Armutsbedingte Belastungen der Familie als Gesundheitsrisiko für Kinder Prof. Dr. Sabine Walper Vortrag auf der Tagung "Damit Armut nicht krank macht über starke Familien zu gesunden Kindern, 18.10.2018, Berlin Deutsches Jugendinstitut e. V. Nockherstraße 2 D-81541 München Postfach 90 03 52 D-81503 München Telefon +49 89 62306-0 Fax +49 89 62306-162 www.dji.de
(1) Armut hat viele Gesichter: Aber: Absolute Armut: existenzielle Gefährdung von Grundbedürfnissen in Deutschland selten Relative Armut Sozialhilfe / Hartz IV: bekämpfte versus verdeckte Armut Betrifft 14,7 % aller Kinder 2015, insgesamt 1,93 Mio. Kinder (knapp 6 Mio. Personen in Deutschland) 5. Armuts & Reichtumsbericht 2017; Bertelsmann Stiftung, 2016 850.000 Kinder (DKSB, BT Drucksache 19/2804) Einkommensarmut weniger als 50 % des durchschnittlichen bedarfsgewichteten pro- Kopf-Einkommens Armutsrisikoquote Strenge Armut: < 40 % Minderjähriger 2016: 15,4 % Armutsrisiko: < 60 % (rund 2,5 Mio.) Statistisches Bundesamt, 2017 Vortragende: Prof. Dr. Sabine Walper Datum: 18.10.2018 2
Vortragende: Prof. Dr. Sabine Walper Datum: 18.10.2018 3
(2) Das Risiko relativer Armut ist weder insgesamt noch speziell für Familien mit minderjährigen Kindern gesunken. Vortragende: Prof. Dr. Sabine Walper Datum: 18.10.2018 4
(3) Nach wie vor ist das Armutsrisiko nicht nur an fehlende Qualifikationen und Erwerbslosigkeit geknüpft, sondern auch an den Migrationsstatus und familienstrukturelle Merkmale. 4. World Vision Kinderstudie: Kinder mit konkretem Armutserleben nach Migrationshintergrund: ohne Migrationshintergrund: 16 % mit Migrationshintergrund: Insgesamt (Durschnitt): 2419 % % Vortragende: Prof. Dr. Sabine Walper Datum: 18.10.2018 5
Armutsgefährdungsquote gemessen am Bundesmedian nach Haushaltstyp in % im Zeitvergleich 39,3 39 39,7 40,1 37 38,6 43,8 43,6 43 42,8 42,2 41,9 41,9 23,2 26,3 12 23,1 23,7 24,1 25,1 25,6 26,4 25,6 26,2 26,3 26,5 23,8 29,1 21,7 27,4 24,3 23,8 24,5 24,1 23,5 24,3 24,6 25,2 23,2 22,4 11,6 11,5 11,3 11,1 10,5 10,6 10,7 10,9 10,4 10,8 10,6 10,8 11,6 11,4 10,7 10,4 10,2 9,6 9,8 9,5 9,5 9,6 9,8 9,2 9,4 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 Einpersonenhaushalt Zwei Erwachsene mit einem Kind Alleinerziehende Zwei Erwachsene mit zwei Kindern Zwei Erwachsene mit drei und mehr Kinder Quelle: Mikrozensus, eigene Darstellung Vortragende: Prof. Dr. Sabine Walper Datum: 18.10.2018 6
MATERIELLE ENTBEHRUNG 2016: Anteil der Bevölkerung (in %), der sich aus finanziellen Gründen Folgendes nicht leisten kann: Alleinerziehende Paar mit Kind(ern) Gesamt Unerwartete Ausgaben ab 985 eigenen finanziellen Mitteln bezahlen aus 62,7 28,4 30,4 Eine Woche Urlaub pro woanders als zuhause Jahr 39,1 16,2 18,6 Jeden 2. Tag Mahlzeit eine vollwertige 14,2 3,9 6,8 Angemessenes Heizen Wohnung der 9,2 3,1 4,0 Quelle: European Union Statistics on Income and Living Conditions, EU SILC, 2015; Verfügbar unter: https://www.destatis.de/de/presseservice/presse/pressekonferenzen/2018/alleinerziehende/pressebroschuere_alleinerziehende.pdf? blob=publicationfile Vortragende: Prof. Dr. Sabine Walper Datum: 18.10.2018 7
