Jürgen Dorbritz, Martin Bujard Wer bekommt (noch) Kinder? Fertilität in Deutschland Wiederanstieg oder Stagnation der Geburtenrate? Jahrestagung der DGD, Berlin 2012
Inhalt Fragestellungen, Vorgehensweise, Datenbasis Allgemeine Zusammenhänge: Fertilität und soziale Gruppierungen, Fertilität und räumliche Differenzierungen Die Kombination von Merkmalen und Zeitverläufe der Fertilitätsmuster Berufe und Fertilität: Struktur- versus Kultureffekte* Zusammenfassung, Diskussion und Schlussfolgerungen * Die Analyse dieses Abschnitts basiert zum Teil auf Analysen, die im Rahmen eines von der Fritz Thyssen Stiftung geförderten Forschungsprojekts gemacht wurden, und solchen, die im Rahmen eines von der Jacobs Foundation geförderten Forschungsprojekts gemacht wurden.
Fragestellungen, Vorgehensweise, Datenbasis Wer bekommt noch Kinder? Wer bekommt keine Kinder? Wie viele Kinder bekommen diejenigen, die Kinder bekommen? Suche nach der Buntheit in den Fertilitätsmustern (differentielle Fertilitätsanalyse). Analyse zeitlicher Verläufe, welche sozialen Gruppen bekommen heute mehr/weniger Kinder? Lassen sich Effekte des beruflichen Strukturwandels und des kulturellen Wandel auf die Fertilität analytisch trennen? Stimmen unsere gängigen Vorstellungen über den Wandel der Fertilitätsmuster noch? Was lernen wir daraus für die zukünftigen Fertilitätstrends? Wo zeichnen sich Ansatzpunkte für die Familienpolitik ab? Datenquelle: Statistisches Bundesamt, Mikrozensus 1973-2008
Allgemeine Zusammenhänge: Fertilität soziale Gruppierungen Bildungszusammenhang Je niedriger die berufliche Bildung, desto höher die durchschnittliche Kinderzahl Kinderlosigkeit Westdeutsches Phänomen, sozialer Träger: Akademikerinnen Frauen, Geburtsjahrgänge 1964 bis 1968, West- und Ostdeutschland, Kinderzahl nach Schulabschluss (% / durchschnittliche Kinderzahl) Höchster allgemeiner Schulabschluss Ohne allgemeinen Schulabschluss Fachhochschul- / Hochschulreife Fachhochschul- / Hochschulreife Kinderzahl in % Durchschnittliche Kinderzahl 0 1 2 3+ Früheres Bundesgebiet 18,2 12,5 23,9 45,5 2,06 30,9 21,7 34,9 12,5 1,31 Neue Bundesländer 14,0 33,7 38,4 14,0 1,55 Datenquelle: Mikrozensus 2008
Allgemeine Zusammenhänge: Fertilität - soziale Gruppierungen Zusammenhang zur Lebensform Je stärker eine Partnerschaft institutionalisiert ist, desto höher die durchschnittliche Kinderzahl Ehe als Basis generativen Verhaltens Niedrigste Kinderzahl bei ledigen Frauen, die ohne Partner im Haushalt leben Frauen, Geburtsjahrgänge 1964 bis 1968, West- und Ostdeutschland, Kinderzahl nach Lebensform (% / durchschnittliche Kinderzahl) Lebensform Kinderzahl in % 0 1 2 3+ Früheres Bundesgebiet Durchschnittliche Kinderzahl Verheiratete 11,3 24,1 45,0 19,7 1,78 Allein im Haushalt 45,4 26,1 19,7 8,8 0,95 Datenquelle: Mikrozensus 2008
