so mehr werden Geschichten erzählt (wie von alten Schulstreichen ) Das KRIZ hat nicht geschadet, aber auch kaum etwas genützt es war (zu oft nur) eine Episode Ein Wendepunkt war das KRIZ nur dann, wenn die Anschlusshilfen gut gewählt und mit viel Geduld gestaltet wurden (max. 3 von 24) Die bestimmende Größe war, ist und bleibt die Herkunftsfamilie (der Rucksack der Jugendlichen, den JH bestenfalls neu packen, aber niemals abnehmen kann) Es fehlen für die Jugendlichen relevante Dritte im Lebensalltag
(4) Arrangements für Aneignung und Übung geduldig und konsequent zur Verfügung stellen Gruppen-Pädagogik (modern ppc = positive peer culture) Arbeits-Erziehung ( Taten statt Worte = unmittelbare Produktivität von Beziehungen) Erlebnis-Pädagogik (authentische Erfahrung basaler sozialer Bedingungen) Konfrontative-Pädagogik = Verantwortung für Normenverletzung gegenüber Gleichaltrigen
Resümee Fazit: Die richtige Hilfe zur richtige Zeit ist ein Glücksfall menschlicher Begegnung, der nicht technisch hergestellt werden kann... und doch ist organisierte Erziehung gerade schwieriger Kinder darauf angewiesen, dieses wenigstens ernsthaft und immer wieder zu versuchen!
Ausblicke (1): Verstehen lernen, wie Kinder sich und ihre Welt sehen Verstehen, wie unsere Welt mit der Welt der Kinder konkurriert, sie reproduziert oder im günstigen Falle unterstützt und wiedergutmacht Unsere Welten so einrichten, dass die Glücksfälle menschlicher Begegnung (s.o.) gefördert und nicht verhindert werden
Ausblicke (2): Systematisch die Erfahrungen mit diesen Glücksfällen aber auch mit Pleiten, Pech und Pannen dokumentierten, auswerten und Schlüsse daraus ziehen Laut und deutlich dafür eintreten, dass jeder (junge) Mensch ein Recht auf mindestens einen Glücksfall menschlicher Begegnung hat, und wenn es dafür noch so viele Anläufe braucht.
(5) Zum Schluss: Was braucht es, damit die Förderung besonders auffälliger junger Menschen wirksam gelingen kann? 1. der Auswahl konkreter Förderung liegt ein komplexes Verstehen der Selbstbilder, Welterfahrungen und Überlebensstrategien des jungen Menschen zugrunde? 2. das Angebot unterstützt aktiv und konsequent die Selbstbildung des jungen Menschen zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit? 3. der Entscheidung für eine konkrete Förderung liegt eine kenntnisreiche und sorgfältige Abwägung von Alternativen und Wirkungen zugrunde? 4. es besteht Grund zu der Annahme, das der junge Mensch später, durch die förderliche Erziehung mündiger geworden, auch deren Zumutungen nachträglich zustimmen könnte?
Prof. Dr. Christian Schrapper Universität Koblenz-Landau Universitätsstr. 1 56070 Koblenz Mail: schrappe@uni-koblenz.de Vielen Dank