(4) Armut belastet die Entwicklung von Kindern und Jugendliche auf vielfältige Weise: Nachteile für die Bildungsverläufe eingeschränkte soziale Teilhabe, sei es in Vereinen oder in Beziehungen zu Gleichaltrigen Bildungsaspiration und 100 Armutserleben: 90 80 Ich möchte das Gymnasium 70 besuchen. bestätigen 60 50 51% der Kinder ohne 40 Armutserleben 30 20 29% der Kinder mit 10 Armutserleben 0 Vereinsmitgliedschaft von Kindern (6 bis 11 Jahre) je nach sozialer Herkunft Unterschicht Mittelschicht Oberschicht (4. World Vision Kinderstudie) Quelle: Leven/Schneekloth 2010, Datenbasis: World Vision Kinderstudie 2010, Angaben in Prozent 42 Vortragende: Prof. Dr. Sabine Walper Datum: 18.10.2018 8 64 78 88 95
(4) Armut belastet die Entwicklung von Kindern und Jugendliche auf vielfältige Weise: Nachteile für die Bildungsverläufe Erschwerte soziale Teilhabe, sei es in Vereinen oder in Beziehungen zu Gleichaltrigen vermehrte Gesundheitsprobleme der Kinder und Jugendlichen. Geburtsrisiken in Abhängigkeit vom Einkommen geringes Geburtsgewicht Frühgeburt 10,00 9,00 8,00 7,00 6,00 5,00 4,00 3,00 2,00 1,00 0,00 untere 20% mittlere 30% obere 20% Vortragende: Prof. Dr. Sabine Walper Datum: 18.10.2018 (Madden, 2014, eigene Abb.) 9
Gross & Jehles, 2015 Vortragende: Prof. Dr. Sabine Walper Datum: 18.10.2018 10
Körperliche Beschwerden Jugendlicher in Abhängigkeit von finanzieller Knappheit 1,8 1,75 1,7 1,65 1,6 1,55 1,5 1,45 1,4 nicht depriviert nur zu t2 depriviert nur zu t1 depriviert t1 + t2 depriviert Meßzeitpunkt 1 Meßzeitpunkt 2 (Walper, 2005) Vortragende: Prof. Dr. Sabine Walper Datum: 18.10.2018 11
Depressivität Jugendlicher in Abhängigkeit von finanzieller Knappheit T1 T2 2 1,9 1,8 1,7 1,6 1,5 1,4 1,3 1,2 1,1 1 nicht depriviert nur T2 nur T1 T1+T2 depriviert depriviert depriviert (Walper, 2005) Vortragende: Prof. Dr. Sabine Walper Datum: 18.10.2018 12
(5) Armut kommt selten allein. Vielfach kumulieren in Armutslagen Risikofaktoren, die Eltern und Kinder belasten. Befunde der Prävalenz- und Versorgungsstudie (KiD 0-3) des NZFH Distale Risikofaktoren nach Armut *** *** *** in % 50 40 30 20 10 0 15,3 46,8 41,8 7,0 8,4 ungeplante Schwangerschaft niedrige Bildung Erfahrungen von harter Bestrafung in eigener Kindheit 21,7 in % 50 40 30 20 10 0 keine Armut Armut / SGB II-Bezug *** *** * 32,3 23,7 3,2 3,2 1,2 Alleinerziehende Junge Mutter (<22 bei Geburt) Mehr als zwei kleine Kinder in der Hauptbezugsperson Familie (0-3 Jahre) 2,3 Vortragende: Prof. Dr. Sabine Walper Datum: 18.10.2018 13
Befunde der Prävalenz- und Versorgungsstudie (KiD 0-3) des NZFH Proximale Risikofaktoren nach Armut in % 50 40 30 20 10 0 *** *** *** 11,2 19,4 15,6 Explosivität (Gefühl innerer Wut) Kind hat Schreiprobleme Erhöhte elterliche Stressbelastung (EBI) 22,2 3,2 6,1 in % 50 0 Gewalterfahrung in Beziehungen (Lebenszeit) keine Armut Armut/SGBII-Bezug 40 *** *** *** 30 20 10 5,5 23,0 6,3 11,4 Häufige lautstarke Auseinandersetzungen Vortragende: Prof. Dr. Sabine Walper Datum: 18.10.2018 14 3,2 8,5 Hohes Angst- / Depressionsrisiko