Allgemeine Zusammenhänge: Fertilität regionale Differenzierungen West-Ost-Unterschiede Dominanz der Zwei-Kind-Familie in beiden Regionen, hohe Kinderlosigkeit im Westen, hohe Anteile von Frauen mit nur einem Kind im Osten, unterschiedliche Fertilitätsmuster führen zu ähnlichen endgültigen Kinderzahlen Frauen in West- und Ostdeutschland, Geburtsjahrgänge 1964 bis 1968, Kinderzahl nach Parität (% / durchschnittliche Kinderzahl) Geburtsjahrgänge (Alter) Kinderzahl in % 0 1 2 3 4+ Früheres Bundesgebiet (ohne Berlin) Durchschnittliche Kinderzahl 1964-1968 (40-44) 24,0 22,5 36,2 12,6 4,6 1,51 Neue Länder (ohne Berlin) 1964-1968 (40-44) 11,8 36,0 40,0 9,2 3,0 1,56 Datenquelle: Mikrozensus 2008 Weitere regionale Differenzierungen - Niedrige Fertilität in Universitätsstädten - Neben der West-Ost-Differenzierung besteht eine Nord-Süd-Differenzierung Tendenziell höhere Fertilität im Norden - Starke Geburtenrückgänge in den ländlichen Räumen - Keinen Zusammenhang zwischen demografischer Alterung und Fertilitätsniveau
Die Kombination von Merkmalen Vollzeiterwerbstätigkeit der Frau ist mit einem niedrigen Geburtenniveau verknüpft Gilt nur für den Westen, Unterschiedliche Familienmentalitäten in West und Ost Frauen nach Paritätsverteilung und paarspezifischer Erwerbssituation in West- und Ostdeutschland, Geburtsjahrgänge 1965 1969 (%) Prozent West Ost Kinderzahl Datenquelle: Statistisches Bundesamt, Mikrozensus 2008
Die Kombination von Merkmalen Die Kombination sozialer Merkmale verstärkt Differenzierungen Beispiel schulische Bildung und Lebensform Frauen, Geburtsjahrgänge 1965 bis 1969, Kinderzahl nach Lebensform, Bildung und Parität (% / durchschnittliche Kinderzahl) Lebensform Kinderzahl in % 0 1 2 3+ Niedriger Bildungsstand 1) Durchschnittliche Kinderzahl Verheiratet 7,4 16,5 35,7 40,4 2,17 Nichteheliche LG 25,8 29,0 22,6 22,6 1,46 Alleinlebend / Alleinerziehend 33,9 22,3 22,3 21,5 1,36 Hoher Bildungsstand 2) Verheiratet 12,5 25,5 45,9 16,1 1,69 Nichteheliche LG 46,9 31,3 21,9. 0,75 Alleinlebend / Alleinerziehend 56,8 23,3 16,0 3,9 0,68 Datenquelle: Mikrozensus 2008 1) Hochqualifizierte: Akademischer Abschluss, Meister/Techniker 2) Niedrigqualifizierte: Haupt- und Realabschluss, Polytechnische Oberschule, ohne Abschluss
Zeitverläufe der Fertilitätsmuster West - Ost Geburtsjahrgänge Kinderzahl Westdeutschland 0 Kinder 1 Kind 2 Kinder 3 Kinder 4 oder mehr 1933-1938 (70-75) 1939-1943 (65-69) 1944-1948 (60-64) 1949-1953 (55-59) 1954-1958 (50-54) 1959-1963 (45-49) 1964-1968 (40-44) DKZ 2,04 1,90 1,76 1,68 1,65 1,61 1,51 Ostdeutschland 1933-1938 (70-75) 1939-1943 (65-69) 1944-1948 (60-64) 1949-1953 (55-59) 1954-1958 (50-54) 1959-1963 (45-49) 1964-1968 (40-44) 2,01 1,89 1,81 1,78 1,79 1,74 1,56 Prozent
