Risikoscreening - Aus der Praxis: Vorstellung der Skala elterlicher Feinfühligkeit



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Transkript:

Risikoscreening - Aus der Praxis: Vorstellung der Skala elterlicher Feinfühligkeit Anne Katrin Künster Fachtag Risikoscreening 10.04.2013 Stuttgart

Womit screenen? Skala elterlicher Feinfühligkeit

Bedeutung von Familienbeziehungen für die Entwicklung - besonders starken Einfluss auf die Entwicklungsphase des Kindesalters haben die Bezugspersonen des Kindes, die sein Erleben und Verhalten im täglichen Umgang prägen - Kinder sind von der Stimulation und Versorgung durch ihre primären Bezugspersonen abhängig (Beardslee, Bemporad, Keller & Klerman, 1983) - gelingende oder auch misslingende Passung zwischen dem Verhalten eines Erwachsenen und seinem Kind sind ausschlaggebend für eine normale oder abweichende Entwicklung sozialer und emotionaler Kompetenzen des Kindes (Sameroff, 1995)

Besonderheiten in der Entwicklungspsychologie der frühen Kindheit Entwicklung vollzieht sich in Beziehungen Bindungspersonen können einen Entwicklungsverlauf entscheidend fördern, aber auch behindern frühe Verhaltensprobleme und störungen zeigen sich (zunächst) in der Beziehungsdynamik - oft nur in Interaktion mit einem Elternteil - Kind als objektivere Datenquelle

Aufwachsen von Kindern weitaus größter Teil der Kinder entwickelt sich positiv bzw. unauffällig, aber Verunsicherung bei Eltern (Erziehungsgutachten des wiss. Beirats Familienfragen 2005) Shell Studie: 50% der befragten Eltern wissen nicht, woran sie sich in Erziehung halten sollen (Deutsche Shell, 2000) Zunahme von Verhaltens- / psychischen Störungen auf ca. 20% (KIGGS 2007) Kinder u. Jugendliche: 18% - 27% (Petermann et al., 2000) Kindergartenkinder: ca. 18% (Hahlweg, & Miller, 2001) unter Dreijährige: ca. 20% (Remschmidt,1998)

Bedeutung von Familienbeziehungen für die Entwicklung Bella Studie (Ravens - Sieberer 2006) und RKI Survey KIGGS (2006, 2007) bestätigen englische Befunde: doppeltes Risiko bei Alleinerziehenden aktuelle Familienkonflikte Konflikte in der Familie der Eltern Unzufriedenheit in der Partnerschaft Risiko für psychische Erkrankung steigt mit mehreren Belastungen: bei 3 Risiken: 30,7% bei 4 Risiken: 47,7% aller betroffenen Kinder

Elterliche Feinfühligkeit Optimal feinfühlige Eltern... - sind aufmerksam gegenüber den Signalen des Babys - interpretieren seine Signale richtig - reagieren auf diese prompt und angemessen (Ainsworth, Blehar, Waters & Wall, 1978) Feinfühligkeit kann nur gelingen, wenn man aus der Sicht des Kindes handelt (Grossmann, 2004, S.30) Kind lernt durch feinfühlige Unterstützung die Bedeutung seiner [eigenen] Gefühle in bestimmten Situation kennen, und was man tun kann, um die Umstände zu verbessern (Grossmann, 2004, S.31) ein Kind lernt über die externe Regulation seiner Gefühle durch die Eltern mit der Zeit sich zunehmend selbst, also intern, zu regulieren

Elterliche Feinfühligkeit in Abhängigkeit von der kindlichen Entwicklung (nach Crittenden) Säuglingsalter Jedes Verhaltensmuster, das dem Säugling gefällt, sein Wohlbefinden und seine Aufmerksamkeit erhöht, und Belastetheit und Desinteresse verringert. Kleinkindalter Jedes Verhaltensmuster, das dem Kleinkind ermöglicht, aktiv zu erkunden, und zwar interessiert und spontan und ohne Hemmung oder übertrieben negativen Affekt.