Ergebnisse der Hauptstudie (1) Befunde der Prävalenz- und Versorgungsstudie (KiD 0-3) des NZFH Verteilung von Risikofaktoren* nach Armut 100 80 in % 60 0 Risikofaktoren (n=2546) 53,8 1 Risikofaktor (n=1367) 2 Risikofaktoren (n=730) 40 3 Risikofaktoren (n=393) 25,9 28,2 4 oder mehr Risikofaktoren (n=431) 20 11,7 13,2 21,0 21,0 16,6 5,2 3,5 0 keine Armut Armut/SGBII-Bezug * Auf der Basis der 12 vorher gezeigten Risikofaktoren [Datenquelle: KiD 0-3 Hauptstudie] Vortragende: Prof. Dr. Sabine Walper Datum: 18.10.2018 15
Zur Wirkung von Armut: Kumulation von Risikofaktoren Armut Gewalt/ Vernachlässigung Vortragende: Prof. Dr. Sabine Walper Datum: 18.10.2018 16
Zur Wirkung von Armut: Kumulation von Risikofaktoren Armut Gewalt/ Vernachlässigung Explosivität (innere Wut) Vortragende: Prof. Dr. Sabine Walper Datum: 18.10.2018 17
(5) Für Kinder und Jugendliche zählen nicht nur die finanzielle Knappheit und der Verzicht auf kostenpflichtige Unternehmungen und Anschaffungen. Sie leiden auch und vor allem unter Beeinträchtigungen des Familienklimas, die vielfach in Armutslagen entstehen. Vortragende: Prof. Dr. Sabine Walper Datum: 18.10.2018 18
Familiäre und kontextuelle Risikofaktoren für Armut Armut in der Familie Einschränkungen im Konsum Fehlernährung, beeinträchtigtes Gesundheitsverhalten Entwicklungsbelastungen der Kinder im gesundheitlichen Bereich Vortragende: Prof. Dr. Sabine Walper Datum: 18.10.2018 19
Familiäre und kontextuelle Risikofaktoren für Armut Armut in der Familie Belastungen der Beziehungen und Interaktionen Einschränkungen im Konsum Mangelnder Zugang zu Statussymbolen Geringer Anregungsgehalt familialer Aktivitäten Fehlernährung, beeinträchtigtes Gesundheitsverhalten Geringere außerfam. Partizipationsmöglichkeiten Entwicklungsbelastungen der Kinder im gesundheitlichen, kognitiven, emotionalen und sozialen Bereich Vortragende: Prof. Dr. Sabine Walper Datum: 18.10.2018 20
Bestens mit den Eltern auskommen nach sozialer Schichtzugehörigkeit 50 45 40 35 30 25 20 15 10 Quelle: Shell Jugendstudie 2006, S. 60 5 0 Unterschicht Mittelschicht Oberschicht Vortragende: Prof. Dr. Sabine Walper Datum: 18.10.2018 21
Familiäre und kontextuelle Risikofaktoren für Armut Familiale, individuelle und kontextuelle Ressourcen Belastungen der Beziehungen und Interaktionen Geringer Anregungsgehalt familialer Aktivitäten Armut in der Familie Einschränkungen im Konsum Fehlernährung, beeinträchtigtes Gesundheitsverhalten Mangelnder Zugang zu Statussymbolen Geringere außerfam. Partizipationsmöglichkeiten Entwicklungsbelastungen der Kinder im kognitiven, gesundheitlichen, emotionalen und sozialen Bereich Vortragende: Prof. Dr. Sabine Walper Datum: 18.10.2018 22
Familiäre und kontextuelle Risikofaktoren für Armut Familiale, individuelle und kontextuelle Ressourcen Finanz. Zuwendungen Unterstützungsangebote Belastungen der Beziehungen und Interaktionen Geringer Anregungsgehalt familialer Aktivitäten Außerfam. Angebote Armut in der Familie für Eltern Einschränkungen im Konsum Fehlernährung, beeinträchtigtes Gesundheitsverhalten Zugang zu guter Arbeit für Kinder Mangelnder Zugang zu Statussymbolen Geringere außerfam. Partizipationsmöglichkeiten Entwicklungsbelastungen der Kinder im kognitiven, gesundheitlichen, emotionalen und sozialen Bereich Vortragende: Prof. Dr. Sabine Walper Datum: 18.10.2018 23