Zeitverläufe der Fertilitätsmuster Bildung Geburtsjahrgänge Kinderzahl Westdeutschland: Fach- oder Hochschule, Promotion 0 Kinder 1 Kind 2 Kinder 3 oder mehr 1933-1938 (70-75) 1939-1943 (65-69) 1944-1948 (60-64) 1949-1953 (55-59) 1954-1958 (50-54) 1959-1963 (45-49) 1964-1968 (40-44) Westdeutschland: Haupt- und Volksschulabschluss 1933-1938 (70-75) 1939-1943 (65-69) 1944-1948 (60-64) 1949-1953 (55-59) 1954-1958 (50-54) 1959-1963 (45-49) 1964-1968 (40-44) Prozent
Zeitverläufe der Fertilitätsmuster Familienstand Geburtsjahrgänge Kinderzahl 0 Kinder Westdeutschland: Verheiratete 1 Kind 2 Kinder 3 oder mehr 1933-1938 (70-75) 1939-1943 (65-69) 1944-1948 (60-64) 1949-1953 (55-59) 1954-1958 (50-54) 1959-1963 (45-49) 1964-1968 (40-44) Westdeutschland: Ledige 1933-1938 (70-75) 1939-1943 (65-69) 1944-1948 (60-64) 1949-1953 (55-59) 1954-1958 (50-54) 1959-1963 (45-49) 1964-1968 (40-44) Prozent
Zeitverläufe der Fertilitätsmuster Bildung und Familienstand Geburtsjahrgänge 1933-1938 (70-75) Kinderzahl 0 Kinder Westdeutschland: Verheiratet, niedrige Bildung 1 Kind 2 Kinder 3 oder mehr 1939-1943 (65-69) 1944-1948 (60-64) 1949-1953 (55-59) 1954-1958 (50-54) 1959-1963 (45-49) 1964-1968 (40-44) Westdeutschland: Verheiratet, hohe Bildung 1933-1938 (70-75) 1939-1943 (65-69) 1944-1948 (60-64) 1949-1953 (55-59) 1954-1958 (50-54) 1959-1963 (45-49) 1964-1968 (40-44) Prozent
Zeitverläufe der Fertilitätsmuster Migrationserfahrung Geburtsjahrgänge Kinderzahl 0 Kinder Deutschland, mit Migrationserfahrung 1 Kind 2 Kinder 3 Kinder 4 oder mehr 1933-1943 (65-75) 1944-1953 (55-64) 1954-1963 (45-54) 1964-1973 (35-44) Deutschland, ohne Migrationserfahrung 1933-1943 (65-75) 1944-1953 (55-64) 1954-1963 (45-54) 1964-1973 (35-44) Prozent
Zeitverläufe der Fertilitätsmuster Nationalität Geburtsjahrgänge Kinderzahl Deutschland, Deutsche 0 Kinder 1 Kind 2 Kinder 3 Kinder 4 oder mehr 1960-1964 (46-50) 1965-1969 (41-45) 1970-1974 (36-40) Deutschland, Türken 1960-1964 (46-50) 1965-1969 (41-45) 1970-1974 (36-40) Prozent
Wer hat noch Kinder?
Veränderung der Berufsstrukturen Anteil der Berufe von Frauen nach Blossfeld-Skala 1973-2004 in Westdeutschland
Veränderungen der Berufsstrukturen relational Anteil der Berufe von Frauen im Verhältnis zu 1973 (=100) in Westdeutschland
Geburtenzahl in Berufsgruppen Kinder im Haushalt innerhalb einer Berufsgruppe der Frauen in Westdeutschland Quelle: Mikrozensen 1973-2004, eigene Berechnung und Darstellung. Anmerkungen: Die Kinderzahl basiert auf die 11 Frauenjahrgänge mit der höchsten Kinderzahl im Haushalt, bei denen die Familienplanung weitestgehend abgeschlossen und die Anzahl ausgezogener Kinder noch gering ist (z. B. Frauen im Alter von 33-43 Jahren in 1973, vgl. W. Rösler).
Geburtenzahl innerhalb von Berufsgruppen relational Kinder im Haushalt innerhalb einer Berufsgruppe der Frauen (Blossfeld-Skala) im Verhältnis zu 1973 (=100) in Westdeutschland
Vergleich von Struktur- und Fertilitätseffekten auf die Kinderzahl 1973-2004
Struktur- und Fertilitätseffekte nach wachsenden und schrumpfenden Berufsgruppen
Recuperation bei Akademikerinnen?