Skala elterlicher Feinfühligkeit (SeF)

Skala elterlicher Feinfühligkeit (SeF) Die SeF beschreibt das Verhalten der Hauptbezugsperson in Interaktion mit ihrem Kind auf vier verschiedenen Dimensionen auf einer siebenstufigen Skala von sehr feinfühlig bis überhaupt nicht feinfühlig : 1. Fähigkeit, Signale und Bedürfnisse des Kindes wahrzunehmen, richtig zu interpretieren und prompt und angemessen darauf zu reagieren 2. Abstimmung des emotionalen Ausdrucksverhaltens auf das Verhalten des Kindes 3. ärgerlich/feindseliges oder aggressives Verhalten 4. emotional flaches, verlangsamtes Verhalten oder ausdrucksloses Gesicht

Skala zur Einschätzung der elterlichen Feinfühligkeit: Anwendung Kodierhinweise: Bei der Einschätzung handelt es sich um eine globale Beurteilung der elterlichen Verhaltensweisen über den gesamten Beobachtungszeitraum hinweg d.h. es geht nicht um die Registrierung von einmal beobachteten Verhalten, sondern um das wiederholte Auftreten von feinfühligen bzw. weniger oder überhaupt nicht feinfühligem Verhalten. Ausnahme stellt jedoch extrem grobes, aggressives, misshandelndes (Schlagen, Schütteln des Kindes) und gefährdendes Verhalten (Weggehen vom Wickeltisch) dar. Hier ist schon eine einmalige Handlung ausreichend, um aggressiv feindseliges Verhalten anzukreuzen bzw. Überhaupt nicht feinfühlig zu kodieren.

Skala zur Einschätzung der elterlichen Feinfühligkeit: Interpretation Interpretationshinweise: Grün bis hellgrün: Aktuell kein Interventionsbedarf hinsichtlich der Eltern-Kind-Interaktion Gelb: Weitere Abklärung notwendig d.h. weiterführendes Elterngespräch, Elternberatung bei Bedarf Orange: Interventionsbedarf notwendig, d.h. weitere diagnostische Abklärung und weitere Hilfen für die Familie notwendig Rot: Rascher Interventionsbedarf angezeigt => zügige Einleitung von Hilfen notwendig

Skala zur Einschätzung der elterlichen Feinfühligkeit: Einschränkung der Anwendung Instrument zur Beobachtung der Eltern-Kind-Interaktion, das einem Screening von kritischen Eltern-Kind-Beziehungen dient. Von einer Diagnose abzugrenzen mit der hier präsentierten Skala kann daher nicht beurteilt werden, ob eine Kindeswohlgefährdung vorliegt oder nicht. Hinweis auf die Qualität der Eltern-Kind-Beziehung, auf die Einleitung weiterer diagnostischer Schritte und/oder weiteren Interventionsbedarf.

Einsatz der Skala elterlicher Feinfühligkeit - systematischer Einsatz der Skala elterlicher Feinfühligkeit z.b. im Müchner Modell der Früherkennung und der Frühen Hilfen bei psychosozial belasteten Familien live- Beobachtung bei möglichst jedem Hausbesuch - zahlreiche interdisziplinäre Schulungen im Kontext Frühe Hilfen - zahlreiche Schulungen für Hebammen, Landesärztekammer BW, Kindertagesstätten - erste Untersuchung der Testgütekriterien positiv

Förderung elterlicher Feinfühligkeit Ziegenhain, Gebauer, Ziesel, Künster & Fegert (2010) Lernprogramm Baby-Lesen Hippokrates Selbstlerner-Handbuch inklusive Filmen und Fotos, das Praktikern sowohl die Beurteilung der elterlichen Feinfühligkeit als auch die frühe Beratung von Familien ermöglicht wurde in einem engen wechselseitigen Austausch mit Hebammen/ Entbindungspflegern, Ärzt/innen, Medizinal-Fachangestellten entwickelt universal-, selektiv-, indiziert-präventiv

anne-katrin.kuenster@uniklinik-ulm.de Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!