(6) Außerfamiliale Angebote können wesentliche kompensatorische Funktionen übernehmen. Insofern sind Kita und Schule, aber auch Vereine wichtige Kooperationspartner in der Bekämpfung von armutsbedingten Nachteilen der Kinder. Unterstützungsangebote für Eltern können diese in der Elternrolle stärken, erreichen aber Familien in Armutslagen weniger gut. An dieser Stelle darf sich die soziale Schere nicht noch stärker öffnen. Keine Armut Armut in % 100 80 60 40 20 0 67,1 *** 89,6 *** *** *** 74,5 59,7 34,5 Geburtsvorbereitungskurs Hebammenhilfe Eltern-Kind-Gruppen Familien- oder Stadtteilzentrum 29,9 14,7 10,1 Vortragende: Prof. Dr. Sabine Walper Datum: 18.10.2018 24
(6) Außerfamiliale Angebote können wesentliche kompensatorische Funktionen übernehmen. Insofern sind Kita und Schule, aber auch Vereine wichtige Kooperationspartner in der Bekämpfung von armutsbedingten Nachteilen der Kinder. An dieser Stelle darf sich die soziale Schere nicht noch stärker öffnen. Ohne eine gute Allianz zwischen Elternhaus und Kita oder Schule laufen Anstrengungen der Institutionen oft ins Leere. Vortragende: Prof. Dr. Sabine Walper Datum: 18.10.2018 25
Welche Maßnahmen sind wichtig zur Bekämpfung von Kinderarmut? Die Hitliste Erwachsene Kinder und Jugendliche (10 18 J.) wichtig und sehr wichtig Kostenlose Lehrmittel und Bücher für die Schule 97 % Mehr Fachkräfte und Sozialarbeiter in Schulen und Kitas, die sich um benachteiligte Kinder kümmern wichtig und sehr wichtig Kostenlose Lehrmittel und Bücher für die Schule 94 % Mehr Fachkräfte und Sozialarbeiter in Schulen und Kitas, die sich 93% um benachteiligte Kinder kümmern Kostenlose Ganztagsbetreuung in Schulen und Kitas 87% Kostenloser Zugang zu Kultur und Freizeiteinrichtungen 87% 93% Kostenloses Frühstück und Mittagessen in Kita und Schule 92% Anhebung der Hartz IV Regelsätze für Kinder 92% Quelle: Kinderreport 2018; Deutsches Kinderhilfswerk Vortragende: Prof. Dr. Sabine Walper Datum: 18.10.2018 26
Fazit: Belastungen und Bedarfe Armut in der frühen Kindheit hat dauerhaft nachteiligen Einfluss auf die Entwicklung von Kindern, gerade auch im gesundheitlichen Bereich. Ausschlaggebend ist die Kumulation von Risikolagen in prekären sozioökonomischen Lebenslagen komplexe Leistungen erforderlich Neben Fehl- und Mangelernährung sowie ungünstigem Gesundheitsverhalten ist auch die Belastung der Familienbeziehungen ein wesentlicher Transmissionsriemen für armutsbedingte Belastungen der kindlichen Gesundheit. Insofern muss die Prävention von armutsbedingten Belastungen der Kinder auch an einer Stabilisierung der Eltern und deren Stärkung in der Elternrolle ansetzen. Der erfolgreiche Zugang zu Familien in prekären sozioökonomischen Lage, die vertrauensvolle Kooperation mit ihnen und die Verfügbarkeit wirksamer Angebote liegen in öffentlicher Verantwortung. Frühe Hilfen sind ein zentrales Mittel, auch sozial benachteiligte Familien besser zu erreichen und zu unterstützen. Vortragende: Prof. Dr. Sabine Walper Datum: 18.10.2018 27
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit walper@dji.de Vortragende: Prof. Dr. Sabine Walper Datum: 18.10.2018 28