Diskussion, Hauptaussagen, Thesen Große Unterschiede in den Fertilitätsmustern zwischen sozialen Gruppierungen: Beispiele: Ledige Verheiratete; Hochqualifizierte Niedrigqualifizierte Kombination von Merkmalen: Verstärkung der Effekte oder Differenzierung West- Ost-Unterschiede in den Fertilitätsmuster sind ebenfalls ausgeprägt: Fertilitätsmuster der westdeutschen Frauen sind ausdifferenzierter, relativ starke Nivellierung im Osten, zwei unterschiedliche Familienphilosophien in den Köpfen Zeitlicher Verlauf der Fertilitätsmuster im Westen: Die Differenzierungen zwischen sozialen Gruppen bestehen bereits seit den 1930er Kohorten: - Hohe Kinderlosigkeit und geringere Anteile der Parität 3+ bei Hochqualifizierten oder Ledigen - Niedrige Kinderlosigkeit und hohe Anteile der Parität 3+ bei Verheirateten und Niedrigqualifizierten Fertilitätsmuster sind innerhalb der Berufsgruppen relativ konstant im Zeitverlauf, v.a. bei hochqualifizierten Dienstleistungsberufen. Die Gruppengrößen haben sich in den letzten 4 Jahrzehnten jedoch erheblich verschoben. Der Rückgang der durchschnittlichen Kohortenfertilität basiert auf zwei Prozessen: Wandel der Fertilitätsmuster: gestiegene Kinderlosigkeit, Zunahme der Einkindfamilien, Rückgang der Paritäten 3 und 4 1.Steigenden Anteile Bevölkerungsgruppe, die Träger des Fertilitätsmusters Kinderlosigkeit und kleine Familie ist (Hochqualifizierte, erwerbstätige Frauen, Ledige, Singles, bilokale Paare) These: Hat den größeren Einfluss auf den Fertilitätswandel
Diskussion, Hauptaussagen, Thesen These 1: Fertilitätsunterschiede zwischen Deutschen und Ausländern: Allgemeine Aussage bisher: generatives Verhalten nähert sich an. Sollte überdacht werden. Beide Gruppen unterliegen den gleichen Fertilitätstrends: Trends: Kinderlosigkeit nimmt in beiden Gruppen zu, schneller bei den Personen ohne Migrationserfahrung Stärkerer Rückgang der Anteile der Parität 4 bei Frauen mit Migrationserfahrung Kein Rückgang bei der Parität 3 bei Frauen mit Migrationserfahrung Schlussfolgerung: Beide Gruppen unterliegen den gleichen Grundtrends, sie verlaufen bei den Frauen ohne Migrationserfahrung schneller, daher mehr Differenzierung als Annäherung (gilt auch für Türken und Deutsche) These 2: Wie griffig ist die Individualisierungsthese und die SDT Theorie zur Erklärung der Unterschiede in den Fertilitätsmustern zwischen Hoch- und Niedrigqualifizierten? Hochqualifizierte sind die sozialen Träger der Individualisierungsthese. Sie trifft auch schon auf die Hochqualifizierten zu, die um 1960 ihre Kinder geboren haben, in dieser Gruppe gab es hohe Kinderlosigkeit und niedrige Geburtenraten bereits damals. ==> Strukturwandel als zentraler Erklärungsfaktor; Zusammenspiel Struktur- und kultureller Wandel
Diskussion, Hauptaussagen, Thesen Trend der Kohortenfertilität: Bis zum Geburtsjahrgang 1970 kein Wiederanstieg der Kohortenfertilität erkennbar, jüngere Jahrgänge hier nicht untersucht Was spricht gegen einen Wiederanstieg? Verfestigung des Fertilitätsmuster hohe Kinderlosigkeit kleine Familie. Dieses Muster gab es bei den Hochqualifizierten oder den über das ganze Leben der ledigen Bleibenden schon immer. Tradierte Muster sind nicht einfach auflösbar. Zunahme der Anteile dieser Gruppen in der Bevölkerung. Was spricht für einen Wiederanstieg? Wiederanstieg ist nur über einen tiefgreifenden politischen und gesellschaftlichen Wandel erreichbar. Getrennte West-Ost-Betrachtung: West: Rückgang der Kinderlosigkeit, mehr Drei-Kind-Familien Zielgruppe Hochqualifizierte neu, hilfreich da wachsende Gruppengröße und niedrige Fertilität Ost: Fertilitätsanstieg in den Paritätsmustern eher angelegt, da Bereitschaft zur Elternschaft vorhanden, Erhöhung des Anteils der Paritäten 2 und 3 in allen sozialen nötig, der Weg führt über eine höhere soziale Verlässlichkeit (sichere Arbeitsmarktperspektiven) Familienpolitik : Zeit, Geld und Infrastruktur Bedarf unterschiedlicher Zielgruppen Familienpolitik ist auf dem richtigen Weg, aber erst am Anfang dieses Weges
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! Für weitere Informationen wenden Sie sich bitte an juergen.dorbritz@destatis.de Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung Friedrich-Ebert-Allee 4 65185 Wiesbaden Tel.: 0611-752235 Fax: 0611-753960 www.bib-demografie.de